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In der je nach Sirenenlautstärke des Krisenalarms auf- und abflammenden Debatte über abendländische, christliche, fundamentale und humanistische Werte gähnt ein signifikantes schwarzes Loch. Von Geld ist nicht die Rede.
Das ist ein starker Indikator für die These, dass das siebte Gebot der Christen »Du sollst nicht stehlen« das Gebot ist, das am häufigsten gebrochen wird, häufiger noch als die, die Töten, Ehebrechen und sogar Lügen verbieten. Fast alle Religionen der Welt, nicht nur die monotheistischen, respektieren das Eigentum und lehnen Geldgeschäfte und erst recht Wucher ab. Über Jahrhunderte galt bereits das Anfassen von Geld als unehrenhaft.
Wenn man unter Diebstahl nicht die durch diverse Paragraphen des Strafgesetzbuches und der Zivilgesetze definierten Eigentumsdelikte versteht, sondern die Aneignung von Gütern, die anderen Menschen gehören oder allen Menschen zustehen, ist Diebstahl ubiquitär. Denn er ist - so verstanden - die Grundlage unseres Wirtschaftens. Proudhons Satz »Eigentum ist Diebstahl« ist eine Volksweisheit. Ausgesprochen oder unausgesprochen wird sie geteilt von vermutet mehr als sieben Milliarden Menschen. Daran ändert auch nichts, dass beinahe alle, die dieser Ansicht sind, danach streben, Eigentum zu erwerben.
Karl Marx, der erkannt hatte, dass die Abschaffung des Eigentums durch Rückverteilung an alle, wie Proudhon es verstand, zum Ende jeden Fortschritts und Wirtschaftens führen würde, war nicht nur begeistert von der Produktivkraftentfesselung durch den Kapitalismus. Er setzte mit seiner Werttheorie allen Armen, Ausgebeuteten und Unterlegenen einen noch viel bissigeren Floh ins Ohr. Da der Arbeiter mehr Zeit arbeitet, als zu seiner Reproduktion (und der seiner Familie) notwendig ist, schafft er einen Mehrwert, den der Besitzer der Produktionsmittel sich aneignet. Diesen Mehrwert reinvestiert dieser hauptsächlich in neue Produktionsmittel (ein bisschen privater Luxus ist nebenbei immer drin), mit denen er noch mehr Mehrwert erzielen kann. Angeschissen ist der Arbeiter, der glaubt, er werde nach seiner Leistung bezahlt, tatsächlich aber mit dem wachsenden Mehrwert nur die dingliche Macht seines Gegenübers, des Kapitals, vergrößert. Oder, wie Marx es formulierte: Kapital ist »vergegenständlichte Arbeit als Herrschaft, Kommando über lebendige Arbeit«. Ein »gerechter Lohn« ist in diesem System unvorstellbar, weil die Lohnsumme die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft nicht übersteigen kann. Marx' Folgerung: Kapitalismus schafft immer mehr Wohlstand und technischen sowie sonstigen Fortschritt. Aber Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit schafft er nicht. Sondern mehr Ungleichheit, Unterdrückung und Gewalt. Diesen Flohstachel, den Marx uns in Ohr gesetzt hat, hat der Kollaps der sozialistischen Staaten nach 1989 nicht ziehen können. Im Gegenteil, nach einer kurzen Phase des selbstgerechten Triumphalismus schrien Banken- und Schuldenkrise, Klimakollaps und Welthunger, um nur ein paar Phänomene zu nennen, geradezu nach Regulierung des Marktes und staatlicher Kontrolle des »Rumpelkapitalismus«, wie er jüngst in der ZEIT genannt wurde.
Das Abstraktum »soziale Gleichheit« bildet noch weniger als das Abstraktum »Gerechtigkeit« den Punkt, über den Kriminalliteratur eine Perspektive konstruieren könnte. Es sind in der Regel von konkreten Menschen unter konkreten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen wahrgenommene Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die konkrete Taten auslösen. Verbrecherische, ungesetzliche, gerechtfertigte und bösartige Taten. Und doch haben die modernen kapitalistischen Staaten einen spezifischen Widerspruch geschaffen: Wirtschaften ist ohne einen sanktionsbewehrten rechtlichen Rahmen erschwert, Markt und Konkurrenz müssen im Interesse aller Markt- und Konkurrenzteilnehmer reguliert werden. Wer gegen diesen Satz aus Regeln verstößt, begeht Wirtschaftsverbrechen, die juristisch verfolgt werden. Zugleich ist dieser Regelsatz wesentlicher Bestandteil des Wirtschaftssystems Kapitalismus, das - Zustimmung zu Marx' Werttheorie hin oder her - Ungleichheit und Ungerechtigkeit in großem Maßstab produziert. Das meint Brecht, wenn er seinem aufstrebenden Gangster Mackie Messer die Worte in den Mund legt. »Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Was ist die Ermordung eines Mannes gegen die Anstellung eines Mannes?«
Bestraft werden Einbruch, Raub und Mord. Kapitalistische Großverbrechen wie der hemmungslose Schwindel und die wahnhafte Zockerei mit Subprime-Hypotheken, die zur Finanzkrise 2008 geführt haben mit Firmenzusammenbrüchen, Obdach- und Arbeitslosigkeit, Selbstmorden und massenhaften Körperverletzungen in Form von Erkrankungen bleiben unsanktioniert. Wie Michael Lewis in seinem (2015 von Adam McKay fabelhaft verfilmten) Sachbuch The Big Short resümiert, wurde unter all den Schwindlern und Betrügern an den Schaltstellen der Investmentbanken, Ratingagenturen und Versicherungen ein einziger (!) Banker zu Gefängnis verurteilt.
