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Als noch alles gut war. Oder: Das letzte Foto von Kurt und Seka. Die beiden neben ihrem Boot. Lumbarda, Kroatien, August 2008
Ich kann mich noch immer ganz genau an den Tag erinnern als Kurt und Seka auf die dumme Idee kamen nach Syrien zu reisen. Ich wusste sofort, sie kommen nie wieder zurück. Allein: Sie haben mir davon nie etwas erzählt, ich wusste weder wo sie waren noch was sie vorhaben, ich war in Berlin, sie in Somalia, monatelang davor haben wir uns auch nicht gesehen, in der Zeit haben wir nicht einmal telefoniert, wie hätte ich es also wissen können; an dem Tag habe ich nicht mal an sie gedacht. Ich wollte nur Brötchen holen.
Es war ein schöner Herbsttag, voller Licht, mild, klar, die Straße war voller Menschen, an solchen Tagen muss man eben raus, alles war gut. Noch. Aber dann hörte ich zufällig im Vorbeigehen, jemand lachte auf, eine unbekannte Frau, doch nicht leise, nicht nur für sich, sondern so wie es Seka immer tat, so laut, so herzlich, so ansteckend, aus dem Bauch, aus der Seele, und alle lachten dann auch mit, die ganze Straße, nur ich nicht, ich wusste sofort, etwas ist geschehen, ich werde meine Schwester Seka nie wiedersehen.
Natürlich, dass ich mir zunächst nicht glauben wollte, das sei nur mein schlechtes Gewissen, oder Ängste, oder Gefühle, Befürchtungen, alles, nur eben kein Wissen, so was kann man gar nicht wissen, doch es kam, wie es kam, ich habe mich nicht geirrt. Was ich aber damals nicht wusste und nicht wissen konnte, ist, dass mich die Geschichte von Kurt und Seka auch so viele Jahre danach verfolgen würde.
»Es gibt Geschichten, die einem keine Ruhe geben wollen«, hatte Kurt gesagt, als er das erste Mal nach Sarajevo kam, »Geschichten, die einen immer verfolgen, die immer wieder kommen, egal was man macht.« Damals habe ich ihm nicht geglaubt, jetzt kann ich das nur bestätigen. Aber auch jetzt weiß ich nicht, warum es so ist.
Alles hatte wieder mal mit einem Streit zwischen mir und Seka begonnen. Der lag Monate zurück. Ich hatte mich wahnsinnig über sie geärgert, wie immer nicht grundlos, aber ich war zu laut, fast gehässig, hatte ihr auch das gesagt, was ich gar nicht so meinte, sie war beleidigt, wollte nicht mehr mit mir reden, ich hörte ewig nichts von ihr, und als ich schon dachte, das wird nie wieder was, erhielt ich im Sommer 2008 ein kleines Foto. Kein richtiges Foto, nur ein Selfie, das sie wohl mit ihrem Handy aufgenommen hatte: Kurt und Seka stehen neben der »Jadranka«, und lachen. »Jadranka« so hieß ihr Boot, eine alte löchrige Nussschale, kein richtiges Boot, nur eine Kulisse für ihre Filme; man hätte sich damit gar nicht aufs Wasser wagen dürfen. Aber sie stehen da und lachen wie zwei waghalsige Piraten. Habe ich mich gefreut! Ein klares Zeichen, dass meine Strafe vergeben und Seka nicht mehr beleidigt war, oder fast nicht mehr, denn es gab keinen Text zu diesem Foto. Einfach zwei lachende Köpfe und die »Jadranka« im Hintergrund. Wie schön, dachte ich. Drei Monate später, im Dezember 2008, ein Anruf aus Stuttgart. Kurt und Seka sind zurück, wieder im Lande, dachte ich, wer denn sonst sollte mich aus Stuttgart anrufen? Doch es war eine Immobilienfirma: Sollten die Mietrückstände für die Wohnung in der Heusteigstraße nicht innerhalb der nächsten 7 Tage beglichen sein, würde man die Sachen von Kurt und Seka versteigern und den Rest auf die Straße werfen, sowie weitere rechtliche Schritte unternehmen.
Was das mit mir in Berlin zu tun hätte, wollte ich wissen. Die Antwort hatte es in sich: Immer wieder habe man versucht, die beiden zu erreichen, vergeblich, sie hätten sich bis heute nicht zurückgemeldet, auf Mahnungen nicht reagiert; jetzt sei Schluss, alles müsse sofort bezahlt werden. Das solle ich bitte Kurt und Seka ausrichten, sonst würde alles versteigert, um die Mietrückstände und Versäumniszinsen für 3 Monate zu kompensieren. Ein neues Schloss sei bereits angebracht.
Ich rief sie dann tatsächlich an, einmal, zweimal, immer wieder, nichts, Kurt und Seka waren nicht zu erreichen. Im Zug nach Stuttgart hoffte ich noch, dass sich in ihren Sachen vielleicht ein Hinweis finden ließe. Doch die Immobilienverwaltung blieb hart: Nichts dürfe ich anrühren, schon gar nicht die Kiste mit den Papieren und den Fotos, auch nicht die Straßenkarten aus der jugoslawischen Zeit, bevor nicht alles bezahlt wäre. Also habe ich bezahlt. Doch damit war die Geschichte nicht vorbei, auch später nicht, jahrelang nicht, sie kam immer wieder, ließ sich nicht abschütteln, und so bin ich heute Abend hier.
