Erst als sich der Sterbetag des Vaters zum neunten mal jährte, wurden die Artamonows mit dem Bau der Kirche fertig und weihten sie auf den Namen des Propheten Elias. Es wurde sieben Jahre daran gebaut, und an dieser Verzögerung war Alexej schuld.
»Gott wird warten, er hat keine Eile«, scherzte er häßlich und verwandte zweimal die für die Kirche bestimmten Ziegelsteine für andere Zwecke, einmal für das dritte Fabrikgebäude, ein anderes Mal für das Krankenhaus.
Nach der Weihe, als die Totenmesse an den Gräbern des Vaters und der Kinder vorüber war, warteten die Artamonows so lange, bis alle Leute den Kirchhof verlassen hatten, und gingen dann langsam nach Hause; sie taten in zartfühlender Weise so, als bemerkten sie nicht, daß Uljana Bajmakowa auf der Bank unter den Birken innerhalb der Einfriedigung der Familiengruft zurückblieb. Sie hatten keine Eile, - das feierliche Mahl für die Geistlichkeit, ihre Bekannten, Angestellten und Arbeiter war erst für drei Uhr angesetzt.
Es war ein grauer Tag, der Himmel war herbstlich düster: ein feuchter Wind schnaubte wie ein müdes Pferd, schüttelte die Wipfel des Fichtengehölzes und prophezeite Regen. Auf dem fuchsroten Streifen der sandigen Straße bewegten sich die kleinen, dunklen Gestalten der Menschen, die zur Fabrik hinabstiegen; die drei radial angelegten Gebäude bohrten sich wie krampfhaft ausgestreckte, rote Finger in die Erde.
Alexej sagte, seinen Stock schwingend:
»Unser seliger Vater würde sich freuen, wenn er sehen könnte, wie weit wir sind!«
»Er würde sich über die Ermordung des Zaren ärgern«, erwiderte Pjotr nach einiger Überlegung, da er dem Bruder nicht zustimmen wollte.
»Nun, er war nicht sehr dafür, sich zu ärgern. Er lebte nach seinem eigenen Verstand und nicht nach dem des Zaren.«
Alexej zog seine Mütze tiefer herab und blieb stehen, um nach den Frauen zu sehen. Seine kleine, schlanke Frau schritt in einem einfachen, dunklen Kleide leicht über den aufgewühlten Sand und putzte sich mit einem Taschentuch die Brille. Sie sah aus wie eine Dorfschullehrerin, neben der üppigen Natalia, die einen schwarzen Seidenumhang mit Perlenstickerei auf Schultern und Ärmeln trug; ein dunkellila Kopfputz umrahmte anmutig ihr reiches, rötliches Haar.
»Deine Frau wird immer schöner.«
Pjotr schwieg darauf.
»Und Nikita ist wieder nicht zur Totenfeier gekommen. Ist er uns vielleicht böse?«
An feuchten Tagen hatte Alexej in der Brust und in einem Bein Schmerzen; er hinkte leicht und stützte sich auf den Stock. Alexej wollte sich über den wehmütigen Eindruck der Totenmesse und des trüben Tages hinwegsetzen und bemühte sich in seinem Eigensinn, den Bruder zum Sprechen zu bringen.
»Die Schwiegermutter ist zurückgeblieben, um am Grabe zu weinen. Sie hat noch immer nicht vergessen. Eine gute Alte! Ich habe Tichon zugeflüstert, er soll auf sie warten und sie begleiten; sie klagt über Atemnot und sagt, das Gehen fiele ihr schwer.«
Pjotr wiederholte halblaut und gezwungen:
»Ja, es fällt schwer.«
»Schläfst du? Was fällt schwer?«
»Wir müssen Tichon entlassen«, antwortete Pjotr und blickte seitlich auf die Hügel, auf denen sich die Tannen böse wie Borsten sträubten.
»Weswegen?« fragte der Bruder erstaunt. »Er ist ein ehrlicher, pünktlicher Mensch, auch ist er nicht faul . «
»Er ist ein Dummkopf«, fuhr Pjotr fort.
Die Frauen holten sie ein; Olga sagte mit angenehmer, für ihre kleine Gestalt unerwartet kräftiger Stimme zu ihrem Manne:
»Ich rede Natalia zu, sie soll Ilja ins Gymnasium schicken. Sie fürchtet sich aber.«
Die schwangere Natalia watschelte wie eine satte Ente. Sie sagte langsam und näselnd, im Tone einer älteren Frau:
»Ich finde, das Gymnasium ist eine schädliche Mode. Jelena gebraucht zum Beispiel in ihren Briefen solche Worte, daß man sie gar nicht verstehen kann.«
»Alle müssen lernen, alle!« erklärte Alexej streng, nahm die Mütze ab und wischte sich die schweißige Stirn und die vorzeitige Glatze, die von den Schläfen im scharfen Winkel zum Scheitel hinaufstieg und sein Gesicht beträchtlich verlängerte.
Natalia stritt mit ihm und blickte dabei ihren Mann fragend an:
»Pomialow meint mit Recht: das Lernen macht menschenscheu.«
»Ja«, sagte Pjotr.
