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Dieses Gespräch nimmt seinen Ausgang bei Georges-Arthur Goldschmidts stets gegenwärtiger Freude, am Leben zu sein, und nähert sich dem Punkt, an dem diese Freude von Grund auf erschüttert werden kann. Hieran schließen sich die Fragen nach der literarischen Darstellbarkeit an, welche Rolle zum Beispiel die Entscheidung spielt, von sich als »Er«, unter dem fiktiven Namen Arthur Kellerlicht, zu erzählen. Schafft dies eine Distanz zum Erlebten und auch die Möglichkeit, einen humorvollen Ton zu wählen?
Von hier aus nähern wir uns der Frage, wie wichtig die beiden »Muttersprachen«, das Französische und das Deutsche, für Georges-Arthur Goldschmidt waren und sind und welche Rolle die Malerei für ihn gespielt hat.
Die thematisierte Erzählung Ein Wiederkommen erschien 2011 in der französischen und einige Monate später in der deutschen Fassung. Der Vergleich der beiden autonomen Versionen und die Unterschiede der französischen und der deutschen Sprache bilden den Mittelpunkt dieses Gesprächs, das sich langsam auf die Erlebniswelt des Jungen in der Internatszeit in Megève im französischen Département Haute-Savoie und der sich daran anschließenden Zeit in Paris zubewegt.
HANS-JÜRGEN HEINRICHS
Georges-Arthur Goldschmidt, meine erste Frage bezieht sich auf die Freude am Leben und das Wunder des Existierens. Ist dieses Gefühl bei Ihnen eigentlich immer da, oder kann es auch erschüttert werden? Und durch was kann es erschüttert werden?
GEORGES-ARTHUR GOLDSCHMIDT
Eigentlich sollte es mich gar nicht mehr geben, nach den Nürnberger Gesetzen bin ich »VOLLJUDE«, da doch erst die Großeltern konvertierten, ich bin in einer sehr gläubigen evangelischen Familie erzogen worden und ging in den Kindergottesdienst, bis mich der Pastor meines Dorfes 1937 wegen meiner Herkunft rausschmiss, aus Angst, nehme ich an. 1938 schickten meine Eltern uns, meinen älteren Bruder und mich, nach Florenz, da wir gar nicht aufs Gymnasium durften und weil mein Vater schon Schlimmstes ahnte. Ab 1939 war auch keine Bleibe mehr in Italien, weil sich Mussolini die Rassenpolitik Hitlers angeeignet hatte, und wir kamen in einem Internat in Frankreich, in Hochsavoyen unter, durch eine »begüterte« Verwandte; 1943 wurde auch dieser Teil Frankreichs durch die Nazideutschen besetzt, und die Razzien fingen auch in Savoyen an. Die Deutschen kamen uns abholen, und ich sehe heute noch vor mir die schwarzen Löcher der auf mich gerichteten Maschinenpistole, sie erkannten mich nicht. So etwas vergisst man nie. Fünf Franzosen, ein Gendarm, eine Internatsleiterin, ein Vikar und ein Bauer riskierten ihr Leben für einen agitierten, verpissten, nervösen Jüngling. So weiß ich, was das bedeutet: Todesangst empfinden. Das wünsche ich nicht meinem ärgsten Feind. Ich habe keine Feinde, aber hätte ich einen, würde ich ihm das nicht wünschen.
Mein Leben ist ein reines Wunder und jeden Tag betrachte ich es als Geschenk, ich gehörte doch zum »lebensunwerten Lebensmaterial«, wie man damals zur Zeit der Kindereuthanasie in Deutschland doch so gerne sagte. Damals schon, 1938, wusste man davon, zu Weihnachten 1937 in Wernigerode, wo meine Mutter im Sanatorium war, hörte ich schon Schwestern von so etwas munkeln; die Deutschen waren doch damals das einzige Volk, dass seine eigenen Kinder umbrachte. Nicht von ungefähr konnte man noch in den fünfziger Jahren in den Immobilienannoncen »Kinder unerwünscht« lesen.
So ist das eben meine Herausforderung an die damaligen Kindermörder: Ich bin immer noch da.
Mein Leben erfüllt mich mit Glück und Dankbarkeit für die Franzosen, die mich in Schutz genommen haben, und mit schlechtem Gewissen, überlebt zu haben.
H-J H
Ich habe das bei Ihrer Lesung im Berliner Literaturhaus im Mai 2012 so erlebt: Einmal unterbrachen Sie tief bewegt die Lesung, als Sie sich an den jungen Mann erinnerten, der durch Sie in Lebensgefahr gekommen war und auch gestorben ist. Die Schwierigkeit, von dieser Zeit zu erzählen. Es hat mich berührt, als Sie davon sprachen, dass in Ihnen, wenn Sie das Wort »Lyon« hören, sofort eine solche Erschütterung und eine große Traurigkeit da sind, dass aber das Erzählen für Sie immer eine Möglichkeit darstellt, dann doch etwas davon zu berichten. Gleichzeitig betonen Sie immer, dass die Sprache es nicht zum Ausdruck bringen kann, was man erlebt hat. Und trotzdem spricht man.
