Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
Der Tag begann mit einem derart blauen Himmel, dass die Vögel irritiert Pirouetten schlugen. Die Sonne strahlte ein wunderschönes Lächeln in die Welt, der Wind wiegte sanft die Bäume in den Schlaf und der Mensch vergaß in seiner Sorglosigkeit, dass es Flauschewolken überhaupt jemals gegeben hatte. Ein paar Insekten summten ein wirr sirrendes Lied vom Morgentau auf Gräserspitzen.
Ein grünes Wiesenmeer breitete sich vor uns aus und bebte unter unseren erwartungsvollen Blicken. Ich hatte Gänseblümchen im Haar. Sie dufteten süß wie Omas frischgewaschene Sofakissen. Es waren kleine Pflänzchen, die wir in unserem kindlichen Tatendrang gebrochen hatten, um uns mit ihren Leichen zu behängen. Sieben an der Zahl; und zwei von ihnen ließen bereits die Köpfchen sinken, während wir sie uns gegenseitig ins Haar flochten.
Wer waren die anderen Kinder? Ich weiß es nicht mehr. Sie waren da, so wie sie immer dagewesen waren. Hübsche, kleine Menschen, die ihre Gesichter verloren hatten und an deren Stelle schwarze Flecken waren. Nicht einmal ihre Namen kenne ich noch. Dabei spielten wir oft miteinander. So oft, dass ich glaube, niemals etwas anderes getan zu haben, als mit diesen Kindern auf der Wiese hinter unserem Haus zu spielen. Wir rannten und sangen und tanzten und taten so viel, was eben kleine, naive Rotznasenkinder in diesem Alter taten. Jedenfalls glaube ich das. Ich erinnere mich nicht mehr.
Aber ohnehin war dieser wolkenlose, sonnige Sommertag etwas Besonderes. Ich hatte es damals schon gewusst . oder ich glaube, es damals schon gewusst zu haben. Spielt das eine Rolle? Ich war ein Kind, wie jedes andere. Ich liebte es, zu toben, zu raufen und die Welt zu entdecken. An diesem Morgen hatte ich einen Kakao von meiner Mutter bekommen, mit Sahne und ein paar bunten Streuseln. Sie gab mir einen Kuss, bevor ich übermütig aus dem Haus rannte, vorbei an den hundert weißen Rosen und dem kleinen Teich mit den Kröten. Die hatten an diesem Tag besonders laut gequakt. Unser Grundstück war groß und mit einem hellbraunen Lattenzaun umgeben. Grüner Efeu rankte sich an einer Stelle über das Holz und suchte sich einen Weg in die Freiheit.
Ein Stück vom Haus entfernt, nur wenige Schritte für einen Erwachsenen, doch eine Abenteuerreise für einen unfertigen Menschen wie mich, stand das Tor zur Wiese immer offen. Der Rost hatte die Scharniere zerfressen und niemand hatte sich darum gekümmert. Es war nicht nötig gewesen.
Die anderen hatten auf mich gewartet. An diesem wunderschönen Sommertag wollten wir hinunter zum Bach nahe dem kleinen Wald und dort ebenso kleine Papierschiffchen schwimmen lassen. Eins der Ohngesichtskinder hatte einen Eimer für die Kaulquappenjagd dabei.
Ich trug ein gelbes Kleid. Ja. Ich wollte Fische fangen. Ich wollte unbedingt kleine Fische für den Teich im Garten, als Freunde für die Kröten. Ein anderes Kind erzählte irgendwelche dummen Witze, über die ich lachte, wie ich über alles lachte, was eins der anderen Ohngesichter erzählte. Dabei war mir die Stille schon damals viel lieber gewesen.
Ich liebte die Geräusche am Bach. Tue es auch jetzt noch. Die Stille und das leise Spiel des Wassers. Es klingt, als würde jemand auf den Steinen eine süße Senate spielen. Als hätte der Bach ein Klavier in die Natur gebrochen, mit steinernen Tasten und sandigen Saiten. Ein Chor aus Tauben und Spatzen begleiteten ihn.
Wir saßen dort Stunde um Stunde. Die Zeit verging, und weil wir vergessen hatten, dass es überhaupt Wolken gab, erkannten wir zu spät das nahende Gewitter.
Mit Pauken und Trompeten krachte es über uns herein. Sturzbachähnliche Wasserfälle fluteten unsere kleinen Körper und verwandelten den Bach in einen gefräßigen Lindwurm. Dem Wasser folgte der Sturm. Eiskalter Wind zog an dem gelben Stoff, als würde er selbst mein Kleid besitzen wollen. Er zerrte und zog, bis ich den Halt verlor und von den glatten Steinen in den Bach rutschte. Sofort ergriff mich der Drache und schickte seine Schuppen, um mich in den Schlamm zu bannen. Ich schluckte Wasser und ruderte mit den Armen. Die Panik ließ mich vergessen, dass ich größer war, als ein Wurm; dass ich eine Drachenkriegerin war, eine Kämpferin gegen diese Urgewalt.
Ich drückte mich wieder an die Luft und wurde sofort vom donnernden Applaus der Himmelswesen begrüßt. Schlamm und Dreck verklebten mir die Augen. Ich schrie, doch niemand antwortete. Die anderen waren längst zum Haus geflüchtet. Ob sie mich da bereits vergessen hatten?
Eine übermütige Welle versuchte, mich wieder in den Schlamm zu drücken, doch ich weigerte mich, ihr nachzugeben. Standhaft zog ich mich an das rettende Ufer, keuchte und fauchte und wütete gegen den Bach, der mir einst so ein musikalischer Freund gewesen war und nun mein schlimmster Widersacher.
