Schweitzer Fachinformationen
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Die Stadt war leer, die Straßen glänzten schwarz. Ich ging schnell, sah über die Schulter, ob jemand hinter mir lief. Obststände standen in dichtem Nebel, auf meinem Gesicht bildeten sich feine Wassertropfen.
Im Briefkasten war ein Flyer der Ärzte ohne Grenzen, ich fotografierte die Telefonnummer. Eine Woche war vergangen. Es war Sonntagabend, 29. September. Die Menschen hatten sich ins Internet zurückgezogen.
Ezra saß in der Mitte von N8 auf einem Stuhl, die Beine überschlagen, auf der Spitze seines Knies balancierte er eine Glasflasche Wasser. So hatte er auch in der Nacht des 22. hier gesessen. Er war verstörend ruhig und klar gewesen. Er hatte mich nicht gefragt, was ich gemacht hatte. Ich hatte trotzdem gelogen und gesagt, ich hätte ihn die ganze Zeit gesucht. Ich versuchte gar nicht zu erklären, dass ich für Momente außer mir gewesen war, alles vergessen hatte, auch ihn, ich glaube, er wusste das.
»Du musst dich waschen«, hatte er gesagt. »Du riechst nicht gut.«
Jetzt, am 29. September, verfolgte er ein Drama online wegen eines Deborn-Textes über den 22.
»Hast du?«
»Ja, hier.« Ich gab ihm das Haschisch. Ich hatte angeboten, zu seinem Dealer zu gehen. Die Haut in seinem Gesicht verheilte und sah ganz neu aus, rosa, irgendwie roh. Letztlich habe ich ihm ja immer alles verboten, bis auf das Haschisch und das Schreiben. Er hätte sich sowieso nicht daran gehalten.
Ich ging in die Küche, brach einen Granatapfel auf und pickte ein paar Kerne. Ich machte auf meinem Smartphone das Besetzer-Radio an und begann zu kochen. In Ezras Anwesenheit hörte ich das Radio nur mit Kopfhörern.
Es war sehr schnell gegangen. Während wir den Banntanz um den Justizpalast vollführten, war eine Gruppe Demonstranten vor dem Europa-Parlament von einer letzten, verwirrten Polizei-Einheit in den Leopoldpark gedrängt worden. Die Eingekesselten hatten daraufhin ein von der EU betriebenes Museum, das Haus der europäischen Geschichte, gestürmt und besetzt.
In Kommentaren, Sonderberichterstattungen, Artikeln und Diskussionen wurde dem 22. jegliche politische Motivation abgesprochen. Die Sprache der europäischen Neoreaktionären driftete in die üblichen Reinheits- und Reinigungs-Phantasien ab. Der generelle Konsens war, dass es sich bei dem 22. um einen unsinnigen Exzess gehandelt habe, einen »Karneval«, der so nur im chaotischen Brüssel stattfinden konnte, das sich seit Jahren weigerte, Abschiebungen durchzuführen. Die Besetzung des Hauses der europäischen Geschichte stand in den ersten Tagen nach der Saison nicht im Zentrum der Berichterstattung, sondern die Zerstörungen und Plünderungen.
Als Bürgermeisterin Kaninda am 24. eine Duldung der Besetzung des Museums aussprach, wurde die Kommission nervös. Das immense Gebäude im Leopoldpark, ein heller futuristischer Bau von 1931, in direkter Nähe zu den Institutionsgebäuden, gehörte, genau wie die anderen Bauten im Park, der Stadt. Die Besetzer hatten begonnen die Vitrinen zu öffnen. Die ersten Videos tauchten auf, von Frauen, die mit Wehrmachtshelmen und Elfenbeinschnitzereien vor Niki-de-Saint-Phalle-Statuen posierten, und von Männern, die in roten Brexit-Shirts mit Stabgranaten in der Hand Namen von EU-Parlamentariern vorlasen. Die Kommission drängte auf die Herausgabe einiger Originalverträge, Gründungsdokumente, die in Vitrinen im Haus der europäischen Geschichte ausgestellt waren. Als die Besetzer statt der angefragten Dokumente einen Karton mit einer Nilpferdpeitsche übergaben, ließ die Kommission den Leopoldpark von deutschen, italienischen und französischen Polizisten umstellen. Die Brüsseler Polizei hatte sich nach Anderlecht und dem 22. mit Kaninda und den Besetzern solidarisch erklärt.
Ezra verachtete das alles. Der Aufruhr widersprach seiner Logik des friedlichen Verschwindens, die Unruhe seiner quasiaristokratischen Schlichtheit. Er glaubte an althergebrachte Umgangsformen, auf seine Art liebte er geordnete Verhältnisse. Für ihn war der 22. eine Massenpanik, ein Hieronymus-Bosch-artiger Alptraum. Deborn forderte sogar die Räumung des Museums. Ich wollte nicht glauben, dass er sich auf die Seite der Mächtigen stellte, auch wenn seine Gründe ganz andere waren.
»Bei der Saison hätte es um den Kongo gehen sollen«, sagte er, »um das Aussterben, das Europa dorthin projiziert. Jetzt geht es doch wieder nur um den europäischen Ameisenhaufen, um den Spaß an der Zerstörung der eigenen Städte.«
In seinem letzten Text über den 22. imaginierte er, dass die Besetzer bestraft werden und ins Nichts versinken sollten wie Wachkoma-Patienten. Er zeigte mir diese Texte nicht, bevor er sie postete. Ich war erstaunt, wie deckungsgleich Ezra mir gegenüber und Deborn online argumentierten. Es war, als ob Erza und seine Persona mehr und mehr ineinandermorphten. Er lebte in seinem Kopf. Er verstand nichts von der Grenzenlosigkeit, die wir am 22. erlebt hatten.
