Schweitzer Fachinformationen
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»Mann über Bord!«
Himmel, ausgerechnet heute, in der letzten Woche vor der Winterpause, musste dieses Desaster geschehen. Während seines langjährigen Dienstes war es nie vorgekommen, dass ein Fahrgast ins Wasser fiel. Wie auch? Die Reling war angemessen hoch. Wenn jemand über Bord gehen wollte, hätte er sich weit hinauslehnen oder auf eine der Bänke steigen müssen, die sich im Außenbereich des Schiffs befanden. Wie hatte es dazu kommen können? Fast keine Touristen an diesem diesigen Tag, ein paar Fahrgäste, die ab Beckenried zugestiegen waren, ansonsten war nicht viel los.
Kapitän Matthias Stadelmann stand auf der Brücke, als ihn die Nachricht erreichte. Sofort nahm er Kontakt mit der Maschinistin auf und befahl, die Fahrt zu drosseln. Der Wellengang an diesem windigen Herbsttag war außergewöhnlich. Matthias nahm sein Fernglas zur Hand und suchte das aufgewühlte Wasser ab, während die Schaufeln rückwärts drehten und das Schiff allmählich zum Stillstand brachten. Falls jemand über Bord gegangen war, würde es heikel werden mit der Suche. Aber seine Leute wussten, was zu tun war. Hoffte er.
Auf dem Oberdeck herrschte Hektik. Matthias' nautische Besatzung rannte von der Steuer- zur Backbordseite, schaute vorne über den Bug und hinten über das Heck. Auch das Servicepersonal half bei der Suche.
Wie hatte das geschehen können? Zwar konnte er von der Brücke aus nicht jeden Winkel des Schiffs sehen. Aber unten gab es genug Personal, die ein Auge auf die Passagiere warfen.
Matthias beorderte seinen ersten Offizier, die Rettungsringe bereitzuhalten und das Rettungsboot hinunterzulassen, wenn es die Situation erforderte. Er ließ den Anker ausfahren, rief die Luzerner Seepolizei an und gab die Koordinaten durch.
Im Seebecken von Luzern war kaum mehr ein Boot unterwegs. Die Stadt wirkte düster aus dieser Perspektive, der Pilatus dahinter wie ein mächtiger schwarzer Fels, um den Wolken einen wilden Tanz vollführten. Am späten Nachmittag war stärkerer Wind aufgekommen. Die Sturmwarnung vor dem Verkehrshaus lief mit neunzig Intervallen pro Minute auf Hochtouren.
»Niemand in Sicht«, rief einer der Offiziere.
Matthias stieg von der Brücke. Seit bald fünfzehn Jahren war er Kapitän auf dem DS Schiller, einer alten Lady der Dampfschiffflotte auf dem Vierwaldstättersee. Am 21. Mai 1906 war sie von den Gebrüdern Sulzer in Winterthur fertig gebaut und in Luzern vom Stapel gelaufen. Nach der Renovation im April 2000 und mit der zweiten Jungfernfahrt hatte zehn Jahre später Matthias' Arbeit auf dem Innerschweizer Gewässer seinen Anfang genommen. Seither war er hier nicht mehr wegzudenken. Als gelernter Maschinenbauingenieur hatte er auf dem zweiten Bildungsweg den Beruf gefunden, der ihn erfüllte. Mit seinen sechzig Metern Länge, seiner Wasserverdrängung von 310 Tonnen ungeladen und seiner Geschwindigkeit von 27 km/h bei rund 45 Umdrehungen der Schaufelräder pro Minute gehörte das DS Schiller nicht zu den schnellsten Schiffen, aber war, so fand Matthias, das schönste, vermittelte es doch ein besonders nostalgisches Flair. Mit voller Auslastung bot es Platz für neunhundert Passagiere.
Auf dem Weg zum Oberdeck traf Matthias auf eine aufgebrachte Frau, die aus ihrer Panik keinen Hehl machte. »Mein Mann ist ins Wasser gestürzt. Tun Sie etwas! Ihre Leute stehen nur rum.«
Matthias versuchte, sie zu beruhigen. »Wir werden alles tun, um ihn zu bergen«, versprach er.
»Ich kann mir nicht erklären, wie das passieren konnte. Er sitzt im Rollstuhl. Dieser steht neben der Stelle, wo er runterfiel.«
»Wo genau ist das passiert?«
»Unten bei den Tauen.«
Matthias führte die Frau zu einer Bank. »Wir suchen nach ihm. Die Seepolizei ist unterwegs und wird bald eintreffen.« Er wog ab, was dringender war, bei der Suche nach dem Vermissten zu helfen oder sich der Frau anzunehmen. Sie war um die siebzig, wirkte jedoch nicht gebrechlich.
Matthias entschied sich für Letzteres. »Ich bin Kapitän Matthias Stadelmann.«
»Frau Villiger.« Sie setzte sich widerwillig hin. »Vielleicht hat man ihn über Bord gestoßen.«
»Haben Sie den Unfallhergang gesehen?«
»Den Unfallhergang?« Frau Villiger sah ihn entgeistert an. Ihre Stimme tönte hysterisch. »Das war kein Unfall. Da hat wer nachgeholfen. Wenn er es nicht überlebt, ist das Mord.«
Matthias ahnte, dieses Gespräch würde nicht leicht sein. Was die Frau jetzt brauchte, war eine seelsorgerische Hilfe, die er ihr nicht bieten konnte. »Okay, Sie haben also die Tat gesehen«, versuchte er es auf die einfühlsame Art, was ihm nicht gelingen wollte. Er war Schiffskapitän und kein Seelenklempner.