Ein Partisan mit einer Mundharmonika. Oder: Seka, Kurt, Sarajevo, Anfang April 1991
Damals lag meine Schwester im Kosevo Krankenhaus. Hoffnungslos, hatten die Ärzte gesagt, kein Medikament könne noch etwas bei ihr bewirken, nur palliativ, vielleicht, aber keine ernsthafte Chance mehr, aus, Ende.
Seka war mit einer unheilbaren Blutkrankheit zur Welt gekommen, doch anstatt irgendeinen sinnvollen Beruf zu wählen, hatte sie angefangen, zu schreiben. Zu allem Unglück war sie unheimlich begabt. Wie sie mit Wörtern jonglieren konnte, wirklich jonglieren, da konnte ihr kein Artist, kein Feuerschlucker auch nur das Wasser reichen. Genau das aber war ihr Problem. Sie nahm ihr Schreiben zu ernst. Für sie stand das Wort wahrlich am Anfang und am Ende, und das ausgerechnet in Bosnien, wo jeder Straßenverkäufer besser lebt als ein Dichter. Wenn sie sah, wie wenig sie mit ihrem Wort ausrichten konnte, wollte sie nur noch sterben, wirklich sterben, war wochenlang mehr tot als lebendig. Nach jeder Veröffentlichung hatte ich richtig Angst um sie.
Eine Zeit lang ließ sie das Schreiben sogar sein, begann, als Dolmetscherin zu arbeiten, denn Sprachen lernte sie wie im Flug. Doch nicht zu schreiben war noch schlimmer als zu schreiben. Am Ende wog sie gerade noch 40 Kilo, konnte kaum mehr gehen, die Ärzte wussten sich keinen Rat und verlegten sie in ein Krankenzimmer ganz nah am Krematorium. Das war im März 1991. Zwei oder drei Wochen später wollte ich sie besuchen mit einem riesengroßen Blumenstrauß. Eine nette Geste kurz vorm Ende kann nicht verkehrt sein, dachte ich. Doch als ich ins Krankenhaus kam, staunte ich nicht schlecht: Meiner Schwester ging es unglaublich gut, sie lag gar nicht im Bett, sondern saß in einer Ecke an einem Tischchen. Ich sah nur ihr struppiges Strohhaar. Sie schrieb. Du schreibst wieder?
»Wenn ich schon sterben muss, mache ich daraus wenigstens eine schöne Geschichte. Oder zwei. Oder drei. Oder tausend und drei, wie eine Scheherezade. So schnell wirst du mich nicht los«, lachte sie. Ein Witz à la Seka. Ich wusste nicht recht, ob ich mich freuen durfte. Ich wusste doch, wie das immer bei ihr endete. Zuerst alles gut und dann nur noch sterben.
Diesmal nicht, sagte sie überzeugt. Sie hätte jetzt eine Liebesgeschichte in den Fingern, zwischen einem jugoslawischen Partisanen und einer deutschen Frau, wunderschön. Und vor allem - wahr. Sie hätte einen Filmemacher aus Deutschland kennengelernt, und gemeinsam wollten sie einen Dokumentarfilm darüber drehen. Allerdings müssten sie ihn erst finden, diesen Partisanen, von dem sie nicht mal den Namen kannten. Aber eine schöne Geschichte. Na, da könnt ihr lange suchen, meinte ich, doch Seka winkte lächelnd ab, ich sei ein alter Schwarzseher, sie würde mir schon zeigen, dass alles möglich ist wenn man es nur richtig will. Ihre großen grauen Augen wirkten noch größer als sonst, und überhaupt, meine ganze kleine, kranke Schwester war auf einmal groß. »Bist du verliebt?«, fragte ich. Seka schwieg, schrieb weiter, auch eine Antwort. »Wie heißt er?« »Kurt«, sagte Seka.
»So unmöglich ist das gar nicht, wir wissen zwar nicht, wie der Partisan heißt, aber wir wissen, dass er aus Sarajevo stammt und dass er eine Mundharmonika besaß.«
- »Was?«
»Eine Mundharmonika, und er trug einen blauen Anzug.«
- »Meinst du das ernst?!«
»Ja, ja, das ist doch eine Menge, oder? Was sagst du jetzt?«
Was sollte ich dazu sagen? Eine Woche lang durchforsteten Seka und ihr Kurt ein Archiv nach dem anderen, dann reiste Kurt ab. Vom Partisanen keine Spur. Wie auch? Doch Seka war Seka, die schnöde Realität konnte ihr einfach nichts anhaben. Ich solle nur den Mai abwarten, bis Kurt wieder nach Sarajevo käme, bis auch ihre neue Geschichte fertig wäre.Im Mai war Kurt tatsächlich da, er war begeistert von Sekas Geschichte, kein Wunder, das war ihr Thema, die Liebe und die Grenzen und die Menschen, die diese Grenzen nicht beachten, alles war gut, sie begannen wieder zu suchen, und sie fanden wieder nichts, kein Partisan, also reiste Kurt wieder ab.
Ende Juni war der Krieg schon da, vielleicht war er auch nie weg gewesen. Alle machten sich Gedanken darüber, nur meine Schwester dachte an nichts anders, als an ihre schöne Geschichte. Sie hat...
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