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Eine Stunde bevor Marisol starb, hielt der Mann, mit dem sie eine flüchtige Affäre hatte, vor seiner Wohnungstür inne. Josef Hadersucht, achtundvierzig, Polizeibeamter mit gesichertem Einkommen und einer bemerkenswerten Quote aufgeklärter Fälle, litt unter Einsamkeit. Die Schuld daran gab er seiner Ex-Frau Gabriele, oder vielmehr dem Moment, der sie zur Ex-Frau gemacht hatte. Bei der Trennung, die so unerwartet wie traumatisch über ihn hereingebrochen war. Um dem zermürbenden Gefühl des Alleinseins zu entgehen, nahm er die Nähe von Menschenansammlungen in Kauf, die er vor ihrem Weggang gemieden hatte. Selbst an einem kalten, regnerischen Abend wie diesem war ihm die eigene Wohnung ein Graus. Die Ödnis seines Daseins drängte ihn auf die Straße. Draußen im Humboldthain ging die Straßenbeleuchtung an. Hadersucht band sich den Kaschmirschal um und tigerte zur S-Bahn-Station, fuhr einsam und verlassen Richtung Alexanderplatz. Dort wartete das Oktoberfest, drei Wochen Dauerbespaßung nach Vorbild der Münchener Wiesn. Bier, Grillfleisch, Humtata. Das grauschwarze Haar klatschnass vom Regen, tauchte Josef Hadersucht um Viertel nach sieben im Gewühl des Alexanderplatzes unter. Von den Buden zog der Geruch nach Kandis und gebrannten Mandeln herüber. In Holzblockhütten verkauften Kunsthandwerker ihren Kram, nebenan wurde Bier ausgeschenkt. Das Gefühl der Verlassenheit wich in der Menschenmenge keinen Schritt. Josef wischte sich Regenwasser vom grauen Mantel, den ihm Gabriele geschenkt hatte. War es zum Geburtstag gewesen oder zu Weihnachten? Er hatte es vergessen. Mehr als ein Jahr war das mit der Trennung jetzt her, doch es kam ihm vor wie gestern. Alles in ihm weigerte sich zu akzeptieren, dass sie nicht wieder zu ihm zurückkehren würde. Das Klärungsgespräch hatte er verpatzt, wer sonst? Es war die reine Qual gewesen. Nichts als eine Auflistung seiner Fehler, für die er selbst blind war. Gabriele hatte die Scheidungspapiere daraufhin mit derart ausdrucksloser Miene unterschrieben, als wäre jedes Gefühl in ihr abgestorben. Und das nach siebzehn Jahren Ehe. Die meisten davon glücklich, wie er fand. Gabriele behandelte ihn wie Luft, meldete sich höchstens, wenn sie etwas haben wollte, das sie in der ehelichen Wohnung vergessen hatte. Sie war nun schon lange ausgezogen, und Josef hauste allein. Er ließ die Heizung in jedem Zimmer laufen, als könnte ihm dies die Wärme zurückbringen, die mit Gabriele gegangen war. »Du haust hier wie ein Penner, der es warm hat«, hatte seine Tochter Annika einmal zu ihm gesagt. Woraufhin er sie mit Leidensmiene ansah, nach Verständnis heischend. Zu viel verlangt von einer neunzehnjährigen Rebellin.
