Schweitzer Fachinformationen
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«Das Leben ändert sich in einem Augenblick. In einem alltäglichen Augenblick.»
- Joan Didion
Mittwoch, der 27. März 2019. Es ist 9:00 Uhr. Vor vier Tagen bin ich aus Marrakesch zurückgekommen, erkältet, ein bisschen erschöpft und erfüllt von den widersprüchlichen Eindrücken dieser Stadt und den Gesprächen mit meiner besten Freundin Paulina.
In wenigen Tagen werden wir, Arvid, Lisbeth und ich, in den Familienurlaub aufbrechen. Wir freuen uns darauf, noch einmal zu dritt unterwegs zu sein, denn bald wird Lisbeth ein Geschwisterchen bekommen. Ich bin in der 25. Schwangerschaftswoche. Vor der anstehenden Veränderung wollen wir zur Ruhe kommen und uns Zeit füreinander nehmen.
Es ist ein ganz gewöhnlicher Tag. Arvid hat die Wohnung früh verlassen, um Lisbeth in den Kindergarten zu bringen. Von dort aus geht er zur Arbeit, in das Krankenhaus, wo wir uns vor fünf Jahren kennengelernt haben. Er ist Neurologe. Mit ihm hatte ich als Assistenzärztin den ersten Nachtdienst meiner chirurgischen Grundausbildung. Und der war nicht nur aufregend, weil es mein erster 24-Stunden-Dienst war. Ein Jahr später, mit Ende zwanzig, wurde ich schwanger. Gewollt. Lisbeth kam im Winter zur Welt, und seitdem ist sie wie ein warmer Sonnenstrahl in unserem Leben. Ich liebte und liebe sie. Und ich wollte unbedingt wieder arbeiten gehen. Wir meldeten sie im Kindergarten an, den sie kurz nach ihrem ersten Geburtstag besuchen sollte. So konnte ich mich auf meine Traumstelle bewerben: Plastische Chirurgie und Handchirurgie in Berlin. Ich bekam die Stelle, war stolz, dass ich mich als Mutter und in Teilzeit gegen so viele andere Bewerber*innen durchsetzen konnte. Jetzt ist Lisbeth schon drei Jahre alt.
Es ist ruhig in der Wohnung. Ich räume auf. Dann setze ich mich an den Schreibtisch, um den Elterngeldantrag auszufüllen. Ich mag solche Sachen. Sie sind befriedigend: Zeile für Zeile nähere ich mich meinem Ziel. Was ich noch nicht ausfüllen kann, markiere ich mit einem Post-it. Herrlich systematisch. Vorarbeiten, vorausschauend handeln - wenn das Kind kommt, werde ich froh sein, anderen Dingen nachgehen zu können. Zeit wird wieder ein knappes Gut werden. Die Sorgearbeit stellt so viel in den Schatten: den Job, die Partnerschaft, die Freund*innen und meinen Sport, der mir schon seit meiner Kindheit viel bedeutet. Es ist hart für mich, das Hockeytraining zu pausieren.
Ich brauche die Nummern der Bankverbindung und meine Krankenkassenkarte und hole mein Portemonnaie vom Schuhschrank neben der Wohnungstür. In Gedanken gehe ich den Tag durch. Ich plane, Lisbeth gegen 15:00 Uhr aus dem Kindergarten abzuholen. Danach haben wir einen Zahnarzttermin zur Kontrolle und Prophylaxe. Mir fällt ein, dass Arvid noch Lisbeths Krankenkassenkarte bei sich hat. Meine Schwangerschaft macht mich wirklich vergesslich.
Gegen 12:30 Uhr rufe ich Arvid auf der Arbeit an, um zu klären, wie wir das regeln: «Okay, kommst du dann nach und bringst die Karte mit?» Wieder etwas geklärt.
