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Ein verschwundenes Kind und die lebenslange Suche nach der Wahrheit
Ricarda Raspe und ihr Verlobter freuen sich auf ihr erstes Kind. Doch dann geht bei der Geburt in der Dresdner Klinik etwas schief - und es heißt, Ricardas Baby sei tot. Laut Vorschrift darf sie es nicht einmal mehr sehen. DDR-Alltag im Jahr 1973. Aber Ricarda glaubt nicht an den Tod ihres Kindes. Sie glaubt vielmehr an eine staatlich angeordnete Kindesentführung. Auch der Polizist Thomas Rust, der zufällig Zeuge des dramatischen Vorfalls wurde, hegt diesen Verdacht und stellt Recherchen an, die ihn in höchste Gefahr bringen. Erst 17 Jahre später laufen die Fäden zusammen, als die junge Claudia Behling jene Frau sucht, die sie nach ihrer Geburt weggegeben haben soll - ihre Mutter.
Der junge Mann trat aus dem Eingang des Frauenklinikums der Medizinischen Akademie in die kalte Morgenluft. Er war schlank, mit etwas zu langem dunklem Haar und einem Oberlippenbart. Er blieb stehen und schloss die für diese Jahreszeit eigentlich zu dünne Jacke aus grauem Dederonstoff. Alles hatte plötzlich schnell gehen müssen. Jetzt war ihm kalt. Zumindest schützte ihn der braune Rollkragenpullover ein wenig vor der Kälte. Er holte aus der Jackentasche eine zerknitterte Schachtel F6 und schüttelte sich eine der noch verbliebenen Zigaretten heraus.
Es war sehr früh am Morgen, erst kurz nach fünf, und noch dunkel. Große Straßenlaternen beleuchteten den Eingangsbereich. Thomas Rust drehte dem aufkommenden Wind den Rücken zu und versuchte, die Zigarette mit seinem Feuerzeug anzuzünden. Weil es nicht funktionierte, schüttelte er es, doch es schien leer zu sein. Er steckte es weg und klopfte seine Jacke nach Streichhölzern ab. Nur mit Mühe gelang es ihm schließlich, die Zigarette in seinen hohlen Händen zu entzünden. Dann nahm er einen tiefen Zug und noch einen, er sah zu Boden. Mit der Schuhspitze schnippte er ein paar Steinchen weg. Als sich zwei Krankenschwestern dem Eingang näherten, machte er ihnen Platz und nickte ihnen beiläufig zu. Sie erwiderten sein Nicken und verschwanden im Gebäude.
Schon drei Mal hatte Rust auf der Station nachgefragt, ob es Neuigkeiten gäbe. Doch er erhielt weder eine Auskunft, noch ließ man ihn zu Heike vor. Besuchszeit war erst am Nachmittag, das wusste er. Sie hätten ihm aber doch wenigstens sagen können, wie es ihr ging, ob noch akute Gefahr bestand. Noch einmal nahm er einen tiefen Zug und blickte nach oben. Das Fenster über ihm war nur angelehnt. War das das Zimmer, in dem Heike nun lag? Er wusste nicht einmal, wo sie sie hingebracht hatten.
Er fror immer mehr. Das lag nicht nur an der zu dünnen Kleidung. Er machte sich Sorgen. Es wird schon nichts sein, zwang er sich zu denken. Vielleicht waren es nur Krämpfe. Aber vielleicht auch schon Vorwehen. Das Kind sollte erst in fünf Wochen kommen. Sein erstes. Ihr erstes.
Rust zog noch einmal an der Zigarette und bemerkte, wie seine Finger zitterten. Ein Kaffee würde ihm guttun. Aber wo sollte er den jetzt herbekommen?
