Schweitzer Fachinformationen
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Am Sonntagmorgen um elf verlässt Aura das Gerichtsgebäude.
Der Himmel über Madrid hat sich zugezogen. Grau wie Putzwasser. Es weht ein erbarmungsloser Wind, der Blätter, Staub und zerfetzte Lidl-Prospekte durch die Luft wirbelt. Auf der Plaza Castilla herrscht reger Verkehr. Die Umgebung im Schatten der Kio-Türme könnte nicht hässlicher und unmenschlicher sein.
Tief atmet Aura die verpestete Luft ein und denkt, dass sie in ihrem ganzen Leben nichts Schöneres gesehen hat.
Was vor allem dem Wahnsinn der vergangenen zwei Stunden geschuldet ist.
Als Aura in der Zelle erwacht, weiß sie nicht, wo sie ist. Benommen und verwirrt hebt sie den Kopf. Sie blinzelt und versucht, ihre Augen an das Licht zu gewöhnen, in die raue Wirklichkeit zurückzukehren. Die Neonröhren sind wieder eingeschaltet, und die Zelle ist halb leer. Nur die beiden Frauen, die nicht Spanisch sprechen, liegen unter dem Fensterchen eingerollt und schlafen tief und fest.
Von der betrunkenen Galicierin keine Spur. Auch nicht von den Latinas, abgesehen von einem blutigen Schmierer an der Wand, Yonis Beitrag zu den Wandmalereien, davon ist Aura überzeugt.
Das könnte mein Blut sein. Bei dem Gedanken läuft Aura ein Schauer über den Rücken.
Genau. Das erwartet mich jetzt.
Geräusche vor der Zelle holen sie aus ihrem Selbstmitleid. Die Tür wird geöffnet, und eine Aufseherin brüllt ihren Namen.
»Reyes Martínez!«
Gehorsam schlurft Aura zur Tür. Die Aufseherin führt sie durch die labyrinthischen Flure zur Krankenstation.
»Willst du eine Probe?«, fragt sie.
»Verzeihung?«
»Eine Urinprobe.«
Als sie Auras verständnislosen Blick sieht, erklärt die Wärterin: »Wenn du Konsumentin bist, ist das strafmildernd. Alle lassen eine Urinprobe machen.«
Im Geiste geht Aura die kräftigsten Substanzen durch, die sie im vergangenen Monat zu sich genommen hat - einschließlich Ibuprofen, Fanta light und ein paar Tropfen des abgelaufenen Tabascos auf den Spiegeleiern -, und schüttelt den Kopf.
»Sicher? Du musst dich nicht schämen. Dauert auch nicht lange .«
Die Frau ist so freundlich, dass Aura versucht ist, einzuwilligen, nur um sie nicht zu verärgern. Sie wirft einen Blick in die Krankenstation und sieht dort Yoni, die mit verbundenem Arm und dem Gesicht voller blauer Flecken auf einer Krankenliege sitzt.
»Nein danke, das ist nicht nötig.«
»Wie du willst«, sagt die Frau und setzt sich in Bewegung.
Yoni macht Anstalten, aufzustehen, wird aber von einer Krankenschwester festgehalten. Ein drohender Schrei verfolgt Aura, die hinter der Wärterin den Schritt beschleunigt.
»Ich mach dich fertig!«
Wer hat der bloß in den Kopf geschissen?, denkt Aura und freut sich, die Krankenstation hinter sich gelassen zu haben.
Kurz darauf gelangen sie zu einem Raum, vor dem ein kleiner, glatzköpfiger Mann mittleren Alters in einem zerknitterten Anzug steht, der aussieht, als hätte er darin geschlafen.
»Ich bin dein Pflichtverteidiger, du wirst dem Richter vorgeführt. Name?«, sagt er, als Aura vor ihm steht.
Aura nennt ihn. Der Mann holt einen Aktenordner aus seinem Rucksack, der zwischen seinen Beinen steht, und findet die Strafanzeige seiner Klientin. Er überfliegt sie, murmelt ein paarmal »Hm, hm«, dann packt er sie an der Schulter und will sie in den Raum schieben.
»Komm, es geht los.«
»Hören Sie, wollen Sie mir nicht erst .«
»Du hältst schön den Mund und streitest alles ab. Vermassle es nicht.«
»Aber ich würde gern erklär.«
»Du sollst alles abstreiten, verdammt.«
Aura zwingt den Mann zum Stehenbleiben.
»Können die mich hier festhalten?«
Der Mann schnalzt mit der Zunge und zieht lautstark Luft ein.
»Es ist Sonntag, der Richter hat es eilig, und deine Akte ist kompliziert. Wenn ihm danach ist, wirst du bis Montag drinbleiben.«
»Ich muss hier raus«, sagt Aura. »Sagen Sie mir, was ich tun soll.«
»Das habe ich dir schon gesagt«, erwidert der Anwalt und schiebt sie in den Raum.
