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18. Juni 2018
Lippstadt
Frido
»Was suchen Sie?«
Frido antwortet nicht. Er lässt den jungen Araber stehen, geht die paar Schritte zur Saaltür und öffnet sie. Der Saal ist kleiner, als er ihn in Erinnerung hat. Acht Tische verteilen sich über den Raum, sind beladen mit Spielsachen, Bastelutensilien, Malstiften, Heften. Stühle stehen um die Tische herum. Vor zwei Fenstern hängen grüne Vorhänge, zum Teil aus den Vorhangschienen gerissen, mit bauchigen Falten; die vier anderen Fenster sind frei. Plastikautos parken auf dem Holzboden zwischen Puppen, Duplo-Steinen und Plüschtieren.
»Hier nicht weitergehen«, sagt der Araber, »hier nur Frauen und Kinder. Hier ist Kita. Jetzt nicht, jetzt alle beim Essen, vorne im Speiseraum.«
Er hat schon im Hineingehen den Krach aus dem früheren Restaurant gehört, das Scheppern von Stühlen und Besteck, laute Stimmen, Kreischen der Kinder. Der junge Araber lässt ihn nicht aus dem Blick, während Frido langsam einen kleinen Halbkreis im Saal abschreitet. »Was wollen Sie hier?«, fragt der Araber.
»Nichts«, sagt Frido, »nur schauen«, und fügt leise hinzu, »schauen und erinnern.«
Dann geht er wieder an ihm vorbei, dieses Mal aus der Tür hinaus nach rechts auf die Treppe zu, doch bevor er auf die erste Stufe tritt, hat der Araber ihn eingeholt und sich mitten auf die Treppe gestellt.
»Hier nicht, hier ist alles privat, hier ist Heim!«, sagt er und breitet die Arme aus, um ihn am Weitergehen zu hindern.
»Ich war als Kind oft hier«, sagt Frido. »Das Hotel gehörte meinem Großvater. Wenn wenig Gäste da waren, durften wir in den Zimmern im ersten Stock Verstecken spielen.«
»Nichts Hotel mehr«, sagt der Araber, »Wohnheim! Alles Flüchtlinge und Kinder. Asylanten!«
Frido nickt. »Ich weiß. Steht ja vorne dran. Aber der alte Name ist noch immer eingraviert über der Tür: >Hotel Dellbrück<.« Er schaut dem Araber direkt ins Gesicht. Der Junge weicht seinem Blick nicht aus.
»Woher kommen Sie?«
»Ich komme aus Aleppo.«
Frido schätzt ihn auf vielleicht zwanzig Jahre. Der Junge ist groß, schlank, hat einen hellen Teint, kurz geschnittenes schwarzes Haar. Er hat sich seit einigen Tagen nicht mehr rasiert, seine dunklen Augen schauen mit einer Mischung aus Neugierde und Unsicherheit auf ihn.
»Und seit wann sind Sie hier?«
Frido kann nicht behaupten, dass er sich für die Geschichte des Arabers wirklich interessiert. Er will nur freundlich sein, damit der Junge ihm seinen Rundgang nicht verleidet. Während er noch fragt, schaut er ihn schon gar nicht mehr an, sondern blickt zur Decke des Flurs, an der er den Stuck vermisst, der, da ist er sicher, den Flur früher verziert hat. Kalkweißer Stuck mit Blütenköpfen, einer geschwungenen Linie und einer weißen Zierleiste am Rand.
»In Lippstadt seit zwei Jahren, davor Passau, dann München.«
»Und Sie wohnen hier im Hotel Dellbrück?«
»Ja, dritter Stock.«
»Ich würde gern einmal nach oben gehen, mein Vater und meine Mutter sind hier in diesem Haus geboren!«
»Beide hier?«
»Ja«, Frido lacht und ist überrascht, dass der Araber so schnell diese Besonderheit erkannt hat, »ja, sie sind beide hier im selben Jahr in diesem Haus zur Welt gekommen.«
»Sie haben Erlaubnis für Heim? Herr Hildebrand ist nicht da heute.«
Der Araber zeigt mit dem Daumen auf eine Tür im Halbparterre, an der ein Schild angebracht ist: »Direktor«.
»Das war schon bei meinem Großvater das Büro.« Frido lacht. »Da saß Antonius Dellbrück, alle nannten ihn Tono, der ist gestorben, als ich in Hannover studierte.«
Er geht zur Tür des Büros und will sie öffnen. Der Araber erschrickt. »Nein, nein, Herr Hildebrand ist nicht da«, ruft er. Die Tür ist verschlossen. Frido dreht sich zu dem Araber hin.
