Schweitzer Fachinformationen
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"Ihr sollt nicht stramm stehen. Ihr sollt nicht dienen! Ihr sollt frei sein! Zeigt es ihnen!"
Unser alter Studienrat steht, das Buch in der Hand, am Fenster. Er schluckt. Wie immer, wenn er liest, hat er die Brille weit auf die Stirn geschoben. Sie verschwindet fast in seinen dichten Haaren.
"Guck mal", sagt der kleine Mähliss neben mir, "das liest er auswendig."
"Und wenn sie euch kommen und drohen mit Pistolen - Geht nicht! Sie sollen euch erst einmal holen!
Keine Wehrpflicht!
Keine Soldaten!
Keine Monokelpotentaten!
Keine Orden! Keine Spaliere!
Keine Reserveoffiziere!
Ihr seid die Zukunft!"
Ich sehe zu ihm hin und merke, dass er weint. Das Buch ist ganz nass. Die Sonne, die durch das Fenster hereinscheint, spiegelt sich in der Nässe auf den Seiten. Ich habe einen Kloß im Hals. Das ist so peinlich. Ich kann jetzt auf keinen Fall zu Muther hingucken, der hat immer so ein Backpfeifengesicht. Ich muss aber doch hinsehen und merke, dass er totenblass ist. Scheuermann vor mir sucht fieberhaft etwas in seiner Jackentasche und findet es nicht. Was sucht er denn bloß, denke ich.
"Schüttelt es ab, das Knechtschaftsband!
Wenn ihr nur wollt, seid ihr alle frei!
Euer Wille geschehe! Seid nicht mehr dabei!
Wenn ihr nur wollt: bei euch steht der Sieg!
Nie wieder Krieg!"
Er schreit die letzten Worte laut. Sie hallen noch eine Weile nach. Er soll nicht so schreien, denke ich. Draußen fährt eine Straßebahn vorbei. Man kann die Stange am Fahrdraht vorüber rutschen sehen. Ich fahre auf, weil ich eine Tür klappen höre. Der Platz am Fenster ist leer. Der lange Spengler steht auf, geht langsam zum Katheder und nimmt einen kleinen Stapel zusammengefalteter Papierbogen in die Hand.
Er hat das Gedicht abgetippt, sagt er, "Zwanzig Stück, für jeden eins."
Ich gebe meiner Mutter die Hand, nehme meine Aktentasche und gehe durch den Garten auf die Straße. Mutter kocht gerade Rotkohl. Das riecht man bis hierher. Ich will noch meinen Freund Wolfgang abholen und klingele deshalb an der Nummer acht unserer Straße. Drinnen höre ich die weinerliche Stimme von Frau Scheuermann, die ununterbrochen redet. Wolfgang macht die Tür auf.
Seine beiden Schwestern packen allen möglichen Kram, den ihre Mutter ihnen gibt, in einen großen Koffer. Er steht dabei und ist wütend. Das merke ich daran, dass er sich hin und wieder ans Ohrläppchen greift. Seine Mutter dreht ihn an der Schulter geschäftig um sich selbst, wie eine Schneiderpuppe und sieht nach, ob alle Knöpfe fest sind. Ich bedauere ihn und will ihm zur Hilfe kommen.
"Was soll das alles", sage ich laut, "morgen können Sie den Kram sowieso wieder abholen, da braucht er von Ihnen nichts mehr."
Frau Scheuermann sieht mich verständnislos an - wie blöde, denke ich - und fängt dann an zu weinen. Das sieht unanständig aus. Ihr dicker Busen wackelt im Takt des Schluchzens immer rauf und runter.
"Ach Gott, ach Gott, ach Gott", "sagt sie ununterbrochen. Ich drehe mich um und sehe aus dem Fenster.
"Mach schnell", sage ich, "Wir müssen um zehn Uhr dort sein."
Im Spiegelbild der Scheibe kann ich sehen, wie Frau Scheuermann ein Gesangbuch in den halbgepackten Koffer steckt.
"Komm", sage ich und nehme Wolfgang am Arm. Die Tür schlägt hinter uns zu.
Auf dem Birkenweg kommt uns Frau Schulz entgegen. Sie hat es auch schon gehört. Es hat sich scheinbar schnell rumgesprochen. In der einen Hand hat sie eine speckige, lederne Einkaufstasche und in der anderen trägt sie die Marken.
"Ich freue mich so für Sie", quäkt sie. Eine Stimme, wie ne Gießkanne, sagt Wolfgang sonst immer. Ihre leicht schielenden Basedowaugen sind von unangenehmer Rührung. Vorn im Mantelausschnitt sieht man das schmutzige Weiß ihres Unterrocks.
Ihr Sohn ist vor drei Wochen auf dem Zoobunker gefallen. Volltreffer.
In der Traueranzeige in der Spandauer Zeitung stand: In stolzer Trauer! Frauenschaftsleiterin des Bezirkes Spandau-Hakenfelde.
Der Mann ist Postbeamter und sammelt bei uns die Pfundspende ein. Er entschuldigt sich immer, wenn er bei uns klingelt.
In der Straßenbahn treffen wir Knauft. Er sitzt am Fenster, hat seine Schultasche auf den Knien und kaut nachdenklich an einem Brot.
"Schön wärs ja", sage ich leise. Wolfgang holt die Brieftasche aus dem Jackett, um zu bezahlen.
Ein kleines Heft fällt dabei auf den Boden.
"Sieh mal, hier hab ich noch ne Cäsarklatsche", sagt er zu Knauft.