»Morgen muss ich meine Wohnung ausräumen«, sagte ich. Ich bestand darauf, es alleine zu machen. »Ich muss alles in Ruhe sortieren«, sagte ich und behauptete, dass ich alleine schneller sein würde. Ich war irritiert wegen Deborns Texten und davon, dass Ezra mich mehrmals körperlich zurückgewiesen hatte seit dem 22., als sei ich von etwas berührt worden, was sich nicht abwaschen lässt.
Nachts saß ich in N8, die Füße auf der Fensterbank, und hörte mit Kopfhörern das Besetzer-Radio. Ich stand auf, stellte mich ans Bett und sah Ezra beim Schlafen zu. Ich nahm mir vor, die schlaflosen Nächte mit etwas zu füllen.
Am Montag, den 30. September, lief ich zu meiner Wohnung und rief Bea an, sie ging nicht ran. Der Himmel war dunkelgrau, es war kühl. Ich hatte das Bedürfnis, mit irgendjemandem über Ezra und den 22. zu sprechen. Ich wusste nicht, worauf genau dieses Gespräch hinauslaufen sollte, und ich wusste nicht, an wen ich mich wenden sollte. Ich hatte versucht, die Kündigung der Wohnung rückgängig zu machen, aber das war nicht mehr möglich.
Eine deutsche Polizei-Einheit, die vor meiner Wohnung stationiert war, grillte Bratwürste im offenen Kofferraum eines Polizei-Vans. Sie hatten ihre Rüstung abgelegt und aßen und rauchten.
Nachdem ich meine Kleider in Müllsäcke gepackt hatte, sah ich mich im Spiegel des kleinen Badezimmers an. Mir hingen lange dunkle Strähnen ins Gesicht, ich hatte einen Pickel am Lippenrand, mein Mundwinkel war eingerissen. Ich trug einen Seidenschal, als Kopftuch gebunden, wie ein armes Tantchen sah ich aus. Warum wollte ich mich zu jedem gegebenen Anlass verkleiden? Ich nahm das Tuch ab, glättete mir mit Wasser die Haare und mistete weiter aus. Ich zog alles noch einmal an, machte Fotos. Ich interessierte mich mehr für Mode als die meisten Menschen, also hatte ich auch die Fähigkeit, schlimmer auszusehen als die meisten Menschen.
Es dauerte Stunden. Ich setzte mich an den Schreibtisch. Ich hatte ihn nie wirklich benutzt, eigentlich arbeitete ich auf dem Boden. Es war schon dunkel, als ich ein leeres Dokument auf meinem Laptop öffnete. Ich wollte mich erinnern. Ich musste mich erinnern. Ich sah mir ein Foto von Ezra in Ostende an. Ich hatte es von ihm gemacht, als wir den Strand verlassen hatten, als der Sturm aufzog. Er stand auf den weißen Decken, im Wind. Er sah schön aus, traurig und friedlich und bleich, irgendwie übernatürlich.
Mir fiel dieser heftige Lichtwechsel vom Blau des Morgens zum Gelb des Gewitters ein. Vielleicht schrieb ich REGEN, weil ich diesen Moment vermisste. Ich schrieb: »Wir konnten nicht schlafen.« Vielleicht wollte ich sehen, wie viel sich auffangen ließ. Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich mein Wunsch war zu schreiben oder ich Ezras Begehren zu schreiben nachahmte. Ich wollte gegen diesen Impuls in mir vorgehen, alles immer sofort in einem Bild zu erfassen. Ich hasste es an mir, dass ich so schnell aburteilte, immer dachte, dass ich alles intuitiv verstehen könne. Ich wollte mir Zeit lassen, nach und nach die Notizen, Nachrichten, Fotos sortieren und begreifen, was sich veränderte. Ich zwang mich zu erinnern, ich durfte nicht mehr alles verdrängen. Ich wollte darauf achten, was zwischen Ezra und mir geschah, was ich nicht mehr mitmachen wollte. Ich wollte mich nicht mehr herumschubsen lassen. Ich will wissen, was passiert, was passiert ist.
Nach ein paar Stunden rief ich den Sohn der Vermieterin an und sagte, ich würde ihm, wie verabredet, den Schlüssel in den Briefkasten werfen.
Die Polizisten durchwühlten die Kleider in meinen Zu-verschenken-Kisten, einer legte sich einen roten Schal um und begutachtete die Porzellan-Tassen. Auf dem Rückweg sah ich Menschen auf der anderen Kanalseite, die Eimer ins Wasser hinabließen. Ich besaß jetzt nur noch ein paar Kleider, meinen Laptop, mein Smartphone, Schmuck meiner Mutter und Fotos von ihr, alles in vier blauen IKEA-Tüten.
Auf dem frühsten Foto, das ich von meiner Mutter besitze, ist sie siebzehn oder achtzehn, kurz bevor sie das erste Mal geheiratet hat. Sie steht in einem orangen Sari auf einem sandigen Hügel, wahrscheinlich in Holland. Am...
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