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Der Philosoph Jürgen Goldstein geht in diesem zärtlichen Porträt seiner lebenslangen Faszination nach, dem jung verstorbenen und doch durch seine Musik unsterblich gewordenen Nick Drake. Er begibt sich auf die Reise durch Zeit und Raum an das Grab und die Wirkungsstätten Drakes und versucht, dessen Genie der Verhaltenheit auf die Spur zu kommen. Dabei weiß er, dass auch er das Wirkliche nicht in den Griff bekommen wird: »Wir werden eine Person nicht ergründen können, sondern haben das Bild von ihr in der Schwebe zu halten. Was sich an Fakten ihres Lebens ermitteln lässt, darf nicht zu Gewichten verkommen, die unsere Imagination auf dem Boden der Tatsachen halten.« So setzt er an, Leidenschaft, Hingabe und Fantum verstehen zu lernen, zu ergründen, warum man sich unerklärlicherweise zu einer Sache, einem Menschen, einer Musik hingezogen fühlt - und sich dem Rätsel des Lebens wie der Musik anzunähern.
In einer noch ferneren Zeit, vor mehr als einem halben Jahrhundert, in den frühen sechziger Jahren, fuhr John Ravenscroft mit dem Auto von New Orleans nach Dallas. John F. Kennedy war Präsident, eine neue Ära brach an, aber das alte Amerika war noch greifbar. Ein Vierteljahrhundert war damals schon vergangen, seit der mythenumrankte Robert Johnson, der King of the Delta Blues Singers, gestorben oder ermordet worden war, wer weiß das schon. Doch der Blues war noch präsent. Im Radio liefen Songs, die so archaisch wie populär waren. John Ravenscroft, der später unter seinem Geschäftsnamen John Peel ein berühmter englischer Radio-DJ werden sollte, hörte verwundert und begeistert, wie der Radiosender KLIF aus Dallas die alten Bluesmusiker im Programm laufen ließ: »Als Beispiel dafür, wie klasse KLIF war«, wendet er sich an die Leser seiner Autobiographie, »kann die Tatsache gelten, dass Lightnin' Hopkins mit >Mojo Hand< Nummer eins der KLIF-Charts war. Falls Ihnen das nichts sagt, ist es Zeit, dass Sie Ihr Leben grundsätzlich überdenken.«
Auch auf der Fahrt von New Orleans nach Dallas, tief in der Nacht, ließ er das Autoradio eingeschaltet. Eigentlich hatte er zusammen mit Freunden aufbrechen wollen, doch als seine Kumpels sich entschieden, noch in New Orleans zu bleiben, fuhr er allein. »Dafür bin ich ihnen ewig dankbar, auch wenn ich damals wenig erfreut war, doch auf der Fahrt zurück erlebte ich einen der großartigsten musikalischen Augenblicke meines Lebens. Ich war bereits eine Weile gefahren, und es muss wohl so zwischen zwei und drei Uhr morgens gewesen sein, als ich in die dicht bewaldete Region von Westtexas kam, die unter dem Namen Piney Woods bekannt ist. Es herrschte kaum Verkehr, und die Straße wand sich in leichtem Auf und Ab zwischen den Bäumen hindurch und an winzigen Dörfern vorbei, die meistens aus kaum mehr als ein paar schmuddeligen Hütten bestanden, während der Mond genau vor mir am Himmel stand und den Asphalt in einen silbernen Glanz tauchte. Ich hörte, so vermute ich zumindest, Wolfman Jack auf XERB, der von jenseits der mexikanischen Grenze sendete, und als ich gerade über einen Hügel kam und vor mir ein weiteres von diesen kleinen Dörfern liegen sah, spielte er Elmore James' >Stranger Blues<. >I'm a stranger here, just drove in your town<, sang Elmore, und ich wusste, dass ich niemals vergessen würde, wie perfekt Ort, Stimmung und Musik in diesem Augenblick zueinanderpassten.«
Die Formel von der Musik als dem >Soundtrack unseres Lebens< erscheint vielleicht abgegriffen, behauptet aber ihre Geltung. Es ist oftmals schwer, sich an die Chronologie des eigenen Lebens im Detail zu erinnern, schrumpfen doch die durchlebten Zeiträume im Rückblick zusammen, und die Daten verblassen aufgrund ihrer erodierenden Bedeutsamkeit. Ein in seiner ganzen Fülle erfahrener Augenblick dagegen vermag über Jahrzehnte hinweg im Gedächtnis lebendig zu bleiben - »written in my soul«, wie Bob Dylan in »Tangled Up In Blue« singt. Es gibt ein Erleben des Flüchtigen, das für uns von größerer Dauer ist als all die Unumstößlichkeiten, die wir als biographische Fakten in einen Lebenslauf schreiben. Eindringlich ausgekostete Erfahrungsmomente sind solche spots of time, Erlebnisspitzen, die in Erinnerung bleiben. Sie erlauben Tiefenbohrungen in unsere empfindsame Persönlichkeit und können noch nach Jahrzehnten ein Gefühl zutage fördern, das vergangenes Leben wachruft: als affektive Leitfossilien unserer selbst. In diesen Schnappschüssen der eigenen Geschichte bleibt das damalige Gestimmtsein aufbewahrt: Ich erinnere den unendlich weit erscheinenden Abendhimmel und die milde Luft des Frühlings über einem Vorort von Paris, als wir die Metropole während einer Klassenfahrt unserer Schule besuchten; ich erinnere die Fahrt früh morgens durch Quito in Ecuador im Taxi, das uns zum Flughafen brachte, dabei kein Mensch auf den Straßen, das Leuchten der Innenarmaturen und den schweigsamen Fahrer.