Er lief los, um sich ein wenig die Beine zu vertreten. Langsam wurde es betriebsamer auf dem weitläufigen Krankenhausgelände. Als er die Hupe eines Multicar hörte, tat er einen Schritt zur Seite und ließ den Kleinstlaster passieren. Der Mann am Steuer tippte dankend an seine Schirmmütze. Rust hob knapp die Hand und ging dann langsam weiter, bis zur Rückseite des großen Gebäudes. Die Lichter eines Wagens, der hinter dem Haus hervorkam, trafen ihn. Aus irgendeinem Grund blendete der Fahrer die Scheinwerfer auf. Rust kniff die Augen zusammen und sah dann dem Wagen nach, der um die nächste Ecke bog und verschwand. Es war ein grauer Moskwitsch 408 mit einem I am Anfang des Kennzeichens. Ein Auto aus Berlin, Rust wunderte sich. Nachdenklich ging er weiter und hatte für wenige Sekunden einmal nicht an Heike und das Kind gedacht.
Auf der Rückseite des Gebäudes musste er feststellen, dass das Gelände von einem Bretterzaun umgeben war. Er kehrte um und nahm wenige Minuten später wieder seinen Platz vor der großen Eingangstür ein. Er beschloss, seine letzten drei Zigaretten in der Schachtel unangetastet zu lassen, und sah missmutig auf die Uhr. Halb sechs. Ihm war noch immer kalt.
Eine Krankenschwester kam aus der großen Tür, sah sich um und blieb abwartend unter einer der Laternen stehen. Sie musste um die fünfzig sein und wirkte erfahren und routiniert. Rust erkannte sie als diejenige, die bei Heikes Aufnahme dabei gewesen war und dem Chefarzt assistiert hatte. Hoffnungsvoll trat Rust ins Licht der Laterne. Als die Schwester ihn erkannte, zog sie sich die weiße Strickjacke fest um den Oberkörper und verschränkte die Arme.
»Ich rate Ihnen, fahren Sie nach Hause«, sagte sie, noch bevor Rust das Wort an sie gerichtet hatte. »Es hat keinen Zweck hierzubleiben. Die Untersuchungen dauern noch an, und ich kann Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt keinerlei Auskunft geben. Ihre Frau hat leichte Blutungen, wir kümmern uns darum. Kommen Sie heute Nachmittag zur Besuchszeit wieder.« Sie blickte ihn müde an und zitterte in der Kälte.
»Können Sie mich nicht anrufen? Wir haben daheim ein Telefon.«
»Kommen Sie zur Besuchszeit!« Die Schwester blieb hart.
»Können Sie mir nicht wenigstens .«, versuchte er es noch einmal.
»Nein!« Die Schwester machte kehrt und ließ ihn stehen.
Rust blickte ihr wie erstarrt hinterher.
»Was stehen Sie denn hier?«, fragte plötzlich eine Stimme hinter ihm. Es war der Fahrer des Multicars, der auf dem Weg in das barackenähnliche Gebäude gegenüber der Frauenklinik war. Rust schätzte ihn auf sechzig. Ein untersetzter Mann mit Schnauzer, der über seinem blauen Arbeitsanzug eine graue gesteppte Wattejacke trug.
Rust hob die Schultern. »Meine Frau ist heute früh mit Beschwerden eingeliefert worden.«
»Und Sie wollen nicht heimgehen.« Das war keine Frage gewesen, eher eine Feststellung. Der Mann wandte sich ab und schloss die Tür zu der Baracke auf. »Kaffee?«
»Ja, ja, sehr gern.« Rust nickte, überrascht und erfreut. Er folgte dem Mann in das niedrige Gebäude. Durch einen schmalen, trüb beleuchteten Gang gelangten sie in ein kleines Zimmer, in dem es nach Kaffee, Werkzeugöl und Linoleum roch.
»Ich geh mal Wasser kochen. Setz dich nur hin!«
Der Mann duzte ihn ganz selbstverständlich. Die vertrauliche Anrede störte Rust nicht.
Der Hausmeister deutete auf einen Holzstuhl, nahm sich den kleinen Wasserkessel, der auf dem Tisch gestanden hatte, und verließ den Raum. Rust setzte sich, rückte noch näher an den gusseisernen Heizkörper, der Geräusche von sich gab, als klimperten kleine Kieselsteine durch die Röhren. An den Wänden hingen Holztafeln mit Zangen und Schraubenziehern verschiedenster Größen, auf dem Tisch stapelten sich Dutzende Glühbirnen in Wellpappschachteln. Der Hausmeister kam zurück und bemerkte Rusts Blick.
