Schweitzer Fachinformationen
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2. Waldwachstum | ODER: WARUM WIR AUCH GUTES ABWERFEN MÜSSEN
Glücklich ist der Mensch, der weise und urteilsfähig geworden ist! Er hat mehr Gewinn davon als jemand, der Silber und Gold besitzt. Selbst die kostbarsten Perlen verblassen gegenüber dem Wert der Einsicht, sie übertrifft alles, was man sich erträumt.
König Salomo in Sprüche 3,13-15; Hfa
Erinnern Sie sich noch an die Verwandtenbesuche in Ihrer Kindheit? Die Tante hatte sich angekündigt, die Kaffeetafel war mit dem guten Geschirr gedeckt, der frische Erdbeerkuchen sah verlockend aus und das Erste, was die Tante sagte, als sie Sie erblickte, war: »Mensch, du bist aber groß geworden!« Wenn es ganz schlimm kam, wurde Ihnen vielleicht sogar noch in die Wange gekniffen.
»Du bist aber groß geworden!« Zumindest ich habe als Kind diese erstaunten Rufe von Verwandten und Besuchern sehr oft gehört: »Du bist aber gewachsen! So groß! Ein richtiger Junge bist du geworden!« Irgendwann hat es dann aufgehört. Heute höre ich nur selten: »Mensch, bist du alt geworden! So viele graue Haare! Immerhin hast du noch Haare!« Wir verändern uns - ob wir es wollen oder nicht. Aber in sehr vielen Bereichen - vor allem in Bezug auf unsere Persönlichkeit - haben wir einen großen Einfluss auf die Richtung und die Qualität der Veränderung.
Im Wald ticken zwei Uhren gleichzeitig: Neben der scheinbar von Zeit befreiten »Baumuhr«, die sehr langsam tickt, gibt es noch die »Vegetationsuhr«, deren Zeiger rasen. Gerade im Frühling verändert sich der Wald stündlich. Blätter und Zweige entstehen, jeder freie Millimeter wird gleich mehrfach belegt. Sogar die Bäume sind jetzt in Bewegung. Die frischen Triebe der Kiefer wandern mit der Tagessonne, um das Licht optimal zu nutzen. Morgens zeigen sie in den Osten, abends in den Westen. Dazwischen haben sie eine faszinierende Tagesreise unternommen. Diese Bewegungsfreiheit wird aber schon nach wenigen Wochen mit der Verholzung der Triebe aufhören - nun ist der Stand erreicht, der für Jahre beibehalten wird. Wohin mein Auge im Wald auch blickt: Wachstum und Erneuerung sind allgegenwärtig.
Doch nicht nur die Pflanzen folgen der »Baum- und Vegetationsuhr«, auch die Tiere sind im Wachstum - manche schneller, manche langsamer. Den Hirsch zum Beispiel, der auf dem Foto oben zu sehen ist, habe ich in einer beeindruckenden Kulisse getroffen: Der Farbe des Wassers nach könnte es in der Karibik sein. Aber es war in Deutschland - am Eibsee, im Schatten der Zugspitze. Ich konnte sehr nah an ihn herankommen. Er war noch jung und sein bescheidenes Geweih sah behaart und weich aus. Wenn man auf die prächtigen Geweihe der erwachsenen Hirsche schaut, könnte man annehmen, dass auch das Wachstum eines Hirschgeweihs eher der langsamen »Baumuhr« folgt und die Geweihe jährlich nur wenige Zentimeter zulegen. Immerhin besteht es aus Knochensubstanz und ist - anders als die Hörner der Rinder oder Schafe - innen nicht hohl, sondern ganz massiv. Ein großes Hirschgeweih kann gut und gerne 20 Kilogramm wiegen und eine Spanne von 2 Metern erreichen. Es besteht zu 30 bis 40 Prozent aus reinem Calcium. Der Aufbau und die Härte entsprechen somit den härtesten Knochen der Säugetiere: den Zähnen. Beeindruckend, oder? Aber richtig staunen muss man, wenn man die ganze Wahrheit erfährt. Die Geweihe wachsen nämlich nicht, wie vermutet, lebenslang Zentimeter um Zentimeter, sondern werden jährlich neu gebildet und dann wieder abgeworfen! Ein voll ausgebildetes Geweih schmückt nur wenige Monate im Jahr den Kopf eines Hirschs (männliches Rotwild) und wird im Winter abgeworfen, damit sich im Sommer ein neues, in der Regel prächtigeres entwickeln kann. Zudem können die Größe und Ausformung des Geweihs dem Fachmann mehr Hinweise zu der körperlichen Verfassung des Tieres als zu seinem Alter geben. Wie alt das Tier ist, kann man nur sehr grob schätzen, aber mit guten Nahrungsvorräten im Wald und guter körperlicher Verfassung wird sich das Geweih des Hirsches deutlich besser entwickeln, als wenn ihm der Wald nur unzureichend Nahrung bieten würde.
Was das Wachstumstempo in der Natur angeht, gehört ein Geweih mit bis zu 2 Zentimetern Zuwachs pro Tag zur Oberliga. Sogar die Pilze, die sprichwörtlich oft herangezogen werden, sind in der Regel nicht schneller. Der sich bildende Kopfschmuck des Hirsches ist von einer Haut umgeben, die von vielen Blutgefäßen durchzogen ist. Diese flauschige, wie Filz aussehende Schicht produziert die Knochensubstanz des Geweihs über seine gesamte Länge nach innen. Bei einem fertigen Geweih ist in Form von Längsrillen in der Knochensubstanz noch gut erkennbar, wo ehemals die Blutgefäße der nun abgeriebenen Haut verlaufen sind.
