Schweitzer Fachinformationen
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Noch weiß ich es nicht, aber an demselben Wochenende, an dem Anita Palomba mir, ihrer amerikanischen Tochter, zum ersten Mal begegnet, wird sie den Mann ihres Lebens verlieren. Vielleicht soll diese Frau, die zu viel vom Leben verlangt, damit bestraft werden, vielleicht geht es aber auch nur darum, das natürliche Gleichgewicht der Erde wiederherzustellen, dem zufolge zu einem bestimmten Zeitpunkt stets eine gleiche Anzahl männlicher und weiblicher Wesen, Regen und Dürre, Tag und Nacht existieren.
Sie hätte auch eine andere zur Tochter haben können, zum Beispiel Brenda aus Kalifornien, die zusammen mit uns und all unserem Gepäck aus dem Waggon der Circumvesuviana steigt und sich wie verzaubert umschaut, obwohl der Ort, an dem wir uns nun befinden, nicht länger das märchenhaft fiktive Postkartenitalien ist, sondern der Realität aus den Fernsehnachrichten entspricht. Die Wimperntusche betont das unvoreingenommene Staunen in ihrem Blick und das hoffnungsfrohe Grün der Regenbogenhaut. Ich habe nicht den Mut, mir die Wimpern zu tuschen und so offenkundig zu zeigen, zu welcher Hälfte der Menschheit ich gehöre. Aber Brenda ist ein positiver Mensch. Hochgewachsen und aufrecht wie die Neubauten, die sich mit ihren der Hitze trotzenden, offen stehenden Balkontüren ringsherum drängen, um uns zu beobachten.
Anita hätte auch eine schwedische Tochter, nämlich Sif, haben können, aus deren ungeschminkten Augen dieselbe wachsende Unruhe spricht, die auch ich verspüre. Oder einen Sohn wie Huang oder Jesús, deren Namen sofort nach der Landung am Flughafen Fiumicino ihre Anfangsbuchstaben eingebüßt haben. »Bia Nossera«, liest Jesús vor, während er die Taschen unter dem Halteschild Via Nocera abstellt und, da noch keine Einheimischen oder Erwachsenen in der Nähe sind, fortfährt, sich in seinem merkwürdigen Italienisch auszulassen.
Aber Anita hat mich bekommen. Sie muss mich an dem Foto auf dem Formular erkannt haben, denn schon kommt sie mit strahlendem Lächeln auf mich zu, als berge sie in ihrer Brust ein Geheimnis, das sie mir unbedingt anvertrauen müsse.
Sie sieht aus, als käme sie gerade vom Strand. Atemlos und braun gebrannt, mit einem klimpernden Schlüsselbund in der Hand und einer bis zum Brustansatz aufgeknöpften Bluse. Ihr geblümter Rock flattert auf, als der Zug abfährt, und zwei zart gebräunte Beine, so glatt wie ihr Gesicht, eilen mir entgegen. Ich sehe keine Augenbrauen, vielleicht ist sie von Natur aus blond. Oder auch nicht.
Ohne ein Wort der Begrüßung schließt sie mich in die Arme. Ich spüre das Piksen ihres Goldkettchens, mein Gesicht verschwindet in ihrem dichten, verstrubbelten Haar, wodurch mir der Anblick der ersten, unbeholfenen Begegnungen der anderen Jugendlichen mit den ihnen bescherten Gasteltern erspart bleibt. Das Schicksal hat mich im Griff. Anitas fester, nach Fendi und Pfefferminzkaugummi duftender Körper wird von einem leichten Zittern erfasst, das sich wie ein elektrischer Strom auf mich überträgt. Sie lacht. Ein raues, aber gleichzeitig kindliches Lachen, wie wenn man einen neuen Witz erzählt bekommt und auch etliche Minuten nach dem eigentlichen Clou noch immer nicht die übertriebene und maßlose Heiterkeit verbergen kann. Wie kommt es, dass ich in einer Frau, die ich nie zuvor gesehen habe, ein derart unverfälschtes, derart schönes Lachen entfache?
