Schweitzer Fachinformationen
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Karlies Trommelfell ist stecknadelgroß verletzt. Dr. Haus hat ihr Paracetamol und Ibuprofen im Wechsel verschrieben. Alle vier Stunden. Er meinte, Antibiotika gebe man bei einer Mittelohrentzündung nur noch selten, sie heile in den allermeisten Fällen von selbst ab. Aylins Mama hatte recht. Durch die Verletzung konnte alles abfließen, und über die Schmerzen legte sich eine schorfige Kruste. Kinder sind nicht nachtragend. Sie vergessen den Schmerz, sobald er weg ist, und nur die karamellfarbenen Flecken auf dem Sofa erinnern an das triefende Ohr.
Der Lärm aus dem Innenhof hallt bis nach oben. Ein Grundrauschen aus Lachsalven und Beleidigungen. Das ganze Haus ist draußen. Der hundertste Lockdown ist vorbei. Die Pandemie ist fast vergessen, oder sie haben nie daran geglaubt. Niemand weiß mehr, was man darf und was nicht, man hat schon lange den Überblick verloren, die Kitas sind wieder offen, haben aber kein Personal. Jeder macht wieder, was er will, und man redet übers Wetter und über die Kinder, aber auf keinen Fall über Viren, weil immer jemand dabei ist, der hinter eine weltweite Verschwörung gekommen ist und eifrig finstere Theorien propagiert.
Karlie will in den Hof. Die Jungs aus dem Block spielen Fußball gegen die Hauswand, und Aylins Mama sitzt wie ein Bademeister auf einem Campingstuhl und hält Wache. Seit im Hof ein Mann masturbiert hat, lassen wir die Kinder nicht mehr allein runter. Esther ist sich sicher, dass es der Hausmeister war, man habe ja gesehen, wie der drauf ist, als im Hof die tote Taube lag. Die Kinder seien heute noch traumatisiert davon. Die hätten das arme Ding beerdigen wollen, Abschied nehmen, da sei er angestampft gekommen und habe mit schmalen Augen gemurrt, »dit is keen Vogel, dit is Hausmüll.« Dann habe er sich eine Plastiktüte über die Hand gestülpt, die Taube in die schwarze Mülltonne geschmissen und sich gefreut wie ein Schnitzel.
Aylins Mama schüttelt den Kopf. »Nee, der war's nicht.« Es sei bestimmt ein Vater gewesen, der sich im Hof einen runtergeholt habe. Väter seien die schlimmsten, sagt sie. »Wenn zu Hause nichts mehr läuft, kommen sie auf komische Gedanken.«
»War ja klar«, sage ich, »die Frauen sind schuld.«
»Das hab ich doch gar nicht gesagt.«
»Du hast gesagt, wenn zu Hause nichts mehr läuft.«
»Ich weiß, was ich gesagt hab«, sagt Aylins Mama.
»Ach, Mädels«, sagt Esther, »es kann doch jeder gewesen sein. Männer sind alle gleich.«
Alle nicken, auch Ming. Ihr Typ steht oben am Fenster und raucht. Sie küssen sich schon lange nicht mehr. Nur flüchtig auf den Mund mit geschlossenen Lippen. Aylins Mama schaut kurz hoch. Ein Kind reiche ihr, stöhnt sie. Sie habe lange genug ihren Ex durchgefüttert. Kinder, Haushalt, Stunden schrubben und dann soll auch noch gekocht werden. Nee, da mache sie nicht mehr mit.
Das Wetter zieht sich zu. Im Hof staut sich die Hitze. Die Luft drückt, sie strotzt vor Feuchtigkeit. Frank ruft an, mein Agent. Sein Büro liegt in Kreuzberg, mit Hunden unter dem Schreibtisch und einer Katze, die den ganzen Tag in der Sonne brät. Er kennt Gott und die Welt, die Typen von der Straße und die Stars, und hat mich schon durch die Küche auf Filmpartys geschleust. Frank redet wie ein Zuhälter. Er nennt mich eines seiner Pferdchen, die er am Laufen hat, und lacht dabei so breit, dass man es ihm nicht übel nehmen kann.
»Die Beulwitz«, schnauft er ins Telefon, »du bist zum Casting eingeladen. Romanverfilmung, was ganz Großes.«
»Fick dich«, lache ich. »Undine Beulwitz castet schon ewig. Das Ding ist bestimmt längst abgedreht.«
»Nee, so was dauert. Finanzierung, Entwicklung, dies, das.« Ich solle meine Mails checken. Er schicke mir gleich die Szenen rüber. Eine schöne Rolle. Streng vertraulich. Es ist immer das Gleiche, erst muss alles superschnell gehen, und dann hört man nie wieder was. Mein letzter Drehtag ist über zwei Jahre her. Eine Werbung für Persil, in der ich high von zu viel Frauengold an strahlend weißer Wäsche schnüffeln musste. Ein Drehtag in zweieinhalb Jahren. Ich kriege eine Absage nach der anderen, und es bringt auch nichts, wenn Frank mir aufzählt, welche Stars mal ganz unten waren, bevor sie es geschafft haben. Tellerwäschergeschichten funktionieren erst in der Retrospektive, davor hält man besser seinen Mund und tut so, als hätte man alles im Griff.
