Schweitzer Fachinformationen
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1912
Gestreift und erschossen lag der Tiger da, und ich streckte meinen hungrigen Körper auf ihm aus. Er war halb Schatz, halb Beute. Obwohl wir im Überfluss ausgestattet waren, ignorierte ich die Chaiselongues und Satinstühle oft und legte mich mit meinem Buch auf das zerfledderte tote Tier. Lass das, sagte meine Mutter, wenn sie zufällig im Raum war. Peggy, lass von der Bestie ab! Diese Aufforderung brachte meine Schwester Benita regelmäßig zum Kichern. Lass von der Bestie ab, machte sie meine Mutter später nach. Die Zunge war irgendwann abgefallen und durch ein verunglücktes Plastik-Imitat ersetzt worden. Beim Lesen ließ ich die Finger ins Maul baumeln und befühlte die schartigen schwarzen Lefzen. Oft kippte der Kopf abrupt zur Seite, und das rote, rohe Maul unter den klaren Kristallaugen wirke mit einem Mal lebendig.
Oh, Peggy, sagte meine Mutter, lass von dem Tiger ab und steh vom Boden auf. Ich strich über das Fell und starrte entrückt an die Decke. Für einen Augenblick wirkte alles in dem eleganten Zimmer wild und beunruhigend.
Wir wohnten in einem Hotel der Astors. Wir waren aus unserem früheren Haus hergezogen, 15 East 72nd Street, schräg gegenüber vom Central-Park-Eingang. Mein Vater war geschäftlich in Paris; jedenfalls wurde uns das so gesagt, und wir wiederholten es brav. Nachdem wir wochenlang auf seine Rückkehr gewartet hatten, zog meine Mutter mit uns ins Hotel. Kein Grund zur Sorge. Daniel, der Bruder meines Vaters, wohnte auch dort. Die ganze Etage unter uns war seiner Familie vorbehalten; ich vermute, den Astors war es zutiefst peinlich. Die Guggs übernehmen das ganze Hotel. Wie Geld und Liebe wurden auch diese plötzlichen Wohnortwechsel in meiner Familie nie thematisiert. Ich bin damals vierzehn, glaube aber, über ein Wissen zu verfügen, das sich den anderen entzieht. Ich weiß, dass mein Vater nicht zurückkehren wird.
Am Morgen der Abreise meines Vaters flehte ich Victor, seinen Butler, an, mich Vaters Schnurrbart bürsten zu lassen. Mein Vater und ich sangen zusammen, ein süßes, geheimes Lied, das er für mich ersonnen hatte. Französisch und Englisch. Oui, oui, Peggy. A whistle, a dun-la-dun, und dabei drehte ich mich. In seine Tasche schmuggelte ich die Tigerzunge.
Seine Geheimnisse und seine Schande nahm mein Vater mit, verstaut in einem seiner siebzehn Schrankkoffer. Silbern bis zum Ende schloss er jede von uns in die Arme, während um uns herum die Kirschblüte der Fifth Avenue losbrach. Über uns zerrissen Wolken. Wir rannten ihm nach. Korsette und knöchellange Seidenröcke schränkten uns ein. Unsere Matrosenmützen wehten weg, schwebten über den Rädern seines Wagens.
Hazels Schluchzer waren die Park Avenue rauf und runter zu hören. Adeline Havemeyer und Alma Harrington guckten aus ihren Fenstern. Der Wagen meines Vaters steuerte weiter auf den dunkel strömenden Fluss zu, in einen Teil der Stadt, in dem wir noch nie gewesen waren. Eine Geschäftsreise, erklärte Onkel Daniel meiner Mutter. »Er scheint sich in den Kopf gesetzt zu haben, seine eigene Firma zu gründen, die - ich glaube, sie soll International Steam Company heißen.« Er wirkte angewidert, denn mein Großvater hatte den Brüdern immer Äsops Fabel vorgetragen, und der zufolge sollten sie zusammenhalten wie ein Rutenbündel. »Florette, hat er je mit dir über seine Geschäfte gesprochen?«
»Glaubst du das etwa? Also wirklich, Daniel.«
»Hat er je erwähnt -« Er brach ab, als er mich auf dem Vorleger entdeckte. »Peggy«, sagte er sanft. »Ich habe dich gar nicht bemerkt.«
»Sie unterhält eine ungesunde Liebesbeziehung zu dieser Bestie«, sagte meine Mutter. »Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie die Kinder aussehen werden.«
»Sie werden sicherlich sehr schlau«, sagte er.
»Gefährlich«, entgegnete ich, ging in bucklige Angriffsstellung und fletschte die Zähne.
Das St.-Regis-Hotel war luxuriös und langweilig. Gitter vor den Fenstern, die Scheiben trüb. Der Park war nur als Lichtschimmer auszumachen. Ich vermisste die Kuriositäten und Kostbarkeiten meines Vaters, wie makaber und verschwenderisch sie auch sein mochten.
Meine Mutter fing an, über allem zu wachen. Dass sich ihre eigene Ehe, dieser Zusammenschluss von Lehnsgütern, eindeutig im Niedergang befand, schien nur ihr Interesse daran zu wecken, die Töchter ihres Schwagers standesgemäß zu vermählen. Wochen vergingen, ohne dass mein Vater zurückkehrte, aber sie schien auf verquere Art zunehmend auf die Möglichkeit romantischer Beziehungen eingestellt. Ein Abendessen wurde für Mr. Harry Loeb ausgerichtet; ein Lunch für Mr. Roger Straus. Sie schickte Truppen nach Barrytown, um Erdbeeren zu holen; aus einem Tal in Russland kam Hermelin. Sie trug Tournüren und hochgeschlossene Blusen. N.G. sagte sie zu einem Namen auf der Gästeliste. Nicht gut. Ein Strich mit dem Stift. Die Ärmeren aussortiert.