Nasse Haarsträhnen klebten mir an Wangen und Hals. Die Gänseblümchen waren längst vergangen und irgendwo riefen die Raben nach mir. Ich wusste nicht, wo ich war. Der Bach hatte mich irgendwohin getragen, ohne mir nur einen Hinweis zu geben, wie ich wieder nach Hause gelangen könnte. Selbst das kurze Aufflammen eines Blitzes in der Ferne half mir nicht weiter. Der Himmel war schwarz vor Zorn, die Bäume schlugen mit ihren Ästen nach mir und ich weinte. Ich weinte, wie ich nie zuvor geweint hatte.
Ich hatte mich verloren. Mich; den Weg; die Gänseblümchen und die Ohngesichter. Stundenlang starrte ich in Regen und Sturm den Wald an, als könnten mir die paar Bäume und Büsche verraten, wie ich wieder nach Hause fand. Ich hätte einfach dem Bachlauf folgen können, doch irgendwas innerhalb dieses Waldes beeindruckte mein kindliches Gemüt so sehr, dass ich daran gar nicht dachte. Ich kann es nicht beschreiben, doch es lockte mich. Vielleicht war es ein altes Kinderlied, dass von Fern an meine Ohren klang. Oder der Geruch von Lebkuchen und Zimt.
Ein beruhigendes Licht schimmerte durch die Äste, lockte und schmeichelte mir, bis ein warmer Nebel mich bei der Hand nahm und unter das schützende Blätterdach führte.
Eine wohlige Wärme trocknete mir die Tränen, während ich immer tiefer in den Wald vordrang. Ich folgte einem uralten Pfad, der nie existiert hatte. Ich ging einen Weg, der sich nur mir auftat, für mich allein und nach mir wieder verschwand wie ein flüchtiger Atemzug.
Ich fühlte mich sicher. Geborgen, ja. All die Angst, die Furcht und die Wut hatte ich an dem kleinen Bach zurückgelassen. Und der Sturm tobte weiter. Er fuhr unbarmherzig durch die Baumwipfel, spuckte und spie eiskaltes Wasser auf das Leben und donnerte seinen Zorn durch den Himmel. Aber in diesem Moment meiner Wanderschaft hatte ich ihn völlig vergessen.
Keine Ahnung, wie lange ich unterwegs gewesen war. Meine Füße waren vom Schlamm und Dreck verkrustet, vermutlich unterkühlt. Ich spürte es nicht. Meine Arme waren von den Ästen der Bäume zerkratzt, meine Finger blau vor Kälte und mein Kleid zerrissen. Aber genauso hätte ich bei einer heißen Schokolade mit meiner Mutter unter einer Decke kuscheln können; ich hätte keinen Unterschied gemerkt.
Irgendwann lichteten sich die Bäume. In der Ferne tanzte ein Leuchten, reckte sich nach allen Seiten und brannte sich in den weißen Nebel. Ich folgte ihm und trat kurz darauf auf eine kleine Lichtung.
Und vielleicht hätte ich an diesem Punkt merken sollen, das etwas nicht stimmte. Der Regen schlug ein grausames Stakkato. Trommelnd gingen unzählige Regentropfen auf die Blätter des Waldes nieder. Doch hier, auf dieser Lichtung, schien das Gras unberührt. Angenehm kühl passte es sich jeden einzelnen Schritt an. Sanft umwaberte der Nebel meine nackten Beine. Er zog mich weiter. Ich hörte seine Stimme. Rau und alt. Komm mit uns, flüsterte er. Komm mit uns.
Und wie er mich durch den Wald geführt hatte, so brachte er mich zum Herzen der Lichtung. Es strahlte.
Im Mittelpunkt flackerte ein kleines Lagerfeuer, hübsch und warm. Und an diesem Feuer saß eine gebeugte Gestalt in einem alten, grauen Wollumhang und mit einem riesigen Schlapphut. Das Gesicht war nicht zu erkennen. Er hielt es gesenkt, während er mit einem langen Stock im Feuer herumstocherte.
»Setz dich, Kind!«, sprach er und ich leistete keine Widerworte. Schweigend nahm ich auf einem umgeworfenen Baumstamm Platz und starte in die Flammen. Sie tanzten, warfen ab und an freche Funken und schmiegten sich leidenschaftlich in die Richtung des Alten. Ja . alt . an seiner Stimme hatte ich es erkannt. Sie war ruhig und sanft, aber es war auch deutlich zu erkennen, wie sie im Zorne klingen mochte.
»Hast du Hunger?«, fragte er. Ich nickte. Und als ich wieder zum Feuer schaute, stand in diesem ein Topf mit einer leckeren, wohlriechenden Suppe. Der Alte hatte statt seines Stockes einen Holzlöffel in der Hand und eine Schüssel mit eben dem, was ich in dem Topf vermutete. Er reichte es mir und lächelte. Und ich sah zum ersten Mal sein runzliges, graues Gesicht und seine wunderschönen, eisblauen Augen. Sie funkelten gütig. Sie lächelten, ja lachten mehr, als es sein Gesicht je könnte. Seine Augen machten ihn stark und unbesiegbar, während sein restliches Gesicht vom Alter gezeichnet war. Seine Lippen waren dünn und farblos, seine Wangen eingefallen und seine Nase lang und gebogen. Er erschien wie jeder andere alte Mann, abgesehen von seinen Augen.
»Danke!«, flüsterte ich in die Schüssel hinein. Natürlich war mir bekannt, dass man von fremden Menschen nichts annehmen sollte, aber mein Magen knurrte von den Anstrengungen der letzten Stunden und der Duft der kargen Mahlzeit verführte meine kindliche Neugierde. Die Suppe sah wunderbar aus. Klar wie Wasser mit Kräutern, Pilzen, Möhren...
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