Ist das Geweih im Sommer schließlich vollständig ausgebildet, so wird es gefegt: Das Tier reibt es so lange an Bäumen und Sträuchern, bis die für die Herstellung verantwortlichen Zellen abfallen und der blanke Knochen zum Vorschein kommt. Bei dem Damhirsch auf dem Bild sind also nicht blutige Kampfspuren zu sehen, sondern das nicht vollständig gefegte Geweih. Durch die Pflanzensäfte der Bäume und Sträucher, die wie eine Art Imprägnierung wirken, erhält es seine dunkle Farbe. Dies ist auch einer der Punkte, warum die Hirsche und Böcke von den Waldbesitzern nicht gemocht werden: Beim Reiben der Geweihe an den jungen Bäumen zerstören sie diese oft. Und sie sind sehr wählerisch. Vor allem Laubbäume werden ausgesucht, und je seltener diese sind, desto lieber sind sie dem Hirsch. Wenn ein Waldbesitzer die wertvollen Jungpflanzen, die er mit viel Aufwand und Fürsorge für den Wald und die nächsten Generationen gepflanzt hat, zerstört sieht, wird er zu Recht traurig und oft wütend. Durch das Fehlen der großen Raubtiere wie Bär, Wolf und Luchs3 in unseren Wäldern ist ohne eine intensive Jagd kein Waldbau möglich. In dieser verzweifelten Lage helfen sich die Förster mit Zäunen - entweder werden ganze Flächen oder einzelne Pflanzen umzäunt.
Im Herbst, wenn die Blätter eine wunderschöne Färbung annehmen und die Nächte langsam kühler werden, beginnt die Zeit der Brunftkämpfe mit den Artgenossen. Nun stellt der Hirsch sein prächtiges Geweih stolz zur Schau, um die Weibchen und die Gegner gleichzeitig zu beeindrucken. Diese Kämpfe sind eine ernste Sache, denn es geht um viel. Sehr viel sogar. Der Gewinner erhält alles: Position, Revier und Weibchen. Der Verlierer dagegen muss sich zurückziehen und baut in der Folge meist auch körperlich ab. Gestern noch ein prächtiger Platzhirsch, morgen ein unwillkommener Streuner.
Es ist erstaunlich, welche kräftigen Stöße das Geweih bei dem Einsatz als Duellierwaffe aushalten kann und muss. Genau diese Tatsache hat sich sogar die Bionik-Forschung zunutze gemacht: Sie erforschte das Hirschgeweih und seine unglaubliche Stabilität und übertrug es auf die Entwicklung menschlicher Prothesen.4 Ein Lernen von der Natur.
Wenn schon die Geweihe der Hirsche beeindruckend sind, so sind es die Kämpfe erst recht. Dabei folgen sie immer einem sehr fairen Muster der Kraftmessung: Für die frontalen Stöße, denen Schiebeversuche folgen, werden in der Regel ausschließlich die Geweihe eingesetzt, nicht aber die starken Beine und kräftigen Zähne. Das Ganze ist zwar unblutig, aber sehr, sehr anstrengend. Da ist es nicht überraschend, dass der Hirsch versucht, den Kampf zu vermeiden, indem er mit seinem prächtigen Geweih imponiert. Er röhrt laut und zeigt seine körperliche Stärke -jeder darf ihn im Kampf herausfordern und prüfen, ob er wirklich der Stärkste ist. Aber besser noch: Der Gegner lässt sich abschrecken. So wird der Kampf gewonnen, bevor er überhaupt angefangen hat, und die Kräfte werden geschont.
Der Winter hat schon an seiner Strenge verloren, wenn für den Hirsch die Zeit gekommen ist, sein Geweih abzuwerfen: Alle Kämpfe sind ausgetragen und es ist nun nicht mehr vonnöten. Die Verbindungen zum Kopfknochen werden gelockert und beide Stangen, oft auch zeitlich etwas versetzt, abgestoßen. Man kann sie im Wald als sogenannte Abwurfstangen finden. Allerdings ist solch ein Fund eher selten. Gezielt danach zu suchen fast unmöglich. Hat man aber tatsächlich das große Glück, eine solche Stange zu finden, so sollte man mit dem Aufsammeln dennoch vorsichtig sein, denn sie stehen nach geltendem Recht dem Jagdpächter zu. Ein Verstoß dagegen kann als Wilderei sogar strafrechtliche Konsequenzen haben. Wo eine Stange liegt, wird die zweite meist nicht weit entfernt sein, denn je schwerer die Stangen sind, desto schneller möchte der Hirsch auch die zweite loswerden, um auf seinem Kopf wieder ein Gleichgewicht herzustellen.
Auch ich hatte schon mal während meines Praktikums in Niedersachsen wahres Finderglück. Ich durfte die schönen Stangen sogar behalten und sie schmücken seitdem unser Wohnzimmer. Im Unterschied zu einer Jagdtrophäe kann man bei ihnen sehen, dass sie auf natürliche Weise vom Kopf getrennt und nicht etwa am Schädel abgesägt worden sind. Bei genauem Hinsehen erkennt man eine unregelmäßige, leicht gewölbte Oberfläche der Anschlussstelle. Ein nützliches und nicht ganz unwichtiges Wissen. Ich muss immer noch schmunzeln, wenn ich daran zurückdenke, wie eine Besucherin sich mit einem Hinweis auf die Stangen weigerte, mit Teilen von toten Tieren in einem Raum zu sein. Ich konnte sie zum Glück beruhigen. Als sie die Geschichte des Hirschgeweihs gehört...
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