»Da seht ihr ja!« rief Natalia befriedigt aus. Ihr Mann fügte aber nachdenklich hinzu:
»Man muß lernen.«
Alexej und Olga lachten; Natalia sagte vorwurfsvoll:
»Was fällt euch ein? Habt ihr vergessen? Ihr kommt von einer Totenmesse.«
Sie faßten sie unter die Arme und beschleunigten ihre Schritte, während Pjotr zurückblieb:
»Ich will auf die Mutter warten.«
Der ihm so unangenehme Tichon Wialow hatte ihn geärgert. Vor der Totenmesse hatte Pjotr vom Kirchhof aus von weitem die Fabrik betrachtet und, ohne zu prahlen, einfach nur, um das, was er sah, festzustellen, laut zu sich selbst gesagt:
»Unser Werk hat sich gut entwickelt.«
Und sogleich hörte er hinter der Schulter die ruhige Stimme des ehemaligen Erdarbeiters:
»Das Werk ist wie der Schimmel im Keller, - es wächst aus eigener Kraft.«
Pjotr erwiderte ihm nichts und wandte sich nicht einmal um. Er war aber durch die offensichtliche, kränkende Dummheit von Tichons Worten empört. Er selbst arbeitet, läßt Hunderte von Menschen ihr Brot verdienen, denkt bei Tag und bei Nacht an das Werk, sieht und fühlt sich selbst nicht vor all den Sorgen, die es ihm bereitet, - und plötzlich sagt so ein unwissender Dummkopf, das Werk verdanke seine Entwicklung der eigenen Kraft und nicht dem Verstand des Besitzers. Und dabei murmelt dieser nichtige Mensch immer etwas von der Seele und von der Sünde . Artamonow setzte sich für eine Weile auf einen alten Fichtenstumpf an der Straße hin, zupfte sich am Ohr und erinnerte sich daran, wie er einmal vor Olga geklagt hatte:
»Man hat keine Zeit, um an die Seele zu denken.«
Er hatte die seltsame Frage als Antwort erhalten:
»Lebt denn deine Seele von dir getrennt?«
Er glaubte in diesen Worten einen weiblichen Scherz zu hören, doch blieb Olgas Vogelgesicht ernsthaft und ihre dunklen Augen leuchteten freundlich hinter den Brillengläsern.
»Ich verstehe nicht«, sprach er.
»Und ich verstehe nicht, wie man von der Seele als von etwas vom Menschen Getrenntem sprechen kann, als wäre sie eine an Kindes Statt angenommene Waise.«
»Das ist mir unklar«, hatte Pjotr erwidert - und mochte nicht weiter mit dieser Frau sprechen: sie war ihm sehr fremd und wenig verständlich und gefiel ihm trotzdem durch ihre Schlichtheit, aber sie rief die Befürchtung hervor, daß unter der äußerlichen Schlichtheit Schlauheit verborgen sein könnte.
Tichon Wialow hatte ihm seit jeher mißfallen.
Es war Pjotr widerwärtig, immer dieses breitknochige, fleckige Gesicht, die seltsamen Augen und die am Schädel festklebenden, in dem rötlichen Haar versteckten Ohren sehen zu müssen, wie auch den spärlich wachsenden Bart, Tichons langsamen, aber beweglichen Gang und seinen ganzen plumpen, stämmigen Körper. Seine Ruhe war unangenehm und doch beneidenswert; selbst seine Genauigkeit bei der Arbeit reizte ihn. Tichon arbeitete wie eine Maschine und gab fast nie zu einem Vorwurf Anlaß, doch auch das ärgerte Pjotr. Und es wurde ihm immer unangenehmer zu sehen, wie dieser Mensch mit jedem Jahre tiefer Wurzel im Hause faßte und sich offenbar als unentbehrliche Speiche im Lebensrad der Artamonows fühlte. Es war seltsam, daß die Kinder ihn ebenso liebten wie die Hunde und Pferde. Der alte Wolfshund Tulun, der an der Kette lag und dadurch erbittert war, ließ außer Tichon niemanden an sich heran, und der eigenartige Ilja, der älteste Sohn, gehorchte Tichon mehr als dem Vater und der Mutter.
Um Wialow aus seinem Gesichtskreis zu entfernen, bot Artamonow ihm die Stelle eines Küsters oder eines Försters an. Aber Tichon schüttelte abweisend den schweren Kopf.
»Ich tauge nicht dazu. Wenn du mich aber satt hast, dann erhol' dich für eine Weile von mir und laß mich für einen Monat fort. Ich möchte Nikita Iljitsch besuchen . «
Er sagte wörtlich: »erhole dich von mir«. Dieser dumme, freche Ausdruck in Verbindung mit der Erwähnung des irgendwo hinter den Sümpfen in einem armen Waldkloster verborgenen Bruders erweckte in Pjotr einen bangen Verdacht: außer den Dingen, die Tichon von Nikita erzählte, als er diesen aus der Schlinge gezogen hatte, mußte er wohl noch irgend etwas Schmachvolles wissen; es war, als erwarte er neues Unglück, - seine flimmernden Augen mahnten:
»Rühr' mich nicht an, du brauchst mich doch.«
Schon dreimal hatte Tichon das Kloster besucht. Er hängte sich einen Ranzen auf den Rücken, nahm den Stock zur Hand und ging bedächtig fort; er schritt so über die Erde, als erweise er ihr eine Gnade, und alles, was er tat, geschah gewissermaßen aus Gnade. Bei seiner Rückkehr beantwortete er die Fragen nach Nikita knapp und dunkel; man hatte stets das Gefühl, daß er nicht alles sagte, was er wußte.
»Er ist gesund. Man achtet ihn. Er läßt für die Grüße und die Geschenke danken.«
»Was sagt er?« forschte Pjotr.
»Was soll denn ein Mönch sagen?«
»Was sagt er denn?« fragte Alexej ungeduldig.
»Er spricht von Gott. Er interessiert sich fürs Wetter und meint, daß es nicht zur rechten Zeit regnet. Er klagt über die Mücken. Dort gibt es soviel Mücken. Er fragte nach euch.«
»Was denn?«
»Er sorgt sich und bemitleidet euch.«
»Uns? Weswegen?«
»Im allgemeinen. Ihr lebt ja in so raschem Lauf, er ist...