Ich gehe zurück ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch steht ein Strauß Tulpen mit blassrosa Blüten, die in der Sonne leuchten. Ein Blick hinaus: Auf dem Balkon blühen schon die Osterglocken. Ich atme tief ein und wieder aus. Ich liebe unsere Wohnung. Sie war die erste, die wir uns auf dem umkämpften Berliner Wohnungsmarkt in einer Massenbesichtigung gemeinsam angeschaut hatten. Traumhaft: etwas über hundert Quadratmeter zu einem bezahlbaren Preis. Mit einer kleinen Galerie im Dachgeschoss, unglaublich vielen Fenstern. Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Ich bin dankbar.
Ich lege mich hin, um einen kleinen Mittagsschlaf zu machen. Auf dem moosgrünen Sofa bin ich vor dem einfallenden Licht geschützt. Es empfängt mich, einladend und weich. Ich bin seit einiger Zeit immer so müde. Ob mein Eisenwert wieder im Keller ist?
Recht einschlafen kann ich dennoch nicht. Alltägliche Gedanken gehen mir durch den Kopf: Kann man die Karte nicht später vorbeibringen? Ist doch alles so aufwendig. Habe ich den Antrag richtig ausgefüllt? Es sind keine zielführenden Gedanken, aber sie sind so penetrant, dass ich sie nicht abschalten kann.
Ich setze mich auf, um etwas zu trinken. Als ich das Glas an die Lippen setze, läuft mir das Wasser aus dem Mund. Ich wische es mit dem Handrücken weg, verwundert, und nehme einen zweiten Schluck. Ich muss wirklich neben der Spur sein, müde und unkonzentriert. Da passiert es wieder. Das Wasser läuft daneben. Was ist denn jetzt los?, will ich rufen. Aber aus meinem Mund kommen nur undeutliche Laute. Als klebten mir die Worte im Mund fest. Meine Zunge scheint mir nicht richtig zu gehorchen. Verwirrt versuche ich es noch einmal. Ohne Erfolg.
Plötzlich bin ich hellwach. Ich spüre, wie mein Puls schneller wird. Ich stehe auf, weiß aber nicht, was ich tun soll. Panik. Meine Gedanken wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen. Dann ein Impuls, ein Halt: Handy. Arvid.
Kurz vor 13:00 Uhr rufe ich ihn an. Er nimmt ab. Ich stehe mitten im Raum. Noch immer kann ich nicht richtig sprechen. Ich breche in Tränen aus, rufe: Ich kann nicht mehr sprechen! Jedenfalls will ich es rufen, aber es kommen nicht die richtigen Laute aus meinem Mund. Kann Arvid den Satz überhaupt verstehen? Ich strenge mich so sehr an. Ich denke den Satz so intensiv, dass er aus meinem Mund heraus muss.
Arvids Stimme dringt durch das Telefon: «Was ist denn los? Magdalena? Ist etwas passiert?»
Ich schluchze. Ich kann es ihm, selbst wenn ich sprechen könnte, nicht sagen.
«Soll ich den Krankenwagen rufen?»
Schlagartig werde ich ganz ruhig. Mir wird bewusst, dass es ein medizinisches Problem ist. «Ja», erwidere ich und höre das Wort ganz deutlich. Es ist, als könnte ich mich und die Situation für einen Augenblick mit professionellem Abstand betrachten.
Arvid sagt, dass ich zuallererst die Wohnungstür aufmachen soll und er jetzt den Rettungsdienst anrufen wird. Dann legt er auf.
Ich gehe vom Wohnzimmer über den langen Flur zur Wohnungstür und öffne sie. Ich verstehe nicht, was passiert ist, aber ich hinterfrage auch nichts.