Sie gibt mich frei. »Mein Gott, endlich bist du hier! Ich heiße Anita, aber nenn mich ruhig Mamma Anita. Du bist bestimmt hungrig nach der Reise. Hast du Hunger? Wir fahren sofort nach Hause, dann kann ich dir etwas zu essen machen. Und dann ruhst du dich ein bisschen aus. Du bist sicher müde, oder?«
Ich bejahe, das erscheint mir die beste Antwort.
Hinter ihrem Rücken sehe ich den verantwortlichen Ortsassistenten auf uns zueilen, der uns, als offizieller Vertreter des Westberliner Vereins, pflichtschuldig in Empfang nimmt. Mit übertriebener Geste reicht er uns die Hand und geleitet uns in teutonischer Manier über den Bahnübergang und mitten hinein in den Verkehr der Ortschaft. Mein Rollkoffer stolpert durch die Schlaglöcher, lautes Hupen betäubt meine Ohren, und schon nach wenigen Augenblicken habe ich die andern aus dem Blick verloren.
Anita hat in zweiter Reihe geparkt, das erklärt ihre Eile. So mühelos, wie sie meinen Koffer in den Kofferraum bugsiert, würde man nicht glauben, dass er vollgestopft ist mit englischsprachigen Romanen, Skizzenblöcken und dicker Winterkleidung. »Ziegelsteine kannst du übrigens auch in Castellammare kaufen«, sagt sie zu mir.
Vielleicht sollte ich lachen. Doch sie selbst lacht auch nicht mehr, als sie nun den ersten Gang einlegt, als würde sie einem alten Pferd einen Tritt versetzen. Sie ist voll und ganz konzentriert. Fährt wie ein New Yorker Taxifahrer, weicht nach rechts und nach links aus, drückt grundlos, aber ohne Aggression auf die Hupe, während sie falsch herum in eine Einbahnstraße biegt.
»So umgehen wir das Schlimmste«, erklärt sie, aber mir kommt es nicht so vor, als würden wir irgendetwas umgehen.
Es muss die Zeit sein, um die am Nachmittag die Geschäfte wieder öffnen. Überall schleppen Leute ihre Einkäufe in Plastiktüten durch die Gegend, rauchen und reden in voller Lautstärke. Im Vorbeifahren streifen wir sie mit den Seitenspiegeln, während Rauchschwaden und unverständliche Dialektfetzen ins Fahrzeuginnere dringen. Jemand grüßt Anita mit einer Herzlichkeit, die bei meinem Anblick neben ihr sofort in verhaltene Neugierde umschlägt. Eilig werden alle möglichen Neuigkeiten und Wünsche ausgetauscht, mit lauter Stimme, um den Lärm der Stadt zu übertönen. Dann kommt der Verkehr wieder ins Rollen, und die Schnalle des Sicherheitsgurtes beginnt erneut, gegen die Tür zu schlagen.
Ich überlege, ob ich mich anschnallen soll, aber das könnte als Misstrauen in ihre Fähigkeiten gedeutet werden. Anita ist eine Formel-1-Pilotin. Sie hat den Rock hochgezogen und ihre schönen, festen Schenkel entblößt, die nicht zu einer Frau ihres Alters zu passen scheinen. Jedes Mal, wenn sie auf die Bremse oder die Kupplung tritt, zeichnen sich die Muskeln ab. Sie steuert auf die Gegenfahrbahn, um einem in zweiter Reihe parkenden Wagen auszuweichen, und flucht auf den Fahrer, der es gewagt hat, genau das zu tun, was sie ein paar Minuten zuvor selbst getan hat. Doch dann erkennt sie ihn.
