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6. Februar 1947, später Vormittag
Heller wechselte den Rucksack von der linken auf die rechte Schulter, um sie zu entlasten. Doch die Erleichterung währte nur kurz. Es ging ihm schlecht. Der junge sowjetische Arzt, der ihn an der Tür seiner Schreibstube empfangen hatte, betrachtete ihn misstrauisch. Medvedev hatte Heller einen Wagen mit Fahrer zur Verfügung gestellt, der ihn in die Königsbrücker Straße hinauf und schließlich die Carola-Allee entlang zur ehemaligen Wehrmachtskaserne gebrachte hatte. Seit Ende des Krieges wurden die Gebäude von der 1. Gardepanzerarmee der Sowjetunion als Garnison genutzt. Beide Opfer, Berinow und Cherin, waren Angehörige dieser Armee gewesen. Nun sollten sie nach Medvedevs Angaben in den Räumen des Militärkrankenhauses liegen. Zuständig war der Arzt, dessen Namen Heller bei der Vorstellung nicht verstanden hatte.
Der Mann trug einen weißen Kittel über seiner Uniform. Er war etwa dreißig Jahre alt, trug eine Brille mit dünnem silbernem Gestell und wirkte dadurch und durch sein leicht gelangweiltes Auftreten wie ein Intellektueller oder ein Aristokrat. In jedem Fall irgendwie fehl am Platz.
»Sind Sie krank?«, fragte der Arzt Heller besorgt und hielt deutlich Abstand.
Heller winkte ab. Das kam davon, wenn man zu viel aß. Wenn man gar nicht mehr gewohnt war, zu essen. In der Offizierskantine hatte es alles gegeben, was ein Mensch sich vorstellen konnte: warmes weißes Brot, Butter, Marmelade, Honig, Wurst, kalten Braten, gekochte Eier, eingelegten Fisch, saure Gurken, Kakao, Kaffee. Nach anfänglicher Zurückhaltung hatte Heller seine Scheu verloren und gegessen, bis sein Magen rebellierte. Was für ein Überfluss, dachte er. Und die Leute draußen stahlen die fauligen Zwiebeln, schlugen sich um gestrecktes Brot, fuhren aufs Land, um zu betteln, kochten Futterrüben und sogar Leder. Unter Lebensgefahr sprangen Erwachsene und Kinder auf fahrende Eisenbahnwaggons, um Steinkohle zu stehlen. Manche töteten auch. Es war noch keine Woche her, da hatte ein Einbrecher den Fleischer Richter nachts in dessen Laden erschlagen. Und auch der Kohlehändler, den sie vor zwei Tagen fanden, hatte wohl nur für ein paar Zentner Kohle sein Leben lassen müssen. Wie sollte das nur gut gehen? Wie sollte der Russe jemals ein Freund werden? Mit diesen immer gleichen Parolen, dem Lob auf die Befreier, mit dem strahlenden Übermensch Stalin auf den Plakaten an jeder Hausecke fütterte man bestenfalls die Wut der Bevölkerung.
»Wollen Sie sich setzen?«, fragte der Mediziner.
»Nein, danke.« Zu Hellers Magenschmerzen kam nun auch noch sein schlechtes Gewissen gegenüber Karin dazu. Hätte er nicht fragen müssen, ob er für seine Frau etwas mitnehmen dürfte? Hätte er es vielleicht einfach tun sollen? Einfach etwas einstecken, in die Manteltaschen?
»Ich möchte den Leichnam von Major Berinow sehen.«
»Das habe ich bereits vorbereitet. Ich erhielt einen Anruf. Wenn Sie mir folgen wollen.«
Der Arzt ging voran, Heller schulterte den Rucksack und folgte ihm. Hier im Kasernentrakt war es kühl. Es roch stark nach Äther. Die glänzenden weißen Fliesen an den Wänden, die hohen Mauern und der glatte Steinholzfußboden waren noch Hinterlassenschaften des alten kaiserlichen Militärs und das Hallen ihrer Schritte weckte bei Heller unerwartet Erinnerungen an die Zeit, als er hier die herabwürdigende Musterung durch die Ärzte des Grenadierregiments über sich ergehen lassen musste.
»Dort.« Der Arzt öffnete die Tür zu einem großen, sehr kühlen und nüchternen Untersuchungsraum. Die Leichname lagen auf zwei normalen Behandlungsliegen und waren mit weißen Laken abgedeckt. Beinah gelangweilt trat der junge Arzt an eine der Liegen und schlug das Tuch zurück.
»Berinow.«
Heller stellte den Rucksack ab und kam langsam näher. »Darf ich Licht machen?«, fragte er. Der Geruch von Äther war so aufdringlich, dass ihm fast übel davon wurde.
»Bitte, dort neben Ihnen.«
Heller schaltete die Deckenleuchte an. Sie gab nur ein schwaches Licht ab. »Verzeihen Sie, ich habe vorhin Ihren Namen nicht verstanden.«
Der junge Mann seufzte. »Kasraschwili, Lado Kasraschwili, Kapitan, Hauptmann würden Sie sagen.«
»Ist das ein georgischer Name?« Kasraschwili kam Heller bekannt vor, doch im Moment wusste er den Namen nicht einzuordnen.
»Ich bin Georgier. Wollen Sie jetzt schauen?«
Heller überlegte noch kurz; er war sich sicher, keinen einzigen Georgier zu kennen.
Dann konzentrierte er sich auf den Leichnam. Der Tote trug noch seine Uniform. Die Schultern der Jacke waren voller Blut, unterhalb davon war die Uniform beinahe sauber. Dagegen war der Kopf des Toten völlig blutverkrustet, die Haare durchtränkt und von geronnenem Blut ganz steif. Das Gesicht hatte man ihm allerdings gewaschen, wahrscheinlich, um ihn zu identifizieren. Die Nasenlöcher jedoch waren vom Blut verschlossen, selbst die Augen waren völlig verklebt.