Ein kalter, klarer Wind wehte Sprühregen durch die Buden. Vor ihm naschte ein Bengel an einem Paradiesapfel, sein Gesicht vom Zuckerguss rot verschmiert. Josef feixte belustigt, der Junge grinste zurück, die Mutter bemerkte es und zog den Kleinen fort. Josef verbarg sein Gesicht im Mantelkragen, als sei an den Verdächtigungen der Helikoptermutter etwas dran. Er kam sich vor wie ein alter Strolch. Dachte an das Bild, das er abgab, und dann an seine volljährige Tochter. Er war untröstlich. Sie fehlte ihm ebenso wie Gabriele. Sein Sozialleben war in sich zusammengestürzt, als sie sich eine eigene Wohnung gesucht hatte. Josef begann nur widerwillig, mit sich selbst über sein Leben ins Gericht zu gehen. Lieber lenkte er sich ab. War er all die Jahre zu eigensinnig gewesen? Hatte er zu wenig zugehört? War er zu weich? Aus seiner Sicht hatte er alles gegeben. Für die Familie. Für den Job. Hatte Extrastunden gemacht, die von Gabriele angestrebte Beförderung bekommen, hatte auf Fußball und Bowling verzichtet. Beschlichen ihn nächtens solche Gedanken, haderte er mit sich selbst und fühlte sich hilflos wie ein Neugeborenes. Das musste sich ändern. Nur wie?
Vorerst ließ er sich buchstäblich durch die Menschen treiben, verschaffte sich durch seine Größe Platz, erntete bei Körperkontakt strafende Blicke. Ein Quarkbällchen bei der Weltzeituhr linderte den Hunger, der ihn im Gegensatz zu seinen Frauen nie verließ. Bei den Fahrgeschäften fiel ihm auf, wie sorglos die Menschen waren. Gaben sich dem schlichten Kirmesvergnügen ohne nachzudenken hin. Fanfarenhaftes Aufjaulen aus Richtung Autoscooter, grelle Lichter, regennasse Aufbauten. Für einen Moment glaubte er, im Gedrängel Gabriele zu sehen. Jede Geste eine Provokation, jedes Wort Grund für einen Streit. Das Ende der Beziehung war Schock und Erleichterung zugleich. Er war nicht tot, auch wenn es sich so anfühlte. Sinnlose Gedanken voller Schmerz. Die Frau im Mantel sah ihr nur ähnlich. Sich den Gefühlen zu stellen, die auf ihn einhämmerten, erschien ihm ein Ding der Unmöglichkeit. Er schnäuzte sich kräftig und steuerte den Losverkäufer an, der ihm einen zugedeckten Eimer hinhielt. Der hat doch nicht wirklich was gelernt, hätte Gabriele gesagt. Der Wind wehte dem Budenbesitzer Regen ins Gesicht, was dieser stoisch zur Kenntnis nahm. Hadersucht zog drei Nieten und wäre deswegen am liebsten in Rage geraten. Doch er erntete nur bedauerndes Schulterzucken sowie im Hintergrund die mikrofonverstärkte Ansage »Gewinne, Gewinne, Gewinne«.
Das Motodrom verhieß eine Viertelstunde Ablenkung. Ohrenbetäubender Lärm, Benzingeruch. Dicht an dicht rollten vier Motorradakrobaten durch den hölzernen Kessel. Freihändig, mit verdeckten Augen, zu dritt an der Steilwand. Dröhnender Applaus der Umstehenden und draußen eine Art Interview durch den Chef. Ob man zufrieden sei. Wenn ja, dann wäre ein Like auf Facebook nett. So was in echt und für Autos, das würde mir besser gefallen, dachte er deprimiert. Ein Autodrom, das hätte was.
Ein Blick auf die Armbanduhr. Viertel nach acht. Hadersucht steuerte die U-Bahn-Station Alexanderplatz an. Stand an der U8 eingekeilt zwischen einer parfümierten Frau und einem bärtigen Jüngling mit Trolley und dicken Kopfhörern. Etwa eine halbe Stunde später verließ er an der Station Osloer Straße die U-Bahn. Es goss wie aus Eimern. Im Laufschritt durch den Regen, und zwei Straßenecken weiter kam er atemlos an. Ooops! - der Genießerclub. Der Wolkenbruch war vorbei, in den Pfützen vor dem dreistöckigen Gebäude spiegelte sich der Schriftzug. Das Etablissement lag hinter einer schmutzigen Fassade am Ende einer Sackgasse. Im Haus daneben alles dunkel, abendlich verwaiste Büros. Rechts weitläufig der Abstellplatz eines Autohändlers. Im ersten Monat der Trennung war es ihm gelungen, den Drang nach schnellem Sex zu unterdrücken. Dann lief alles auf Befehl von ganz unten. One-Night-Stands, flüchtige Affären mit bitterem Ausgang, danach erstmals käuflicher Sex. Um zu vergessen. Um sich nicht einsam zu fühlen, wenn auch nur für ein paar Minuten.