»He, Gaetano!«, ruft sie und fängt an zu lachen. »Deinen Führerschein hast du wohl im Lotto gewonnen, was?«
»Ah, die schöne Signora Anita! Wann kommst du endlich mal auf einen Kaffee vorbei?«
Als wir weiterfahren, frage ich: »Kennst du denn jeden hier?«
»Du kannst ja sprechen!«, erwidert sie fröhlich, bevor sie, fast ein wenig vorwurfsvoll, hinzufügt: »Und nun, meine Tochter, wird es Zeit, dass du den neapolitanischen Dialekt lernst.« Um nicht im Verkehr stecken zu bleiben, fahren wir ein Stück auf dem Gehweg und rammen dabei um ein Haar ein Blumenbeet aus Beton. »Ja, ich kenne viele Leute hier, denn ich arbeite nun schon fast zwanzig Jahre bei der Gewerkschaft, seit meiner Scheidung. Aber ursprünglich stamme ich gar nicht aus Castellammare.«
»Nein?«
»Ich komme aus Gragnano. Das hört man, sobald ich den Mund aufmache.« Dann fügt sie mit zur Schau gestelltem Stolz hinzu: »Ich habe einen ziemlich starken Akzent!«
»Ist das weit weg von hier?«
»Gragnano? Aber nein, nur ein Stück weiter rauf ins Hinterland. Es ist die Hauptstadt der Pastasciutta. Hast du etwa noch nie davon gehört?« Ich befürchte einen weiteren Vorwurf, stattdessen sagt sie: »Macht nichts, wir fahren zusammen hin. Du musst unbedingt meine Geschwister kennenlernen.«
»Wie viele hast du denn?«
»Insgesamt sind wir neun.«
Plötzlich fühle ich mich erschöpft, meine Glieder sind ermattet von der Schwüle, die ungehindert durch das Wagenfenster dringt, und mein Gehirn ist wie gelähmt von all den Menschen, Wörtern und Orten, die ich noch kennenlernen muss. Ich starre auf die zahllosen modernen Gebäude, die an uns vorüberziehen. Bei all dem Smog habe ich keine Hoffnung, auch nur die Spur einer Altstadt, einer Piazza oder des Meeres zu erhaschen.
Ich denke zurück an Colle di Tora, unweit von Rom, wo wir bis zu diesem Morgen vier Wochen zu Gast waren, um unsere Sprachkenntnisse zu vertiefen. In meinem Kopf sind diese Bilder bereits ferne Erinnerungen, und geradezu schmerzlich beschwöre ich sie wieder herauf. Die orangerote Linie der auf einer schmalen Landzunge balancierenden Dächer und den See, der diese wie ein heller, leicht geöffneter Mund umschließt. Eines dieser Dächer gehörte zu unserem Haus. Die einzigen Zeichen, dass es sich um Eigentum der Kirche handelte, waren die knarzenden schmalen Betten und ein Kruzifix über der Küchentür. Um sich für die Gastfreundschaft erkenntlich zu zeigen, genügte es, das Gestrüpp zwischen den Steinen am Strand auszureißen und hier und da eine Coca-Cola-Dose aufzulesen, die irgendwelche Ausflügler zurückgelassen hatten.
In Colle di Tora war alles neu und schön für mich. Die Wäsche wuschen wir in einem Bottich und hängten sie im Garten auf, barfuß auf piksendem Gras. Wir pflückten Pflaumen von den Zweigen, bissen in das sonnenwarme Fruchtfleisch. Direkt vom Baum zu essen, war keine selbstverständliche Erfahrung, nicht einmal für Jesús, der aus Kolumbien stammt, aber aus einer großen Metropole, und erst recht nicht für uns Amerikanerinnen, die wir nur riesige Supermärkte kannten, oder für Nordländerinnen wie Sif oder für Ingùn, die riesige Isländerin, denn welche Früchte wachsen schon in solchen Breiten?
Wir füllten unsere Taschen mit diesen warmen Pflaumen, bevor wir in die...
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