Schweitzer Fachinformationen
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Merkwürdiges Wetter.
Heiß und kalt zugleich, dachte Eva Harris, während sie die Tür des Zivilfahrzeugs zuknallte und auf ein blau-weißes Absperrband zuging, das in der frischen Morgenbrise flatterte. In den Nachrichten sagten sie dazu Altweibersommer, doch dieser Name wurde dem bizarren Widerspruch aus kaltem Nordwind und schwülem Sonnenschein, der von einem grellblauen Septemberhimmel herabströmte, nicht gerecht.
Kühle Windböen scheuchten trockene Blätter zu Wirbeln auf, die um sie herum flogen wie krallenbewehrte Gespenster. Heiß und kalt zugleich, dachte Eva erneut. Die Worte kamen ihr vor wie eine Metapher für irgendetwas, obgleich sie im Moment nicht erkennen konnte, wofür. Sie zog ihren Mantel fester um sich und schlug den Kragen gegen den Wind hoch, obwohl die noch tief stehende Sonne ihr bereits den Rücken wärmte. Mit raschen Schritten ging sie auf den Polizisten zu, der hinter dem Absperrband wartete und ihr entgegenblickte.
Ihr war klar, dass sie auffiel. Eva, eine recht hochgewachsene Frau mit kurzem blondem Haar und dem Körper einer Tänzerin, betrachtete die Welt mit Argwohn. Sie starrte sie aus hellgrünen Augen an, sah unter gewölbten dunklen Brauen hervor, die ein schmales ovales Gesicht mit hohen, fast schon slawisch anmutenden Wangenknochen in ein Oben und Unten teilten. Ihre Haut war blass und makellos. Ihr Haar war zu stufigen Stacheln geschnitten, kaum einen Zentimeter lang, die die Eleganz ihrer Schädelform unterstrichen. Eva war durchaus imstande, in den Spiegel zu schauen und zu wissen, dass sie umwerfend aussah, doch sie hatte sich selbst davon überzeugt, dass ihr straffer und sehniger Körper die Konsequenz von Sport und Notwendigkeit war, nicht von Affektiertheit. Ihre Hände waren lang und schlank, ihre Fingerknöchel jedoch, besonders die der ersten und zweiten Gelenke, hart und schwielig. Eine Folge des stundenlangen Eindreschens auf Sandsäcke oder Punchingballs. Ihre Miene spiegelte ausnahmslos das Misstrauen wider, mit dem sie dem Leben begegnete. Sie wirkte vorsichtig, berechnend und erfahrener, als es von jemandem in ihrem Alter zu erwarten gewesen wäre. Mein Gott, dachte Eva, als sie an die Absperrung trat, ich sollte gar nicht hier sein.
Doch als sie vor dem Band stehen blieb, blickte der Constable mit ernstem Gesicht auf sie herab und hob es für sie an. Ohne Schuhe war Eva eins achtundsiebzig groß, der drahtige Polizist jedoch maß bestimmt über eins fünfundachtzig. Keine Spur des Gedankens, der ihm mit Sicherheit durch den Kopf ging, zeigte sich auf seinem Gesicht. Sie war gelinde beeindruckt. Nichts an ihm sagte: Die ist aber ganz schön jung für einen DI.
Eva duckte sich unter dem Absperrband hindurch und blieb neben ihm stehen. »Wer beaufsichtigt den Tatort?«
»Sergeant Moresby«, antwortete der Constable. »Er ist gerade auf der anderen Seite vom Haus. Sie können ihn nicht verfehlen.«
Es war das zweite Mal heute Morgen, dass sie diesen Namen hörte. Eva wusste nicht, was er damit meinte, dass sie ihn nicht verfehlen könne, doch sie nickte und machte sich auf den Weg ums Haus herum. Ein kleiner Sieg, dachte sie, einer, den sie im Stillen für sich verbuchte. Wenigstens hatte sie ihn nicht gefragt: Wer ist hier zuständig? Die Antwort des Constable hätte nur lauten können: Sie.
Ich bin zuständig. Insgeheim machte dieser Gedanke ihr eine Heidenangst. Der erste Tag eines frischgebackenen Detective Inspector in einer neuen Dienststelle, und hier war sie an einem Tatort, und zwar an einem analogen Tatort. Dies war nicht etwa ein Cyberverbrechen. Eigentlich hatte Eva damit gerechnet, dass sie ihre erste Stelle als DI in der Stadt antreten würde, wo sie sich mit digitaler Forensik befassen und komplexe Betrugsfälle lösen würde. Dafür war sie ausgebildet, auf diesem Feld brillierte sie.
Ganz schön jung für einen DI. Nun ja, mit siebenundzwanzig mochte das vielleicht stimmen, jedenfalls in allen anderen Bereichen außer dem der Cyberkriminalität, und genau auf diesem Gebiet hätte Eva Harris sich gern hervorgetan. Sie hatte sich als Leiterin eines Teams aus intelligenten und sogar noch jüngeren Analysten gesehen, die alle an Schreibtischen hinter Bildschirmen saßen, alle eine Armlänge von der wirklichen Welt entfernt. Eva, Informatikerin mit einer Leidenschaft für Komplexität und mit einem ebenfalls komplexen persönlichen Hintergrund, war mehr als bereit für digitale Ermittlungen und für das Entwirren der Windungen von Darknets und Dark Webs. Das war ihre Absicht gewesen, die geplante Flugbahn ihrer jungen Karriere, doch jemand anderes hatte andere Pläne mit Eva Harris. Jemand wollte sie hier haben, an diesem spezifischen Ort, und zwar aus komplexen persönlichen Gründen. Sie wusste genau, warum. Es kotzte sie an, doch sie verstand die gnadenlose Logik dahinter und wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich dagegen zu wehren. Ob es ihr nun gefiel oder nicht, sie war hier, jetzt, und sie hatte eine Aufgabe zu erledigen. Friss oder stirb, dachte Eva, während sie den Rücken durchstreckte und sich zwang, das Gefühl der Enttäuschung tief in ihrem Innern zu begraben. Und trotzdem belastete es sie. Sie war noch nicht einmal auf dem Revier gewesen.