Wir stehen im Zimmer unseres Direktors um den großen Schreibtisch. Oberstudiendirektor Krüger sitzt in seinem Sessel. Er spielt mit seinen Händen. Jeden einzelnen Fingernagel sieht er sich ganz genau an. Das tut er immer, wenn ihm etwas unangenehm ist. Dann blickt er auf.
"Darf ich Ihnen, Herr Leutnant, meine Obertertia vorstellen", sagt er.
Der junge Leutnant verbeugt sich dankend.
Er sieht hübsch aus in seiner Uniform, muss ich denken.
Dr. Krüger ist aufgestanden. Seine lange, hagere Gestalt ist vornübergebeugt. Die Röhrenhosen haben ausgebeulte Knie. Er hat nichts zu essen und raucht Pfefferminztee. Das weiß ich von seiner Tochter, die öfter mit uns spricht. Seine rechte Hand hat er auf den Kopf einer griechischen Jünglingsstatue gelegt, die auf dem Tisch steht. Die Figur hat ein Schwert in der Hand, auf das sie sich stützt.
"Das", sagt er leise, "ist die Seite, die ich bei den Lehrmeistern unserer humanistischen Erziehung nicht verstehen kann."
Er sieht wieder auf seine Hände. Sie sind ganz schmal und weiß.
Muther, der hinten steht, macht ihn nach. Er sieht grinsend auf seine Hände und macht sich an seinen schmutzigen Nägeln zu schaffen. Spengler stößt ihm seinen Ellenbogen in die Seite, dass er schmerzverzerrt aufhört.
"Ich habe hier eine kleine Sammlung von Reden unseres Freundes Sokrates. Es ist eine Feldpostausgabe. Man kann sie leicht in die Tasche stecken."
Er tritt vor jeden Einzelnen und gibt ihm das Buch. Vor dem kleinen Mähliss bleibt er etwas länger stehen. Dann geht er zu seinem Schreibtisch und macht sich an den dort liegenden Papieren zu schaffen.
Wir warten noch eine Weile, dann gehen wir hinter dem Leutnant durch die Tür. Ich mache sie leise zu. Am Schreibtisch sehe ich noch einmal die lange, dünne Gestalt. Sie dreht sich nicht um.
Wolfgang blättert auf der Treppe in seinem Buch. Ich sehe plötzlich, wie er stutzt und es dann hastig in die Manteltasche steckt.
Im Omnibus schlage ich das Bändchen auf. Auf der ersten Seite stehen einige Zeilen in der sorgfältigen, kleinen Handschrift unseres Direktors.
"Wenn du mich einmal brauchst", steht dort.
Und dann die Adresse eines Landhauses in Mecklenburg. Er hat es vor zwei Jahren von einer Verwandten geerbt.
Ich reiße die Seite raus und stecke sie in ein Seitenfach meiner Brieftasche.
Ich fahre auf. Die Starkstromglocken schrillen durch die Baracke. Fünfmal hintereinander. Vorspiel. Ich klettere aus meinem Bett und ziehe mich hastig um. Spengler ist schon fertig. Wieder gehen die Glocken.
Alarm!
Wir laufen aus der Baracke zu unseren Deckungsgräben. Drüben, an den Geschützen heulen schon die Elektromotoren. Dunkle Gestalten zerren die schweren Flanken herunter. Ein Rohr nach dem anderen hebt sich auf 45 Grad. Wir stehen in unseren Gräben, frieren und warten.
"Ab morgen können wir noch mehr wetzen", sagt Spengler. "Ich mach K 1 bei Anton."
Warum sagt er das, denke ich ärgerlich, das wissen wir doch alle. Ich habe auf mich selbst Wut.
"Total versturt", sage ich laut.
Wenn man über irgendetwas nachdenken will, ist doch immer nur das eine im Gehirn. Vierzehn Tage haben wir es jetzt ununterbrochen zu hören bekommen:
K 1 bedient die Höhenrichtmaschine. Umschalthebel von "Hand" auf "Motor". Kurzschlussschieber langsam auf "ein". Deckt laufend Kommandozeiger mit Folgezeiger ab. K 2 bedient die Seitenrichtmaschine. Umschalthebel von "Hand" auf ...
Ich sehe plötzlich, dass die vier Geschützrohre schon seit einiger Zeit in eine andere Richtung zeigen. Viele Scheinwerfer sind jetzt am Himmel.
"Heute wird's ernst", sagt Scheuermann.
Die Feuerglocke. Wir ducken uns unwillkürlich. Man hört das harte Klacken der elektrischen Ladeeinrichtungen. Dann kracht es 4-mal kurz hintereinander.
In der blendenden Helle des Mündungsfeuers sehe ich, dass der kleine Mähliss die Finger in die Ohren gesteckt und den Mund weit aufgerissen hat. Das sieht furchtbar komisch aus. Ich will lachen.
Die nächste Salve.
Dann ist wieder Ruhe. Bei den Geschützen hört man, wie die Kartuschen über den Wall geworfen werden.
Aus der Richtung des Flugplatzes Staaken ist das Geräusch landender Flugzeuge zu hören.
"Die Nachtjäger kommen zurück, wir können gleich pennen gehen", sagt Spengler.
Ich sehe, dass der kleine Mähliss neben mir zittert.
"Kalt?", frage ich.
"Ja, ich hab nur einen Schlafanzug drunter", sagt er.
Der Stahlhelm ist ihm auf ein Ohr gerutscht. Er sieht aus, wie besoffen.
Unteroffizier Ziegenbalg steht auf dem Grabenrand.
"Ihr könnt wieder reingehen. Es ist Schluss." Er sächselt.
Wir gehen zurück in unsere Baracke.
Der kleine Mähliss steht unter der Lampe und zieht sich aus.
Er ist vollständig...
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