Kapitel 1
Glacier Nationalpark, Montana
»Pst, sieh mal«, zischte Olivia.
Nikki stellte den Stapel Postkarten in den Drehständer auf der Theke, bevor sie ihrer Kollegin einen fragenden Blick zuwarf.
»Da kommt Aquaman.« Olivia nickte grinsend in Richtung Eingang.
Soeben stieß ein Mann die Glastür des Besucherzentrums auf, betrat den Raum und steuerte auf den Tresen zu. Der Regen, der seit dem frühen Morgen unablässig auf das Dach trommelte, hatte ganze Arbeit geleistet. Sein langes Haar lag angeklatscht an seinem Kopf, Wassertropfen hingen in seinem Bart, und das T-Shirt klebte ihm wie eine zweite Haut am Körper. Einem perfekten Körper, wie Nikki mit Kennerblick feststellte. Breite Schultern, schlanke Taille, schmale Hüften. Seinen linken Bizeps zierte ein schwarzes Tribal, dessen verschlungene Linien unter dem Ärmel seines Shirts verschwanden. Olivia hatte recht, er sah aus wie Jason Momoa in seiner Rolle als Arthur Curry in Aquaman, und das nicht nur, weil er nass war. Er bewegte sich ebenso geschmeidig und besaß den gleichen raubtierhaften Blick wie der Schauspieler.
Nikki brachte sich in Positur und knipste dieses spezielle Lächeln an, das sie für besonders attraktive Männer reserviert hatte. »Herzlich willkommen im Glacier Nationalpark. Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.
Der Fremde schaute sie aus goldbraunen Augen an. »Guten Tag.«
Sie erwiderte seinen Gruß. »Miserables Wetter haben Sie sich ausgesucht, um den Park zu erkunden.«
»Das bisschen Wasser?« Grinsend schob er sich eine nasse Strähne aus der Stirn. »Aber ich bin nicht hier, um den Park zu sehen. Ich habe einen Termin mit Mr. Mercer. Können Sie mir sagen, wo ich ihn finde?«
»Sie meinen Arnaud Mercier?« Nikki sprach den Namen französisch aus. Ihr Boss stammte aus Quebec.
»Ja.«
»Mr. Merciers Büro liegt auf der Rückseite des Besucherzentrums.« Sie betrachtete Aquaman neugierig. »Hatten Sie eine Panne?«
»Wieso?«
»Weil Sie komplett durchgeweicht sind.«
Seine Mundwinkel hoben sich amüsiert. »Ich bin mit dem Motorrad gekommen.«
Von Regenkleidung hatte er anscheinend noch nie etwas gehört. Jetzt fiel ihr auch die Lederjacke auf, die er in einer Hand hielt und die ebenso munter den Boden nass tropfte wie ihr Besitzer. »Was wollen Sie denn von Mr. Mercier?«
»Ich habe einen Termin mit ihm, für ein Vorstellungsgespräch.«
»In dem Zustand?« Mit einer Geste umfasste Nikki seine Gestalt.
»Deutliche Worte«, erwiderte er lachend.
Der volltönende, sinnliche Laut versetzte ihre Nerven in Schwingungen.
»Mein Äußeres passt zum Job, oder etwa nicht?«
Sie stützte die Ellenbogen auf die Theke, beugte sich zu ihm und musterte ihn von oben bis unten. »Um welche Art Job handelt es sich denn?«, fragte sie mit einem sinnlichen Augenaufschlag.
»Ich bin Parkranger.«
»Dazu passt Ihr Äußeres tatsächlich. Ein echter Naturbursche.« Sie richtete sich auf. »Dann kommen Sie bitte mit, Mr. .«
»Jared Kane«, stellte er sich vor. »Und Sie sind Nikki.« Sein Blick heftete sich auf ihre Bluse, an der ihr Namensschild befestigt war.
»Richtig. Nikki Patton.« Spontan streckte sie ihm die Hand hin. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Mich auch.« Sein Händedruck war zupackend und vermittelte eine Ahnung von der Kraft, die in ihm steckte.
»Ich bringe Sie jetzt zu Mr. Mercier«, sagte sie irritiert. Es passierte ihr selten, dass ein Mann sie aus dem Takt brachte, doch bei ihm genügte diese harmlose Berührung.
Nikki schob sich an Olivia vorbei, die einem Touristen Informationsmaterial aushändigte, und bedeutete Mr. Kane, ihr zu folgen.
Sie verließen den Besucherbereich und gingen den Flur entlang, der am Aufenthaltsraum für das Personal vorbeiführte. Vor Arnauds Bürotür blieben sie stehen, Nikki klopfte an und öffnete. »Hey Boss, hier ist Mr. Kane zum Vorstellungsgespräch.«
Arnaud erhob sich und trat um seinen Schreibtisch herum. »Kommen Sie herein, Mr. Kane. Danke, Nikki.«
Jared Kane lächelte sie an, bevor er seine Aufmerksamkeit Arnaud zuwandte und dessen angebotene Hand schüttelte.
Nikki zog die Tür hinter sich ins Schloss, blieb im Flur stehen und stieß heftig den Atem aus. Dieser Jared Kane war echt ein Hottie!