Heute Morgen um sechs unter der Dusche hatte sie das Telefon gehört, als das dampfende Wasser sie gerade richtig wach gemacht hatte. Der Officer aus der Zentrale hatte sich entschuldigt. Detective Chief Inspector Sutton werde es erst später schaffen, sagte er; ob es DI Harris etwas ausmachen würde, ihren Dienstwagen abzuholen, bevor sie aufs Revier kam?
Das an sich schien kein großes Problem zu sein, auch wenn Eva die Vorstellung bei ihrem neuen Team hatte hinter sich bringen wollen. Wieder hatte sich das belastende Gefühl, in eine Situation hineingeworfen worden zu sein, über die sie keine Kontrolle hatte. Es überraschte sie nicht, dass Sutton da sein wollte, wenn sie auf dem Revier eintraf, und wenn auch nur, um sie vorzustellen und den Erwartungshorizont zu skizzieren. Eva hatte zugestimmt und war mit einem Taxi zu dem Autohaus in der Portsmouth Road gefahren, von dem die Polizei der Grafschaft Fahrzeuge für Zivilbeamte leaste. Der Wagen schien gut in Schuss zu sein, dunkelblau und noch ziemlich neu. Sie wollte gerade losfahren, als ihr Handy abermals klingelte. Wieder die Zentrale, diesmal jedoch war es dringend. Könnte DI Harris wohl auf kürzestem Weg zu einem gemeldeten Vorfall fahren, bitte? Sergeant Moresby sei bereits vor Ort. Vielleicht ist es ja eine Routinesache, hatte sie gedacht, während sie dem Navi die Adresse diktierte, die ihr der Officer von der Zentrale genannt hatte, doch das kurze Gespräch, das dann folgte, hatte diese Hoffnung rasch zunichtegemacht.
Eva blieb kurz auf dem Rasen des Vorgartens stehen und versuchte, so viel wie möglich in sich aufzunehmen. Das Haus war riesig. Es musste ein Vermögen wert sein, denn es stand in einer exklusiven Villenanlage im Speckgürtel von Surrey, ungefähr dreißig Kilometer vom Stadtzentrum Londons entfernt. Eine rasche Handyrecherche ergab, dass St Jude's Hill über viertausend Quadratkilometer groß war, auf dieser Fläche aber nur vierhundert Häuser standen, alle durch alte Bäume und getrimmte Hecken voneinander abgeschirmt und durch schmale, gewundene Straßen miteinander verbunden. Die Zentrale hatte ihr nicht allzu viele Details genannt, nur dass der Vorfall als Mord klassifiziert wurde. Das hätte Sergeant Moresby gesagt.
Als sie um die Hausecke bog, wurde ihr klar, was der Constable gemeint hatte. Sergeant Will Moresby, wahrscheinlich fünfzehn Jahre älter als sie, stand neben dem Haus wie ein Gorilla. Wie ein Silberrücken, der über sein Revier wachte. Nicht ganz so groß wie der Constable, aber fast doppelt so schwer, mit dichtem schwarzem Haar und dicken Augenbrauen, die ohne den Einsatz eines Rasierers in der Mitte zusammengewachsen wären. Der wiegt bestimmt mindestens zweieinhalb Zentner, dachte Eva und starrte ihn an. Nicht viel davon sah aus wie Fett.
Moresby bemerkte sie sofort und kam herübergestapft. »Guten Morgen«, knurrte er. »Tut mir leid, dass ich Sie gleich am ersten Tag hier rauszerre. Ich würde Sie ja gerne in Surrey willkommen heißen, aber ich fürchte, Surrey zeigt sich heute Morgen nicht gerade von seiner allerbesten Seite.«
Er sah wirklich aus wie ein Gorilla, dachte Eva im Stillen, während sie nach etwas suchte, was sie sagen könnte. Die Uniform spannte über seinen Muskeln. Riesige Hände baumelten am Ende seiner Arme, und beim Gehen beugte er sich ein ganz klein wenig nach vorn. Sie konnte sich vorstellen, wie er seine Wut auf irgendein unseliges Objekt seines Verdrusses herausbrüllte, wahrscheinlich kurz bevor er dem oder der Betreffenden sämtliche Gliedmaßen ausrenkte. Trotzdem, stellte sie fest, als sie den Mut aufbrachte, seinem Blick zu begegnen, seine dunkelbraunen Augen waren nicht unfreundlich. Aus irgendeinem anderen Grund als durch seine schiere Masse machte er augenblicklich Eindruck auf sie. Kein rachsüchtiger Mensch, dachte sie. Was man sieht, ist wahrscheinlich das, was man bekommt.
»Viel habe ich von der Zentrale nicht erfahren«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Ist die Leiche im Haus?«
»Ja«, antwortete er. »Wir können sofort reingehen, wenn Sie möchten, aber die Kollegen von der Spurensicherung haben gesagt, sie hätten gern noch ein bisschen Zeit, um sicher zu sein, dass sie auch alles auf die Reihe bekommen haben.« Er hielt kurz inne. »Wenn's was hilft, könnte ich Ihnen ein bisschen...
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