Ich gehe rüber in den Späti. Im hinteren Raum stehen alte Computer und volle Aschenbecher, die meisten kommen her, um Geld über Western Union zu überweisen oder Unterlagen fürs Jobcenter auszudrucken. Der Laden gehört zwei Brüdern und hat vierundzwanzig Stunden geöffnet, auch an Weihnachten und am Zuckerfest. Ich setze mich an den hintersten Rechner, gleich neben der Toilette, und drucke die Szenen aus. Das gebleichte Papier riecht nach Chlor wie in einer Schwimmhalle. Ich bezahle die Kopien. Der jüngere der Brüder legt für Karlie eine Gummischlange obendrauf und sagt, ich solle beim Casting fragen, ob sie nicht noch eine Rolle für ihn haben. Er könne alles spielen. »Kanacke, Kartoffel, egal was«, und grinst, »du kannst dann immer umsonst kopieren.«
Draußen bringen sich schwere Wolken in Stellung und plustern sich vor der Sonne zu Atompilzen auf. Das Gewitter ist schon ganz nah. Aylins Mama ist mit offenem Mund auf dem Campingstuhl eingeschlafen. Der Wind wirbelt den Müll auf, weiße Plastiktüten fliegen durch die Luft, es zieht durch den Hof, als möchte mir der Wind die Blätter aus den Händen reißen. Karlie und Aylin kommen auf mich zugerannt. Die anderen Kinder flattern wie Tauben in alle Himmelsrichtungen. Aylins Mama bringt sich mit dem Stuhl über dem Kopf in Sicherheit, und in dem Moment kracht und donnert es, irgendwo schlägt ein Blitz ein, das Hochhaus torkelt wie angeschossen, Blumentöpfe fallen von oben in den Hof, Türen knallen, und im Nachbarhaus geht das Licht aus. Wir rennen hoch in unsere Wohnung, die wie ein Baumhaus in den Ästen hängt und Karlie geduldig in den Schlaf wiegt.
Das Papier ist klamm, aufgequollen vom vielen Text, und die Seiten wellen sich unter dem neongelben Leuchtmarker. Ich streiche alles an, jedes Wort, jedes Leerzeichen. Ich solle den Text über Nacht in mich reinprügeln und beim Vorsprechen alle an die Wand klatschen, hat Frank gesagt. Er nennt mich einen Rohdiamanten. Er hat immer an mich geglaubt, und wenn er von mir spricht, erzählt er allen, ich sähe aus wie die junge Jane Birkin. 68er-Ausstrahlung. Lang und dünn, mit hohen Wangenknochen und den Stirnfransen in den Augen. Ich darf ihn nicht enttäuschen.
Das Vorsprechen ist am anderen Ende der Stadt, am Viktoria-Luise-Platz. Schöneberger Altbau mit hohen Decken, Stuck und geöltem Fischgrätenparkett. Alles unter Denkmalschutz. Sie casten schon den ganzen Tag. Die Luft ist verbraucht. Niemand nimmt mich wahr. Bis jetzt sei noch nichts dabei gewesen, sagt der Regisseur gelangweilt. Er brauche zwei Minuten, um zu wissen, ob jemand die Richtige sei, zwei Minuten und keine Shakespeare-Monologe. Die Produzentin Undine Beulwitz sitzt rauchend daneben und unterhält sich mit der Casterin über den zeitkritischen Gehalt und die gesellschaftliche Relevanz von diesem und jenem. Sie ist die Einzige, die hier rauchen darf.
Ich frage sie nach einer Kippe. Stille. Undine Beulwitz hebt den Blick und schaut mich zum ersten Mal an. Das ist meine Chance. Ich stelle mich vor, Name, Wohnort, Alter, zeige mein Profil und meine Hände, erst die Innenflächen und dann die abgekauten Fingernägel. Der Regisseur unterbricht mich. Das sei hier kein Werbecasting. Meine Hände interessieren ihn nicht. Er suche nur nach der Richtigen. Ich solle erst mal vor der Tür in die Emotion kommen, und wenn ich so weit sei, ihnen etwas anbieten. »Und ach«, sagt er hinterher, »vergiss bitte den Text.« Er brauche jetzt etwas Frisches. Er könne den Text nicht mehr hören.
Ich habe keine Ahnung, was er will. Schlechte Schauspieler würden jetzt anfangen zu diskutieren, noch mal nachfragen und so. Ich würde auch gerne noch mal nachfragen. Aber ich mache es nicht. Wenn man auf dem Zehnmeterturm steht, muss man springen. Springen oder wie ein Idiot rückwärts wieder runterklettern. Bloß nicht runterschauen. Ich würde am liebsten abhauen. Zwei Schritte bis zum Abgrund. Ich strecke die Füße durch, presse die Arme an den Körper, spanne alles an und zähle auf drei, und auf ...
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