Musik vermag diese Lebensstimmungen einzufangen. Jeder von uns kennt, was man etwas rüde als Konditionierung bezeichnen könnte: Ohne mein Zutun verbindet sich ein Musikstück unauflösbar mit einer Lebenssituation. Fortan ist es der Auslöser einer Erinnerung an das Erlebte, ob ich das will oder nicht. So lassen die Hits eines vergangenen Jahrzehnts, die jeder kennt, der es durchlebt hat, die damalige Zeit wiederauferstehen, ganz gleich, wie scheußlich sie schon damals waren und noch heute klingen.
Die andere Art, wie Musik unser Leben begleiten kann, ist deutlich schwerer zu fassen: Musik bietet einen Ausdruck für etwas, das wir so in Form zu bringen aus eigener Kraft kaum in der Lage gewesen wären. Wohl niemand von uns hätte die mitreißende und erotische Kraft des Rock'n'Roll entfesseln oder die Entspanntheit des Reggae erfinden können. Beide sind uns aber bis in die leibliche Resonanz hinein so vertraut, als wäre nur etwas offenbar gemacht worden, das schon in uns geschlummert hat. In Zeilen wie »You don't need a weatherman / To know which way the wind blows« findet sich das jugendliche Aufbegehren der sechziger Jahre mit seiner neuen Unabhängigkeit und dem erwachenden Zutrauen zum eigenen Urteil in einer schlaksigen Selbstgewissheit auf den Punkt gebracht. Gute Songs sind nicht nur Produkte ihrer Zeit, sie sind ihre Verdichtung.
Darum ist es eine beglückende Erfahrung, wenn ein Song und eine Begebenheit so aufeinandertreffen, als wären sie füreinander gemacht. Sie steigern sich gegenseitig. Der Song wird mit biographischer Bedeutsamkeit angereichert, und das Erlebte bleibt mit ihm verbunden. Songs sind Hohlformen, die wir mit unserem Leben füllen. Sie sind geborgte Erzählungen, ein geliehener Ausdruck für Erfahrungen. In Songs, mitunter in einzelnen Liedzeilen, vermag man sich wiederzufinden, oder ein Lied gestaltet unsere Wahrnehmung und eröffnet neue Empfindungsweisen. Mitunter trifft uns ein Song genau zur rechten Zeit. Nach meinem ersten Bewerbungsgespräch mochte ich mir noch nicht eingestehen, dass ich dem mit ihm einzuschlagenden Berufsweg nicht folgen wollte. Als auf der Rückfahrt im Autoradio »Into The Great Wide Open« von Tom Petty &The Heartbreakers lief, wurde mir in 3 Minuten und 42 Sekunden schlagartig klar, welchen Weg ich zu wählen hatte.
Werner Herzog hat in diesem Zusammenhang von der ekstatischen Wahrheit gesprochen. Unser Sinn für Realität sei heutzutage umfassend in Frage gestellt, aber »in der bildenden Kunst, der Musik, der Literatur und dem Kino ist eine tiefere Schicht der Wahrheit möglich, eine poetische, ekstatische Wahrheit, die mysteriös und nur schwer fassbar ist und die man nur durch Imagination, Stilisierung und Fabrikation erreichen kann«. In einer durchrationalisierten Welt öffnet Musik, die sich als Kunst versteht, eine emotionale Falltür, die uns des vertrauten Bodens beraubt und in eine tiefere Schicht unseres Bewusstseins fallen lässt.
Ich erinnere mich noch genau, wann ich das erste Mal Songs von Nick Drake gehört habe. Weit nach Mitternacht spielte Alan Bangs in seiner Sendung Night Flight beim Radiosender BFBS, der ein Programm für die in Deutschland stationierten englischen Soldaten ausstrahlte, vier Stücke von ihm. Für bestimmte Musik ist the night time the right time. In den small hours zwischen den Tagen gewinnt das Gehörte eine mystische Intensität, die nicht ganz von dieser Welt ist.
Es war der 27. August 1979. Das genaue Datum muss ich nachschauen, aber der Moment ist mir unauslöschlich im Gedächtnis geblieben. Mit Kopfhörern saß ich vor dem Radiorekorder, die Empfangsantenne penibel justiert. Während sich die Spulen der eingelegten Kassette zur Aufnahme gleichmäßig drehten, hörte ich diese Songs von Nick Drake, die wie von weit her klangen, aus einer anderen Zeit, aus einem anderen Land. Es war ein harter Einstieg in seine Musik. Bangs spielte vier bis dahin unveröffentlichte Songs, die erst postum auf der gerade und zunächst nur in England erschienenen LP-Box Fruit Tree. The Complete Recorded Works veröffentlicht worden waren - das bis dahin letzte künstlerische Lebenszeichen dieses Musikers. Die sechste Seite der drei LPs enthält, nach der B-Seite von Pink Moon, die Songs »Voice From The Mountain«, »Rider On The Wheel«, »Black Eyed Dog« und »Hanging On A Star«; der letzte von Drake eingespielte Song, »Tow The Line«, wurde erst später entdeckt. Es gibt gefälligere Stücke als das an die Nieren gehende »Black Eyed Dog«.
Alan Bangs ließ die Stücke damals hintereinander laufen, ohne zwischen ihnen ein Wort zu verlieren. Fügten sich die ersten beiden Songs noch in das ein, was ich unter Folk verstand, waren die letzten beiden geradezu verstörend, vor allem der Song über den Hund mit den schwarzen Augen. Mit Robert Johnson war ich noch...
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