Kriminalliteratur, die sich über den Unterhaltungsauftrag hinaus ernst nimmt, operiert erzählerisch in dem ungesicherten und erst durch die Fiktion wahrhaft zu vermessenden Kräftefeld zwischen Legalität und Legitimität. Diese Strukturähnlichkeit mit der »Marktwirtschaft« macht sie zum kapitalistischsten aller literarischen Genres.
Trotzdem gibt es relativ wenige gute Kriminalromane, die von Wirtschaftsverbrechen handeln und in denen Wirtschaftsverbrecher im Zentrum stehen. Das hat weniger mit der oft sehr schwierigen Aufdeckung solcher Fälle zu tun. Vielmehr ist der Wirtschaftsverbrecher ein eher fleischloser Protagonist. Seine Handlungen finden in einem sehr abstrakten Raum statt, dessen Sprache nur von wenigen verstanden wird. Daher ist Bitte keine Rosen mehr von Eric Ambler unter anderem deshalb einer der besten bisher erschienenen Romane über moderne Wirtschaftsverbrecher, weil er darin nicht nur den genialen Steuerhinterzieher und Betrüger Firman in eine schwindelerregende Verfolgungsjagd verwickelt, sondern diesen »kompetenten Kriminellen« in den aufgeblasenen Analysen eines Kriminologen gleichzeitig als Trugbild dekonstruiert. Zur Macht der Finanzwelt gehört die Geheimsprache ihrer Verschleierung. Hier ist das Verhältnis zur »Wirklichkeit« ähnlich wie die des Spionageromans zur Welt der Geheimdienste: Nur in der Fiktion werden wir der verborgenen Mechanismen gewahr.
Ein Kriminalroman, der in der heutigen Finanzwelt spielt, adaptiert eines der ältesten Muster der Kriminalerzählung. Er wird zwangsläufig ethnographisch. So wie 1843 Eugène Sue seine Geheimnisse von Paris unter anderem als soziologische Entdeckungsfahrt in eine Unterweltgesellschaft des Verbrechens deklariert, müsste ein Roman aus der Finanzwelt seine Leser mit den Sitten, Kleidungs- und Essgewohnheiten sowie der Sprache seines Personals (CDO, Credit Fault Swap, Derivate usw.) vertraut machen, was den Fortschritt der Handlung doch stark bremsen kann. Der große Ross Thomas meinte einmal auf die Frage, warum er nie einen Finanzwelt-Thriller geschrieben habe, so etwas sei ihm zu umständlich und für den Leser wegen der notwendigen Details zu langweilig. Obwohl er mit Lebensmittelspekulationen doch einiges anfangen konnte, wie sein Roman Fette Ernte (1975) zeigt.
Anyway, Amblers Roman markiert nicht nur einen Höhepunkt der literarischen Darstellung. Er wurde 1977 just zu der Zeit veröffentlicht, als auf internationaler Ebene ernsthafte Anstrengungen unternommen wurden, die internationalen Straftatbestände von Wirtschaftsverbrechen justiziabel zu formulieren. Bis dahin waren Wirtschaftsverbrechen, die die Unterschiede zwischen den nationalen Gesetzgebungen ausnutzten, noch weniger als Tatsache bekannt als die amerikanische Mafia dem FBI unter J. Edgar Hoover.
Geld ist in den meisten Kriminalromanen wie im wirklichen Leben eher Mittel als Zweck. Armut, also der existenzielle Mangel an Geld und Lebensmitteln, ist zwar eine der Hauptursachen von Kriminalität. Aber die Kriminalliteratur widmet sich selten dem kollektiven Kampf gegen sie, sondern eher dem Kampf Einzelner zur Beseitigung ihrer persönlichen Armut.
Fast ebenso aufwendige Überlegungen wie über den voraussichtlichen Zusammenbruch des Kapitalismus hat Marx darüber angestellt, wie das erste Kapital eigentlich entstanden ist. Er nannte diesen Prozess, der mehrere Jahrhunderte umfasste, die »ursprüngliche Akkumulation«. Sie bestand im Wesentlichen in den Prozessen, die auch heute noch in den Strafgesetzbüchern der Welt als »Kapitalverbrechen« geahndet werden: Menschenraub, Völkermord, Versklavung, Sklavenhandel, Massenmord, gewaltsame Vertreibung, Enteignung, Raub, Körperverletzung, Totschlag, Erpressung, Entführung.
Die »ursprüngliche Akkumulation« ist nicht abgeschlossen. Im Gegenteil: Sie findet allerorten statt. Überall dort, wo - legal oder illegal ist scheißegal - mit physischer oder struktureller Gewalt materielle, natürliche und menschliche Ressourcen erschlossen oder umverteilt werden. Die Bildung eines Drogenkartells, eine antikoloniale Revolution mit Staatenbildung, Landgrabbing durch Agrarmonopolisten, organisierte Kriminalität - alles Formen ursprünglicher Akkumulation. Mit dem Unterschied, dass einige illegal sind, andere nicht. Aber ob Mafioso oder Heuschrecke, sie haben immer das Ziel, Teil oder wieder Teil des »normalen«, regelsanktionierten Kapitalismus zu werden. Denn nur dort können sie verfolgungsfrei die Früchte ihrer Raubzüge genießen.
Insofern ist der Sozialreformer und Frühsozialist Proudhon auf alle Fälle ein Theoretiker der Kriminalliteratur: Hier beruht...
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