»Nein, ich sah nur den verlassenen Rollstuhl. Sepp kann nicht schwimmen. Wenn Sie ihn nicht sofort finden, wird er untergehen. Oder er ist es schon.«
»Matthias, kannst du mal kommen?« Die Stimme gehörte dem Ersten Offizier. »Die Seepolizei ist soeben eingetroffen.«
Matthias berührte sachte Frau Villigers Arm. »Haben Sie jemanden, an den Sie sich wenden können?«
»Nein, niemanden. Wie auch? Mein Mann und ich reisen immer allein.«
»Okay, ich werde eine der Serviceangestellten bitten, sich um Sie zu kümmern. Seien Sie unbesorgt .« Matthias wusste nicht, wie er die Frau hätte beruhigen können. Nun war eingetroffen, was er längst befürchtet hatte. Bislang war jedoch nie etwas Gravierendes geschehen. Bei hohem Wellengang, was hauptsächlich bei Föhnsturm auf dem Urnersee vorkam, schickte er die Passagiere vom Außendeck ins Innere, wo die Sicherheit absolut gewährleistet war. Aber er erinnerte sich an den Unfall vor einem Jahr, als ein Kind von einem Motorschiff ins Wasser gefallen war. Glücklicherweise hatte man es retten können.
»Suchen Sie meinen Mann. Er . hat Angst vor dem Wasser.« Frau Villiger faltete bittend die Hände. »Wir wollten bloß einen Ausflug machen, weil uns das DS Schiller empfohlen wurde.«
Matthias sandte seinem Offizier einen Hilfe suchenden Blick zu und erwartete irgendeine Bemerkung von ihm. Doch diese blieb aus. In seinem bisherigen Leben war er oft in dramatische Situationen geraten. Auch den Tod hatte er hautnah miterlebt, als sein Vater und kurz darauf seine Mutter wegen einer unheilbaren Krankheit starben. Das war Schicksal gewesen, worauf er keinen Einfluss nehmen konnte. Aber jetzt geschah etwas auf seinem Schiff, an seinem Arbeitsplatz, wo er als Kapitän die Verantwortung trug. Es war seine Pflicht, bei einem Notfall erst als Letzter das Schiff zu verlassen. Musste er jetzt als Erster ins Wasser springen, um den Verunfallten zu retten?
Er wandte sich wieder an Frau Villiger. »Kann ich Sie allein .?«
»Gehen Sie«, fiel sie ihm ins Wort. »Und lassen Sie mich in Ruhe. Mein Mann ist über neunzig. Aber das geht an Ihrem Allerwertesten vorbei, oder? Uns Alte will man abschieben. Alles schon erlebt. Es fällt nicht auf, wenn jemand von unserer Generation ertrinkt. Aber das wird ein Nachspiel haben, Sie können Gift darauf nehmen.«
Matthias drehte sich brüskiert um und folgte dem Offizier. Er würde jemandem vom Service holen.
Ein Beamter von der Seepolizei erwartete ihn im Schiller-Stübchen, dessen Wandverkleidung aus Zitronenholz mit Intarsien aus Perlmutt und Ebenholz einen besonderen Charme hatte.
»Glanzmann mein Name. Sie hatten einen Notfall gemeldet.« Er blieb stehen, während Matthias sich auf einen Stuhl fallen ließ. Er hätte ebenso stehen bleiben sollen, schaffte es aber nicht. Ertrinken, ging ihm durch den Kopf, ist eine der schlimmsten Todesursachen. Alles in ihm sträubte sich dagegen, seiner Vorstellungskraft freien Lauf zu lassen.
Es war ein langer Arbeitstag gewesen und Matthias hatte sich darauf gefreut, das DS Schiller in den sicheren Luzerner Hafen zu fahren. Davon musste er wohl absehen. Mann über Bord. Das war ein Albtraum, zumal er die Verantwortung trug.
»Der Notruf ging um 17.33 Uhr ein«, sagte Glanzmann. »Jetzt ist es 17.47. Wie lange dauerte es, bis Sie den Unfall entdeckten?«
»Ich stoppte das Schiff um 17.32, direkt nachdem mich die Nachricht erreicht hatte.«
»Sie selbst haben nichts gesehen?«
»Nein.«
»Wo befanden Sie sich zu der Zeit?« Glanzmann nahm das Schiller-Stübchen ins Visier, als suchte er nach Anzeichen dafür, dass Matthias hier eine Pause eingelegt und von dem Sturz nichts mitbekommen haben könnte.
»Auf der Brücke, wie immer, wenn ich im Dienst bin.«
»Aber zwischendurch müssen Sie auch mal für kleine Kapitäne, nicht wahr?«
Wollte er ihm etwas unterstellen?
»Ich befand mich auf meinem Posten.« Matthias blieb ruhig. Offenbar musste der Polizist diese penetranten Fragen stellen. Matthias hatte nie zuvor in seinem Leben näher mit den Ordnungshütern zu tun gehabt und war jetzt etwas überrascht. »Nach der Meldung stoppten die Maschinen.«
Nein, an Mord auf seinem Schiff wollte er nicht denken. Darauf hinaus lief aber alles.
»Jemand sagte mir, er habe den Mann, der jetzt vermisst wird, kurz vor dem Unglück in seinem Rollstuhl sitzen sehen. Wenn er über die Reling gefallen ist, muss das doch jemand beobachtet haben. Nun gut, ich bin hier fertig. Während man im Wasser nach ihm sucht, werde ich die wenigen Passagiere und die Besatzung befragen. Verstärkung ist unterwegs.« Glanzmann ging so unspektakulär, wie er gekommen war.
Matthias rief ihm hinterher. »Wann kann ich mit meinem Salon-Seitenrad-Dampfschiff in Luzern...
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