Arvid ruft wieder an. Ich will die Kamera am Handy einschalten, um ihm zu zeigen, dass ich da bin. Warum geht das nicht? Warum kann ich meinen Willen nicht in die Tat umsetzen? Das hat doch sonst immer funktioniert. Ich habe doch sonst immer funktioniert. ES GEHT EINFACH NICHT! Ich tippe ungeschickt auf dem Handy herum und lege aus Versehen auf. Als ich aufblicke, finde ich mich in dem Zimmer wieder, in dem mein Kleiderschrank steht. Was wollte ich hier? Mich anziehen, bevor der Rettungsdienst kommt! Meine blaue OP-Hose, die ich mal für zu Hause mitgenommen habe, und das Schlabber-T-Shirt sollen der schwarzen Schwangerschaftshose und meinem hellblauen Sport-Top weichen. Der Gedankengang ist glasklar und in seiner Logik alltäglich: Gleich kommen fremde Leute in unsere Wohnung, da muss ich angezogen sein. Ich halte mich an diesem logischen Gedanken fest. Eins nach dem anderen. Bloß nicht nichts tun.
Ich spüre den Drang, ein Foto oder Video von mir zu machen, vielleicht kann ich so herausfinden, was gerade mit mir passiert. Das habe ich so auch tagtäglich in der Klinik bei meinen Patient*innen gemacht, um die körperlichen Symptome beurteilen und mit anderen besprechen zu können.
Ich trete vor den Spiegel und versuche, Bilder zu machen. Um 13:03 Uhr entsteht eine verwackelte Fotoreihe: verwirrter Gesichtsausdruck, leicht hängender rechter Mundwinkel, beide Hände am Handy. Der Ausschnitt ist nicht gut getroffen, immer verdeckt das Handy einen Teil des Gesichts im Spiegel. Es frustriert mich, dass die Fotos nicht gut werden. Jetzt merke ich, dass mir meine rechte Hand nicht richtig gehorcht. Sie rutscht ab und verfehlt immer wieder die Position, in der ich sie gerne hätte.
Ich kam nicht auf die Idee zu differenzieren: Spielte mein Handy nicht mit oder war wirklich meine Hand schuld an den misslungenen Fotos? Warum fiel es mir nicht ein, die linke Hand zu benutzen, wenn meine rechte nicht funktionierte? Mein Gehirn versuchte, die Informationen und Reize auf die gewohnte Art zu bearbeiten - ohne Erfolg.
Ich drehe dem Spiegel den Rücken zu und handle pragmatisch. Was brauche ich? Ich hole meinen Mutterpass und lege ihn auf den Schuhschrank neben der Wohnungstür. Mein Portemonnaie! Wo ist es? Ich ärgere mich, weil ich es nicht finden kann. Der Rettungsdienst braucht meine Karte. Sonst ist es im Krankenhaus so kompliziert. Eben war sie doch noch da! Ich erinnere mich, dass ich sie am Schreibtisch in der Hand hatte, kurz bevor ich den Elterngeldantrag ausgefüllt habe. Ich öffne die Klappe des Schreibtischs, da ist es! Ich lege das Portemonnaie neben den Mutterpass auf den Schuhschrank. Sichtbar. Geschafft.
Das Klingeln unterbricht mich in den Vorbereitungen. Ich komme nicht mehr dazu, meine Medikamente aus dem Bad zu holen. Ich stehe an der geöffneten Tür, will den Hörer von der Gegensprechanlage abnehmen, aber etwas zieht meinen rechten Arm nach unten. Was ist das jetzt wieder? Mit äußerster Kraftanstrengung gelingt es mir, den Hörer zu erreichen. Dann tragen mich meine Beine nicht mehr. Die Hand kann den Hörer nicht mehr halten, er fällt klappernd hinunter, und ich rutsche mit dem Rücken an der Wand zu Boden.
Ich schaue meinen Körper an. Meine Beine sind ausgestreckt, der rechte Arme hängt schlaff an mir runter, mein Oberkörper lehnt schief an der Wand. Die rechte Körperhälfte scheint leblos zu sein. Ich spüre sie nicht mehr. Kein...
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