Fast alle diese Briefe würden der Bestimmung des Datums ermangeln, hätte nicht Kestner, der Geschäftsmann, den Tag des Empfangs meistens darauf bemerkt. Die Briefe, denen solche Bezeichnungen fehlen, wie insonderheit die Briefe an Hans, sind nach Wahrscheinlichkeit in die chronologische Reihe geordnet, und hiezu gab die edle Offenheit des Schreibenden, nach der Natur einer fortschreitenden Leidenschaft, den sichersten Maßstab: wie wir ihn anfangs, sich selbst verkennend, unstät von Ort zu Ort umhergetrieben sehen, so daß er es den Freunden in Friedberg zum Verdienste anrechnen konnte, ihn, "den Elenden," freundlich aufgenommen zu haben; wie ihm das literarische Treiben und Recensiren nicht hinreichte, und er die Besorgung von Kleinigkeiten für Freundinnen, zum Ableiter des unabweislich tyrannischen Gedankens, sich erbittet, und dabei mit kindlicher Sorgsamkeit ins Detail geht; wie wir den Scherz, der in großen Seelen, um dem Verdrusse Rast zu geben, nahe dem Unmuth, am nächsten der Verzweiflung ist, in seine trübste Stimmung zuweilen einen Sonnenstrahl werfen sehen; wie er dann, erheiternde Zerstreuung suchend, "liebesbedürftig," wie er es nennt, nach Träumen hascht, für den, der ihn betrogen hatte, und in jungen Mädchen seiner Bekanntschaft sich an Aehnlichkeiten mit der Entbehrten zu erholen sucht; wie ihm endlich, gleich allen tüchtigen Naturen, aus eigenen Mitteln die Arznei seiner Krankheit wird, und sein Genie nicht litt, daß die Leidenschaft, wenn gleich seine Existenz bedrohend, ihm zerstörend werden konnte, da er stets von neuen Schöpfungen von Innen sich bestürmt sah, bis er in dem großen Gedichte von seiner schönen Last sich vollends befreite.
In diesem allgemeinen, wie es uns scheint nothwendigen Gange seiner Stimmungen, haben wir die Briefe geordnet. In den gegen den Sommer 1773 geschriebenen begegnen wir einem wieder wachsenden Unmuth, so daß er, unter anderen, sich vorwirft "seine Zeit zu verderben," und hatte doch den Götz von Berlichingen schon geschrieben, und ging ohne Zweifel mit Plänen zum Werther um! Denn die Hochzeit der Freunde nahte heran, und ihre Abreise in die weite Ferne, die letzte Entwickelung dieser wichtigen Epoche seines Lebens. Doppelt reizbar in dieser Aufregung, glaubt er zum erstenmale Eifersucht in einem Briefe Kestners zu erblicken, und antwortet in einem Zorn, welcher die schönen Eindrücke unserer Briefe einen Augenblick unterbrechen könnte, wenn nicht die Beweise wechselseitig treuer Gesinnungen, die wir bei diesen Anlässen hervorgerufen sehen, uns sogleich wieder beruhigten. Der Zornbrief (Nr. 68), so feindlich einige Worte desselben lauten, reicht allein hin, um sowohl Goethe's Verhältniß zu dem Brautpaar, als seine durch einen vorübergehenden Ausbruch von Unmuth, den die Umstände wohl entschuldigen konnten, durchscheinenden wahren Gesinnungen zu erkennen. Er, der dem jungen Gatten mit Bitterkeit vorwarf, nach der Heirath von der Freundschaft abgefallen zu seyn, zeigt ihm, mitten unter den heftigsten Ausdrücken des Unwillens, im Tone der Erkenntlichkeit an, daß er durch Annchen, die Freundin, Lottens Brautstrauß erhalten, und sich damit geschmückt habe. Tief betrübt bei der letzten Entscheidung, trägt er so das Pfand seines Verlustes am Hute, für ihn eine Zier heroischer Tugend, und erläutert diesen Akt durch die noch edleren Worte: "Ich höre, Lotte soll noch schöner, lieber und besser seyn, als sonst." So sehr also erfüllt ihn die reinste Freundschaft, daß er seinen Schmerz vergißt über die Freude an ihrer Vortrefflichkeit, daß er ohne Haß seine Augen weidet an ihrem hohen Werthe, in demselben Moment, wo es zur Gewißheit wird, daß er sie entbehren soll. Gerührt hierdurch, eilte Kestner in zwei Briefen die Wunden des tobenden Freundes zu heilen. Diese Freunde konnten ihr gegenseitiges Wohlwollen nicht entbehren, und Goethe's Erwiederung zeigt, daß das Mißverständniß nur sechs Tage gewährt hat.
Liebenswürdiger waren zwei andere Momente seines Unwillens (Nr. 59 und 67), welche in diese Zeit fallen: das einemal betrübt es ihn, daß die Brautleute einen Anderen als ihn mit der Besorgung der Trauringe beauftragt, das anderemal, daß die Neuvermählten nicht auf seine Einladung nach Frankfurt kamen. Er traute sich zu, den Freund im Vollgenusse des Glücks sehen zu können, das er bitter entbehrte, während diesem sein Triumph, der den Freund schmerzte, nicht lieb war.
Am Palmsonntage 1773 ist die Hochzeit gewesen, und von dem Briefe Nr. 76, und weiter, gehen die Briefe an Kestner nach Hannover. Die Schlußzeilen dieses Briefes scheinen die psychologische Erfahrung zu bestätigen, daß die Einbildungskraft von dem geliebtesten Abwesenden nur vereinzelte Theile gibt, während sie von weniger theuren Menschen, und besonders von den Gleichgültigen, freigebig das ganze Bild vollendet vor die Augen führt.