Hadersucht trat durch milchige Plastikvorhänge und war in einer anderen Welt. Eine übertrieben geschminkte Mittvierzigerin mit violettem Lidschatten und blondem, an den Spitzen lila auslaufendem Haar winkte von der Bar. Jackie Scholl, die Wirtschafterin des Ooops!. Hadersucht warf einen letzten Blick auf die Armbanduhr, es war Viertel vor neun. Dann reichte er Jackie die Uhr samt anderen Wertgegenständen über den Bartresen, nahm den Spindschlüssel in Empfang.
»Das ist der letzte, Josef.«
»Gutes Omen«, brummte er. Die Umkleide war unisex. Logisch. Warum getrennt umziehen, wenn man nebenan übereinander herfiel? Um die Ecke drehte sich eine Frau vorm Spind Zöpfe und hob das fleischfarbene Strumpfhosenknäuel auf, das ihr runtergefallen war.
»Bin gleich für dich da, Schatz.« Es klang teilnahmslos mit einer Prise Bitternis, denn das hier war Arbeit, kein Vergnügen.
Josef entkleidete sich, hing die vom Regen feuchten Klamotten auf Bügel und schloss den Spind ab. Dann band er sich ein Handtuch um, schlüpfte in die bereitstehenden Badeschuhe, duschte und ging aufs Klo. Im Badezimmer leuchtete eine Kerze, ein gescheiterter Versuch, so etwas wie Hygge zu erzeugen, wie es in der skandinavischen Variante der Gemütlichkeit ja neuerdings hieß. Die Waschmaschine rumpelte nebenan. Durch einen zur Vagina ausgemalten Durchgang kam er zur Bar. Am Tresen saß Alfred auf einem Hocker, ein weißhäutiger Hüne mit Pferdeschädel und schlechten Zähnen, der jede vorbeikommende Frau mit dem Spruch »Darf ich zum Tanz bitten?« ansprach. Josef grüßte kurz, lugte dann in den Aufenthaltsraum, in dem sich ein Dutzend Männer auf abgewetzten Sofas drängte. Handtuch um die Hüften gewickelt, starrten sie zu einer Wand hin, auf die ein Beamer FKK-Urlaubsbilder mit heißen Girls projizierte, von denen sich hier keine blicken ließ. Ein voller Aufenthaltsraum bedeutete, dass im Partyraum was nicht stimmte, das wusste Josef längst. Vor der Spielwiese, wie sie im Ooops! das Trumm von einem Bett nannten, sahen Männer einem jungen Paar beim Sex zu, das so mit sich selbst beschäftigt war, dass den Anstehenden die Hoffnung schwand, irgendwann mitmachen zu dürfen.
»Ich habe Jackie gefragt, ob ich die Hälfte vom Eintritt wiederkriege, wenn ich jetzt gehe. Rate mal, was die geantwortet hat.« Liam wartete Josefs Antwort nicht ab. »Die meinte, wenn du ins Kino gehst und dir der Film nicht gefällt, fragste ja auch nicht danach, ob du die Hälfte wiederkriegst.« Liam war ein rotgesichtiger Typ um die fünfzig, ein netter Kerl aus London, der als Autor eines längst eingestellten Rockmagazins in Berlin hängen geblieben war und sich als Stammgast, als sogenannter Stammi, ungern verarschen ließ. Liam machte den Mund auf, wenn ihm etwas nicht passte, im Gegensatz zu den älteren Deutschen wie Alfred, die auf keinen Fall auffallen wollten an einem Ort, der nicht den landläufigen Moralvorstellungen entsprach.
»Ich würde dir das Geld auch nicht...
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