»Tja, erst gibt's monatelang gar keine, dann bekommst du zweihundert auf einmal und weißt nicht, wohin damit. Brauchst du eine? Sind aber nur dreißig Watt.«
Aber er wartete nicht auf Rusts Antwort und widmete sich der Kaffeezubereitung mit einem Nylon-Filterbehälter, den er auf die Kanne setzte. »Im Schwesternzimmer haben sie eine Kaffeemaschine. Aber denkste, du kriegst mal einen?«
Er holte das kochende Wasser aus dem Nebenzimmer und goss auf.
»Was hat deine Frau denn für Beschwerden?«, fragte er, als sie wenige Minuten später in ihren heißen Tassen rührten. Rust tat einen zweiten Würfelzucker hinzu. Er fragte sich, ob er hier drinnen rauchen durfte, doch solange der andere selbst keine Anstalten machte, ließ er es bleiben. Irgendwie tat es gut, hier zu sitzen, so verging Zeit, und der Hausmeister strahlte eine unerschütterliche Ruhe aus.
»Das Kind soll eigentlich erst in fünf Wochen kommen, aber sie hat bereits Schmerzen und Blutungen. Das ist viel zu früh.«
Der Hausmeister nickte bedächtig und trank von dem heißen Kaffee.
»Mario«, sagte er plötzlich und streckte die Hand über den Tisch aus.
»Thomas«, revanchierte sich Rust.
Noch einmal trank der Mann und schlürfte leise. Dabei tunkte sein Schnauzer in den Kaffee. Mit einer routinierten Bewegung streifte er mit der Unterlippe die Feuchtigkeit ab. Rust ertappte sich dabei, dass er schmunzeln musste und fasste sich unwillkürlich an seinen eigenen Oberlippenbart. Erst gestern Abend hatte ihn Heike noch gestutzt.
»Es passieren so viele Dinge«, sagte Mario und sah ihm dabei in die Augen, als müsse er seine nächsten Worte genau überdenken. »Der menschliche Körper, der ist wie eine Maschine, in der alles funktioniert. Aber sobald mal etwas fehlt, sobald ein Rädchen sich nicht mehr dreht, schon bricht die Produktion zusammen .« Nun hielt er inne. »Aber dann!«, jetzt deutete er auf den Stapel Glühbirnen, als erklärte der alles. »Manchmal zwickt es eben, das geht meistens alles gut aus am Ende«, philosophierte er weiter.
Rust nickte dankbar. Es war nicht wirklich tröstlich, was der Mann ihm erzählte, doch trotzdem war seine Aufregung merklich abgeflaut.
»Aber sie haben mich nicht zu ihr gelassen, und gesagt hat auch keiner etwas«, beschwerte er sich nach einigen Momenten des Schweigens.
»Na, überleg mal, da könnte jeder rein und raus, wie er wollte«, brummte der Hausmeister.
Auch wieder wahr, dachte Rust.
Wieder schwiegen sie und der Heizkörper blubberte.
»Und Sie . Und du hast Nachtschicht?«, fragte Rust nach einer Weile.
»Nee, bin nur eher gekommen. War noch was zu erledigen.« Der Hausmeister schlug für einen Moment die Augen nieder.
Rust fragte nicht weiter. Wer weiß, was der Mann mit dem Multicar transportiert hatte. Vielleicht hatte er ein bisschen Kohle abgezweigt. Man musste sich zu helfen wissen, wenn man etwas haben wollte.
»Vorhin stand hinten am Haus ein Moskwitsch. Mit Berliner Kennzeichen«, begann Rust, um die unangenehme Stille zu durchbrechen.
»Hinterm Haus, an der Rampe?«
Rust nickte. »Ein Arzt vielleicht?«
»Aber keiner von denen fährt hier einen Moskwitsch. Wirklich Berlin?«
Rust nickte wieder. Eine Weile saßen sie wieder stumm da und nippten am Kaffee.
»Und«, brach jetzt der Hausmeister das Schweigen. »Was machst du sonst so?«
»Bin Busfahrer.«
»Ah«, der Hausmeister hob das Kinn. So reagierten die meisten. Das war Rust recht so. Busfahrer. Da...
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