Ueber ein Jahr später als diese Periode war es, als ein ernstlicheres Mißverständniß über den Werther entstand, welches den Gegenstand mehrerer Briefe ausmacht. Ein wunderbarer Zufall wollte, daß Kestner, den es drückte, sich und seine Lotte durch einen Anschein ihrer Personen in dieses Gedicht verflochten zu finden, gleichwohl selbst, ohne etwas zu ahnen, an dem Roman mit hat schreiben müssen. Jerusalem hatte bei einem der wenigen Besuche, die er jemals Kestner gemacht, ein Paar Pistolen an der Wand hängen sehen und diese zu seinem Selbstmorde von ihm geliehen, wovon die Folge war, daß Kestner, doppelt bestürzt durch die schreckliche That, als das Gerücht durch die Stadt lief, zu Jerusalems Hause hineilte, und nicht allein Zeuge der letzten Qualen des Unglücklichen war, sondern auch angeregt wurde, alle Thatsachen, die denselben betrafen, zu sammeln, und niedergeschrieben an Goethe zu schicken, wie die Freunde es wechselseitig gewohnt waren, seit Goethe's Flucht sich die Vorfälle des Tages in ununterbrochenem Briefwechsel mitzutheilen. Das Billet Jerusalems, fast wörtlich im Werther copirt, ist noch eben so urschriftlich vorhanden, wie es bei Nr. 28 als Fac simile sich in unsern Documenten befindet, und zwar, wie in der Abschrift durch eine Linie angedeutet, in zwei Theile gerissen, vermuthlich weil es im Augenblick des Empfangs den weggeworfenen Papieren hinzugefügt, erst nach dem schrecklichen Ereigniß, dem Empfänger merkwürdig geworden war. Gleichfalls noch jetzt in Urschrift vorhanden, sind Kestners "Nachrichten über den Tod Jerusalems" (Nr. 28), welche er gegen Ende Novembers 1772 Goethen nach Frankfurt schickte, und von diesem mit dem Briefe Nr. 47 gegen den 20. Januar 1773 zurückgeschickt wurden. Goethe irrt also, wenn er zu dieser frühen Zeit seines Lebens zurückblickend (Wahrheit und Dichtung, pag. 168 des 22. Bandes seiner sämmtlichen Werke) glaubt, er habe die Beschreibung von Jerusalems Tode erst später nach seiner Trennung von den Freunden erhalten. Seine selbstmörderischen Gedanken kommen auch nur in den früheren unserer Briefe vor, nicht aber in der Zeit der Herausgabe des Werther.
Wenn wir in unsern Papieren erkennen, wie hoch Lotte, Kestner und Goethe über den Personen stehen, die im Werther mit ihnen in Vergleich kommen, so tritt uns auf eine merkwürdige Weise das Verhältniß des Dichters zum Menschen vor Augen. Goethe fand, durch seine Stellung unter ihnen, noch höhern Anlaß, als jene, seinen Werth als Mensch erkennen zu lassen. Denn, daß ein Mädchen von dem glücklichsten Naturell und gediegener Erziehung, dem würdigsten Mann die seit Jahren befestigte Treue bewahrt; daß dieser Mann, mit der Unschuld seines Charakters, in die Redlichkeit seiner Braut sowohl, als eines Freundes, dessen Freundschaft er sicher war, unbeschränktes Vertrauen setzt, sind die gewöhnlichsten Dinge, im Vergleich mit einer Liebe, die so groß, so stark, und so schön ist, daß sie ihm zur redlichsten und heldenmäßigsten Entsagung die Kraft gab, und ihn, der Verzweiflung nahe, vom Liebenden in den reinsten Freund verwandelte. Diese schöne Erscheinung ist fremd dem Romane. Die Welt hat entschieden, das Gedicht sey das schönste seiner Art. Noch schöner aber, sehen wir, als die Dichtung war das Leben; ja in so hohem Grade schöner, daß Goethe, die unwahrscheinliche Wahrheit zurücklassend, ein Anderes erfinden mußte, damit die Dichtung als Wahrheit erscheine. Wie räthselhaft können die Grenzen des Guten und Schönen sich in einander verschlingen! Der Dichter mußte von der moralischen Höhe herabsteigen, um sich auf dem poetischen Gipfel zu befinden, der ihn zum höchsten Dichterruhme geführt hat. Der Gegenstand seiner Liebe wurde in seinem Gedichte durch die Idee verherrlicht, daß ohne den Besitz der Geliebten zu leben unmöglich sey. Er aber war zu groß, um in der Verzweiflung unterzugehen; aus seinem Charakter konnte die zügellose Scene nicht entwickelt werden, die den Entschluß zum Selbstmorde im Werther zur Reife brachte; daher mußte er die Züge, welche dem Romane, wie er gedacht war, die Entwickelung verliehen, aus einem minder starken Manne borgen. Das Faktische hierzu, wie das Studium zu einem Gemälde, hat Kestner in seiner Skizze von Jerusalems Tode ihm in die Hand gearbeitet. Manche Stellen dieses Aufsatzes finden wir wörtlich im Werther. Mit Goethen mußten auch Lotte und ihr Gemahl, in ihren erborgten Gestalten, dem Roman zu Gunsten tiefer gestellt werden. Hätte Werthers Lotte nicht in der Entwicklungsscene gegen den Albert gefehlt, worauf sie Werther von sich wies, das Motiv zum Selbstmorde würde gefehlt haben. Und hätte das Schicksal, minder grausam, den Werther um eines Würdigeren willen, als Albert gedacht ist, untergehen lassen, dem Untergange des Helden würden weniger Thränen geflossen seyn.
Die jungen Eheleute, noch voll von der reichen...