G-A G
Ich kann es nicht so der Reihe nach formulieren. Also gestern, ich wollte damit sagen, es ist nicht nur meinetwegen und meines Bruders wegen gewesen. Es handelt sich hier um einen damals achtzehnjährigen Schüler des Internats, der sich als Schweizer Staatsbürger doch in der Résistance engagierte, Medizin studierte und im August 1944 von der Miliz in Lyon erschossen wurde. Vielleicht engagierte er sich in der Résistance, weil er sah, wie die Deutschen hinter uns und den im Dorf untergebrachten Juden her waren. Seinen Tod trage ich in mir; das habe ich auch in meiner Autobiographie Über die Flüsse erzählt.
Die Résistance halb Realität, halb Mythos hat Frankreichs Selbstansehen gerettet. Die Résistance und de Gaulle haben das Land vor der Schande gerettet, mit Pétain wäre es sonst in der »infamie«, der Kollaboration untergegangen.
Dass so viele französische Intellektuelle der Kollaboration verfielen, allerdings nicht die besten, bleibt bis heute ein Schandflecken. Es lässt sich zum Teil aus einer alten Faszination der französischen Faschisten für die Stärke und die Gewalt erklären, alles, was der Republik schadet, ist willkommen. Heute erliegen wieder einige »Denker« einem solchen Hang zur Untertänigkeit. Es wird zu leicht vergessen, dass diese »Kraft durch Freude«, wie es hieß, doch nur aus Beseitigung der deutschen Kinder, der »Behinderten« und der sogenannten »Geisteskranken« bestand. Mit Begeisterung haben die deutschen Psychiater damals mitgemacht, wo anscheinend die französischen Psychiater unter der Naziokkupation sich dieser extremen Form der Kollaboration doch nicht auslieferten. Und wenn man, in welcher Form auch immer, zu den »unnützen Essern« gehört, kann man die erlebten Zeiten nicht als endgültig bewältigt und vergangen betrachten.
Das dürfte vielleicht zeigen, wie wichtig die von der Geschichte überlieferten Mythen sein können. Wir Franzosen wurden in den frühen Jahren der Adoleszenz von den Bildern einer Nation erzogen, für welche die Menschenrechte, einfach die Existenzrechte der Menschen als das Fundament jeder Politik erachtet wurden, und so bekam man die Geschichte Frankreichs als eine Art »Geschichte der zwölf Arbeiten des Herakles« zu lesen, als eine Geschichte des Fortschritts. Die Bilder in den Geschichtsbüchern haben zur Formation des eigenen Selbstbildes beigetragen. Es resultiert daraus, dass es damals schon Ende der vierziger Jahre eine gewisse Offenheit gab, dank der inneren großen Auseinandersetzungen waren die Sonderlinge vielleicht besser integriert als im damaligen Deutschland, das doch seine »Außenseiter« sorgfältig zwischen 1938 und 1945 eliminierte.
Ist vielleicht die Erfindung des Namens in der Erzählung Ein Wiederkommen eine Möglichkeit, ein wenig in Distanz zu diesem Erleben zu treten?
Es ist gut möglich, dass der Name der Figur dieser Erzählung Ein Wiederkommen nicht zufällig Kellerlicht heißt, denn die Namen kommen einem immer aus Gründen, die gerade der Name verdeckt. Es ist vielleicht möglich, dass Keller eine Anspielung auf Krieg und Furcht ist, auf Angst, aber danach kommt ja gerade Licht, aber natürlich ironisch gemeint.
Der Ich-Erzähler in Über die Flüsse kam mir manchmal, entschuldigen Sie, fast wie ein Buchhalter oder ein Archivar des Lebens vor.
Es kam darauf an, die immer mit Autobiographie verbundene Selbstanbetung und Selbstheiligung zu vereiteln, die sonst der Inhalt einer Autobiographie ist, daher der trockene Berichterstattungston, den Sie bemängeln.
Als Sie in Berlin waren und Ihre Erzählung Ein Wiederkommen vorstellten, machten Sie eine Bemerkung zu Israel, die ich aufgreifen sollte. Wir werden nicht im Einzelnen über die Entwicklung im Nahen Osten und über das heutige Israel sprechen können. Dazu gehört auch die schwierige Situation kritischer Intellektueller, die man im Land zu unterdrücken versucht. Und dazu gehört: die aggressive Siedlungspolitik und das Verhältnis zu den Palästinensern.
Wie soll ich fragen?
Ganz neutral, so, als würde mich Israels Politik nicht auch alarmieren, das kann ich nicht. Aber meine kritische Haltung darlegen? Dafür würde ich viel Raum benötigen, den ich in diesen Gesprächen nicht habe.
Ich frage ganz schlicht: Entspricht der Umgang Israels mit den Palästinensern Ihrer Vorstellung von Humanität, Menschenwürde und einer auf Frieden ausgerichteten Politik des Miteinanderlebens? Setzt Israel den Auslöschungsphantasien seiner Feinde eine konstruktive Politik der Anerkennung des Anderen und seines Lebensrechts entgegen? Ist das überhaupt möglich angesichts der Drohungen, Israel vernichten zu wollen?
Aber das jüdische Denken war doch einmal Statthalter der Moral als solcher.
Diese Frage à la Günter Grass beantworte ich sehr gern. Warum stellen Sie die Frage mir, wo ich doch immer wieder betone,...
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