»Hat man ihn an den Füßen aufgehängt?«, fragte Kasraschwili.
Heller sah ihn erstaunt an, offenbar hatte sich der Mediziner nicht darüber informiert, was geschehen war.
»Man fand ihn kopfüber an einem Hang liegend. Gleich hier, zweihundert Meter zur Elbe hin.«
Heller versuchte den Kopf des Toten zur Seite zu drehen. Es gelang ihm nicht, der Körper war zu steif. Geronnenes Blut rieselte wie feiner Staub durch seine Finger, bröselte von Hals und Ohr des Toten. Dann packte er den Kragen der schweren Jacke und musste daran zerren, damit er sich vom Hals löste. Unzufrieden mit dem Ergebnis, begann er den Oberkörper des Toten zu entkleiden. Dabei geriet er ins Schwitzen. Die von der Totenstarre steifen Arme Berinows erschwerten die Arbeit. Der Arzt, der Hellers Bemühen vom Fußende der Liege aus beobachtete, rührte keinen Finger, bot ihm nicht einmal eine Kleiderschere an. Und Heller wollte ihn auch nicht um Hilfe bitten, denn man wusste nie, ob man dabei die Sowjets in ihrem Stolz verletzte.
Schließlich gelang es ihm, die Arme des Toten aus den beiden Jacken und dem Pullover zu ziehen. Anschließend zerrte er den Pullover über den Kopf des Toten. Das Unterhemd streifte er kurzerhand über die Schultern nach unten. Nun lag der Oberkörper des Toten frei und Heller betrachtete ihn eingehend. Der Offizier war gut genährt und zeigte keinerlei Mangelerscheinungen. Eine Narbe deutete auf eine ältere Verletzung im Brustbereich hin. Ein winziges rotes Mal auf dem linken Oberarm erregte Hellers Aufmerksamkeit.
»Sieht aus wie der Einstich einer Injektionsnadel.« Er deutete auf die Stelle.
»Die Angehörigen der Roten Armee werden regelmäßig gegen Typhus geimpft«, erklärte der Arzt mit monotoner Stimme.
Heller musste mit Schrecken an die Typhusimpfungen denken, die noch 1945 für jeden Deutschen angeordnet worden waren. Die Kanüle der Spritze schien für Pferde gedacht zu sein. Der Schmerz des Einstichs war nicht einmal das Schlimmste gewesen, sondern das Kreischen der geimpften Kinder, das für regelrechte Panik unter den Wartenden gesorgt hatte.
»Können Sie das nachprüfen, gibt es einen Impfnachweis?«
Kasraschwili sog hörbar die Luft durch die Nase und sah Heller über seine Brille an. Es war klar: Er würde nichts nachprüfen.
»Ich würde gern den Hals etwas säubern, dazu bräuchte ich Wasser und ein Tuch.« Heller sah den Georgier an. Er wusste, dass er die Geduld des Mannes strapazierte. Das war leider nicht zu vermeiden.
Dieser zögerte einen Augenblick, als müsse er erst überlegen, ob ihm diese Arbeit angemessen erschien.
»Ich hole es auch selbst«, bot Heller schnell an.
»Nein, bleiben Sie!« Kasraschwili verließ abrupt den Raum. Heller fragte sich, ob sich in den Schränken hier nicht auch ein Tuch und eine Schüssel gefunden hätten. Doch er wagte nicht, selbst zu suchen oder irgendetwas anzufassen. Er wollte den Arzt nicht noch unnötig verärgern.
Schon kurz darauf war der Mann wieder zurück und hatte einen Blecheimer und einen Lappen bei sich. Heller bedankte sich, krempelte seine Mantelärmel hoch und begann, den Hals des Toten abzuwaschen. Dabei legte er zwei Wunden frei, eine rechts, eine links. Kasraschwili sah ihm reglos dabei zu.
»Sehen Sie, ein glatter Durchstich.« Heller ging näher heran und betrachtete die Wunden. Das waren keine Einschnitte von einem Messer. Vielmehr handelte es sich um kleine Löcher, die die Form eines vierzackigen Sterns hatten. Das größere der beiden befand sich auf der linken Seite des Halses, das kleinere auf der gegenüberliegenden Seite. Die Waffe hatte vermutlich beide Schlagadern durchtrennt und einen regelrechten Blutsturz ausgelöst. Berinow musste innerhalb von Sekunden verblutet sein.
Heller trat ein paar Schritte zurück und bat Kasraschwili mit einer Handbewegung, sich die Verletzung näher anzusehen.
»Wie es scheint, ist die Waffe durch die Arteria carotis communis auf der linken Seite eingedrungen und durch dieselbe auf der rechten Seite knapp über dem Schlüsselbein ausgetreten«, schlussfolgerte der Arzt. »Sehen Sie hinter dem Ohr die Verletzung? Wahrscheinlich traf der Täter beim ersten Versuch den Hals nicht, die Spitze der Waffe prallte am Schädelknochen ab.«
Heller betrachtete die Einstichstellen. »Ich kenne diese Art von Wunden«, sagte er. Dann deutete er auf den anderen Leichnam. »Ist das Cherin?«
Kasraschwili nickte, ging zu dem anderen Toten und zog das Tuch weg. Vassili Cherin war vollkommen nackt und sah nicht so aus, als ob er schon seit vier Tagen tot war. Als Heller ihn berührte, stellte er fest, dass der Leichnam durchgefroren war.
Heller beugte sich über den Toten...
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