»Ich heiße übrigens Friedemann Rosenbaum, Sie können mich aber >Frido< nennen, alle nennen mich Frido. Da, wo ich lebe, in Australien, heiße ich >Frido Ross<. Ross ist einfacher in Australien als Rosenbaum. Und Sie?«
»Australien? Oh, weit weg.« Der Araber macht eine Pause. Australien hat ihn offenbar beeindruckt. »Ich heiße Djad und ich komme aus Syrien.« Frido lächelt, Djad hat diesen Satz, der völlig akzentfrei daherkam, sicher tausend Mal trainiert, denkt er. »Ich bin vor zwei Jahren gekommen.«
»Ohne Eltern?«
»Ja, ich war unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, ohne Eltern.« Auch dieser Satz wirkt eintrainiert.
»Wie alt sind Sie, Djad?«
»Neunzehn, fast zwanzig.«
»Würden Sie mir Ihr Zimmer im dritten Stock zeigen?«
Djad ist überrascht, er zögert mit der Antwort. »Warum?«, fragt er nach einer Weile.
»Mein Vater und meine Mutter sind im dritten Stock groß geworden, genauer in dem Seitentrakt, der früher mal ein eigenes Haus war.« Frido stockt. So genau braucht er es dem Araber nicht zu erklären. Für die Baugeschichte des Hotels wird der sich nicht interessieren.
»Gut, Sie können kommen!«
Jetzt ist Frido überrascht. Sie gehen am Aufzug vorbei, »ist kaputt, schon lange«, und steigen die Treppe hinauf. Die war früher über die gesamten Stufen mit einem breiten dunkelroten Kokosläufer bespannt, denkt Frido, und für einen Moment spürt er wieder den Kokos unter seinen nackten Füßen. Irgendwann einmal musste er barfuß durchs Treppenhaus gegangen sein, aber wann und warum, kann er nicht erinnern. Jetzt laufen sie über dunkelblaue Auslegeware, mit einer Reihe brauner und schwarzer Kaffee- oder Colaflecken darin. Im dritten Stock stoppt Djad vor einer Tür, an der in metallenen Buchstaben »32« steht. »Mein Zimmer«, sagt er, »und von Farid. Farid ist nicht da. Er ist in Gärtnerei, Gärtnerei Neuhoff. Wollen Sie es wirklich sehen?«
»Nein«, sagt Frido, »so wichtig ist es nicht. Mich interessiert mehr diese Tür.« Er zeigt auf eine Tür am Ende des Gangs, auf der »39a-39f« steht. »Es ist die Tür zur alten Wohnung meines Großvaters. Da hatten meine Mutter und mein Vater ihre Zimmer. Da habe ich geschlafen, wenn ich zu Besuch kam.« Er ist schon auf dem Weg zur Tür, als Djad ihn zurückhält. »Das sind Zimmer für Familien aus Afghanistan. Sind jetzt alle essen, unten. Alles ist zu, verschlossen!«
»Dann warte ich.«
Djad sieht ihn verdutzt an.
»Ich will fragen«, Djad zögert, »warum du aus Australien hier bist? Ich denke, Australien ist sehr reich.«
»Nein, nein, so reich ist es nicht. Ich bin zu Besuch in Deutschland, ich fliege Ende nächster Woche wieder zurück nach Sydney.«
Djad öffnet jetzt die Tür zu Zimmer 32.
»Komm«, sagt er und führt ihn in das Zimmer. An der linken und der rechten Wand stehen je ein Bett, vor dem Fenster ein Tisch mit zwei Stühlen, das Fenster ist gekippt, man hört die Geräusche eines in den Bahnhof einfahrenden Zuges. Es ist alles ordentlich, die Schuhe stehen zu Paaren nebeneinander vor jedem Bett, die Bettdecke ist gefaltet, auf dem Tisch ein geöffneter Laptop, oben auf den beiden Schränken jeweils ein Rucksack, auf einem Bord an der Wand ein Fernseher. Ordentlicher als bei Manuel, denkt Frido. Dann entdeckt er etwas, das er in diesem Zimmer nicht erwartet hatte. Ein kleines Kruzifix aus Metall am Kopfende des linken Bettes.
»Komm«, sagt Djad erneut, und führt ihn zum Tisch, holt von der Fensterbank ein Glas, eine Flasche Cola, ein Schälchen mit Nüssen und weist auf den Stuhl rechts vom Tisch. »Ich würde gern nach Australien fahren, dort leben, arbeiten, aber ich weiß nicht, wie.« Ach, daher weht der Wind, denkt Frido, und lächelt Djad an, der mit großen noch immer etwas ängstlichen Augen auf ihn blickt, während er langsam auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz nimmt. »Wie bist du nach Australien gekommen? Viel Geld?« Djad sitzt jetzt sehr aufrecht auf seinem Stuhl, das Kreuz durchgedrückt.
»Nein«, sagt Frido, »mit Geld hatte das nichts zu tun. Aber es ist eine lange Geschichte.«
»Du warst Flüchtling in Australien, Asyl?«
»Nein, nein«, Frido lächelt,...
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