Konnte man meinem Vater verdenken, dass er Paris präferierte, wenn ihn zu Hause diese Frau erwartete? Ich fing an, sie zu verachten.
In Paris dürfte mein Vater selig gewesen sein, nie wieder an einem Ball, nie wieder an einer spießigen Fifth-Avenue-Party teilnehmen zu müssen. Je mehr meine Mutter uns vernachlässigte, desto überzeugter war ich, dass mein Vater in einer anderen Stadt bleiben würde, mit anderen Frauen, die schlank und fröhlich waren. Ich stellte sie mir so schön vor, ich verliebte mich fast selbst in diese Kreaturen. Pfauenfedern in Ringellocken; der Schlund weißer Brüste.
Er hat sich von uns allen befreit, erklärte ich Benita. Von seinen albernen Töchtern, seinen gierigen Brüdern, seiner versnobten Frau. Siehst du es denn nicht? Er hat sich von den Havemeyers, den Harringtons, den Loebs, den Straus' und den wirklich liebenswürdigen Rockefellers befreit.
Sie antwortete mir immer; unser Gespräch war manchmal wie ein Lied. Unsere Worte verschlungen, unbeschwert. Eine Sprache in Form einer verbotenen Melodie. Aber nach dieser Bemerkung ging sie zum Flügel. Aus dem Gedächtnis spielte sie fehlerfrei Wagner. Ich beschloss, es nicht mehr zu erwähnen, so verletzt wirkte sie, wie sie aufs C hieb und auf das Notenblatt starrte, für ein Lied, das sie gar nicht spielte.
Er schrieb uns. Quer auf dem Bett unserer Mutter liegend, lasen Benita und ich uns die Briefe vor. Wir fischten sie aus dem Schmuckkasten meiner Mutter, wo sie sie unter Bändern und Smaragden aufbewahrte. Im April schrieb er mir. Da war er neun Monate fort. Ich freue mich über deinen lieben Brief und hoffe, dass du häufig Gelegenheit finden wirst, mir zu schreiben. Ich habe etwas entdeckt -
Hier brach ich ab. Was hat er entdeckt?, fragte Benita. Ein schönes Geschenk für Hazel, log ich.
Ach, Haze, sagte sie seufzend.
Warum erzählte ich es Benita in dem Moment nicht? Der Rest des Satzes löste eine solch glühende Freude in mir aus, dass ich wohl fürchtete, zurechtgewiesen zu werden, wenn ich sie teilte. Es ist nur ein Versprechen; er verspricht ständig irgendwas. Ich faltete den Brief siebzehn Mal, bis er streichholzdünn war. Dann schob ich ihn in meinen knöchelhohen Lederstiefel, während Benita sich erhob und mich aufforderte, einen Jungen zu mimen, damit sie ihren Knicks üben konnte.
In Paris baute mein Vater Fahrstühle, die an die Spitze des Eiffelturms fahren würden. Allein das erfüllte mich mit Liebe. Mein Vater! Strebte nach den Wolken, während seine altmodischen Brüder immer noch Männer in höllische Minen hinabschickten. Mein Vater schien keine Angst vor modernen Maschinen zu haben; er weigerte sich, an die Orte zurückzukehren, an die sein Vater ihn entsandt hatte - das felsige Ödland Nordmexikos, die brodelnden Öfen dauerbetriebener Schmelzhütten im menschenleeren Colorado. Mein Vater glaubte an das Unbewiesene, an die Willenskraft, an einen besseren Blick auf die Wolken.
Eines Morgens, kurz nachdem ich den hoffnungsfrohen Brief meines Vaters bekommen hatte, wurde ich auf der Fifth Avenue von Mr. Rockefeller angehalten. Er schwenkte seinen Stock und winkte mich heran. Ich hatte ihn seit unserem Umzug aus der 15 nicht mehr gesehen. Er war älter geworden, weiße Flecken in den Augen, ein Duft nach Lilien und Kiefern. Ich sah mir diese Männer immer genau an, versuchte zu erkennen, was es war, wonach wir alle so verzweifelt strebten. Er hatte eine schneidige, unwiderstehliche Art zu sprechen. Die schlaue Miss Guggenheim, sagte er. Er betonte das heim. Kratzig, deutsch, ein Geräusch, als würde er sich räuspern.
Ich begann einen Knicks, vollendete ihn aber nicht, sondern rief aus: »Mein Vater ist in Paris! Er baut Fahrstühle für den Eiffelturm!« Ich wusste, wie albern und unhöflich ich mich anhören musste, aber ich genoss die Verkündigung.
»Ist dem so?«, fragte er. Er schien zu überlegen, ob die Idee weitere Überlegungen wert war. »Fahrstühle?«
»Der Eiffelturm ist das höchste Gebäude von Paris«, informierte ich ihn.
Er nickte. »Ja, man fällt umso tiefer.«
Dass er sich amüsierte, störte mich nicht. Ich stellte mir meinen Vater vor, wie er rittlings auf dem gewaltigen Gerüst saß, von Gurten gehalten. Unter ihm die Bögen von Notre-Dame, dem Louvre.
Ich wollte weiterreden, aber die Gouvernante, Cora, drückte meine Hand. Die hochstehende Sonne streifte...
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