»Heißer Typ«, empfing Olivia sie, als sie ins Besucherzentrum zurückkehrte.
Dass ihre Kollegin denselben Gedanken hegte, missfiel Nikki.
»Mhm, wohl eher ein nasser Typ«, sagte sie, da sie keine Lust verspürte, mit Olivia über Aquaman zu reden. Jared Kane hatte sie verwirrt, und sie brauchte ein wenig Zeit, um sich zu sortieren. In ihrem Leben waren viele Männer gekommen und wieder gegangen, eigentlich müsste sie maskulinen Reizen gegenüber abgebrühter sein.
Seit Nikki Judson Creek verlassen und die Stelle im Glacier Nationalpark angetreten hatte, war sie Single. Der Kerl, mit dem sie damals zusammen gewesen war, hatte sie von vorne bis hinten belogen. Sich ihre Naivität und ihre Kontakte zunutze gemacht, um seine heimtückischen Ziele zu verfolgen. Bei dem Gedanken an ihn kochte einmal mehr die Wut in ihr hoch und verdrängte die angenehme Stimmung, die sie seit Mr. Kanes Erscheinen verspürte.
Verärgert ging sie hinüber in den Souvenirbereich. Während sie die Bücher in den Regalen zurechtrückte und die T-Shirts auf der Kleiderstange zuerst nach Farben und dann nach Größen ordnete, versuchte sie, sich zu beruhigen.
Judson Creek war Vergangenheit. Sie hatte den Ort und seine Bewohner hinter sich gelassen, ihr Häuschen verkauft und einen Neuanfang gewagt. Bisher fühlte sie sich im Nationalpark wohl. Die Arbeit war abwechslungsreich, sie verstand sich gut mit den Kolleginnen und Kollegen aus ihrem Team, und das Leben inmitten der Natur gefiel ihr besser als erwartet. Mittlerweile verzichtete sie sogar auf Schminke und Nagellack und trug ihre Haare meistens zu einem praktischen Zopf zusammengefasst. Wenn ihr das vor ein paar Monaten jemand prophezeit hätte .
Eine Gruppe Kinder, begleitet von einer offensichtlich überforderten Aufsichtsperson, stürmte lärmend und lachend das Gebäude. Nikki eilte ihnen entgegen, um sie in ihrem Übermut ein wenig zu bremsen und ihr Interesse auf mehrere Schautafeln zu lenken, auf denen die im Nationalpark lebenden Tiere abgebildet waren.
Aufatmend lehnte sie sich gegen die Theke, als der Tourbus an der Haltestelle stoppte und die Rasselbande den Raum verließ.
»Verspürst du immer noch Lust auf Nachwuchs?«, neckte Olivia sie.
»Hast du ihre strahlenden Augen gesehen, als ich ihnen von den Bären und Berglöwen erzählt habe?«
»Mhm . Ich sehe nur das hier.« Olivia kam um den Tresen herum, bückte sich nach der Verpackung eines Schokoriegels, hob sie mit spitzen Fingern auf und warf sie in den Papierkorb.
»Waren wir als Kinder nicht auch so? Für alles Neue zu begeistern, das .«
»Nikki«, unterbrach Arnaud sie, der soeben in Jared Kanes Begleitung den Raum betrat.
»Ja?«
»Kannst du mit Jared bitte in ein paar Minuten zu den Unterkünften fahren und ihn herumführen? Ich will ihm nur noch rasch seine neuen Kollegen im Besucherzentrum vorstellen.«
»Geht klar.« Sie sah Jared an. »Folglich hat es mit dem Job geklappt?«
»Yep.«
»Herzlichen Glückwunsch und willkommen im Team.«
»Danke.«
»Ihr kennt euch ja schon«, mischte sich Arnaud ein und wandte sich Olivia zu. »Das ist Olivia Harris. Wir sprechen uns hier alle mit den Vornamen an.«
Jared schüttelte ihr die Hand und wechselte einige Worte mit ihr, bevor Arnaud ihn in den kleinen Filmsaal führte, in dem halbstündlich eine Dokumentation über den Nationalpark gezeigt wurde.
»Wow«, raunte Olivia, sobald die beiden verschwunden waren, und strich sich fahrig durchs Haar. »Das nenne ich einen Volltreffer.«
»Es muss sich erst zeigen, was er draufhat.«
»Seit wann bist du so skeptisch? In einer Rangeruniform wird er eine klasse Figur machen.«
»Ach, und darauf kommt es an?«
»Auch. Wenn es sich herumspricht, was für heiße Ranger wir hier haben .«
»Unsere Besucher interessieren sich mehr für die Natur und die wilden Tiere als für einen langhaarigen Bartträger, der ohne Regenkleidung Motorrad fährt.«
Olivia schnaubte. »Du hörst dich an wie meine Großmutter. Was stört dich an ihm?«
Ja, was störte sie an diesem gut aussehenden, freundlichen Typen? Nikki zuckte mit den Schultern. »Ich hole meine Sachen«, beendete sie das Thema.
»Etwas mehr Begeisterung bitte, Miss Patton. Schließlich hast du das große Los gezogen und...