Der Saal ist kleiner als die Zelle, aber voller. Ein paar Tische, eine Handvoll Stühle, ein Richter, ein Staatsanwalt, mehrere Aufseher, ein Pflichtverteidiger und die Angeklagte. An den sonnengelb gestrichenen Wänden gibt es weder Fenster noch sonstige Dekoration außer dem Porträt seiner Majestät König Felipe VI., dessen angedeutetes Lächeln daran erinnert, dass das Recht für alle gilt.
Der Staatsanwalt erhebt sich und liest die Anklageschrift gegen Aura vor, die mitten im Raum steht. Der Richter hebt den Blick erst, als er fertig ist. Aura beantwortet jede Frage des Staatsanwalts - die meisten beginnen mit »Stimmt es, dass .« - mit einem überzeugten Nein. Sieben Mal, sieben Lügen.
Als die Befragung beendet ist, räuspert sich der Richter gelangweilt. Er ist ein Mann fortgeschrittenen Alters - wenn auch noch keine siebzig - mit einem weißen Spitzbart und sieht eher wie ein pensionierter Optiker aus, nicht wie ein Richter des Zivilgerichts.
»Das ist ein Bagatelldelikt. Kann mir die Staatsanwaltschaft erklären, warum die Angeklagte hier ist?«
»Gegen Señora Reyes liegt ein Haftbefehl vor, und in drei Wochen ist die Gerichtsverhandlung, Euer Ehren. Deshalb hat die Polizei sie festgenommen, eine vorbeugende Maßnahme.«
»Welche Anklagepunkte?«
Jetzt geht's los, denkt Aura und schließt die Augen.
»Betrug im großen Stil, unrechtmäßige Aneignung, Dokumentenfälschung, Geldwäsche. Alles unter strafverstärkenden Umständen, Euer Ehren.«
Der Richter sieht von der Mappe auf und mustert Aura neugierig. Die teure Bluse, die farblich dazu passenden schönen Schuhe. Mal abgesehen von den Augenringen, dem zerzausten sandfarbenen Haar und den hängenden Schultern als Folge einer Nacht im Gefängnis.
»Um welche Summe handelt es sich?«
Der Staatsanwalt trägt die acht Ziffern bis zum letzten Euro vor. Ohne Dezimalstellen; ist auch nicht nötig.
Der Richter hebt vielsagend die Augenbrauen.
»Und die Kaution?«
»Eine halbe Million Euro, Euer Ehren.«
Im Vergleich zu den zehn Millionen wirkt die halbe Million geradezu lächerlich. Eine symbolische Zahl, um sicherzustellen, dass die Beschuldigte nicht abhaut und so weiter. Für Aura ist das, als würde man von ihr verlangen, den Mond mit einer rosa Schleife zu versehen.
»Verstehe«, sagt der Richter mit einer Miene, die das Gegenteil ausdrückt. »Señora Reyes, Sie bringen mich in eine schwierige Lage. Eine Strafanzeige wegen Gewaltanwendung wie die, die Sie vor dieses Gericht gebracht hat, ist ein Problem. Selbst wenn es sich bei der Straftat um ein Bagatelldelikt handelt.«
»Angebliche Straftat, Euer Ehren«, wirft der Anwalt ein. »Meine Klientin hat die Tat in vollem Umfang bestritten.«
»Es ist für dieses Gericht keine große Überraschung, dass einige Ihrer Klienten sogar noch die Luft zum Atmen bestreiten, Herr Pflichtverteidiger«, erwidert der Richter lakonisch.
Sein Blick ruht erneut auf der Mappe, und seine Finger trommeln bedächtig auf den Tisch, während er seine Worte abwägt.
»Ihr Fall ist typisch«, sagt er kurz darauf. »Ein Mensch, dem eine Gefängnisstrafe droht, hat bei Näherrücken des Termins oft das Gefühl, nichts mehr zu verlieren zu haben. Sein Sinn für Moral nimmt ab, und er neigt dazu, Fehler zu machen, die er unter anderen Umständen nicht machen würde. Verstehen Sie, was ich Ihnen damit sagen will, Señora Reyes?«
»Ich verstehe.«
»In dieser Sachlage ist es besser, zum Wohle der Gesellschaft und des Angeklagten selbst, die Inhaftierung so bald wie möglich zu vollziehen. Ich glaube, das ist bei Ihnen der Fall, Señora.«
Die Angst, die Aura verspürt hat, als sie - vor knapp fünfzehn Stunden - mit dem Gesicht auf die Motorhaube des Streifenwagens gedrückt wurde, steckt noch in ihr. Mal ist sie stärker, mal schwächer, eine Furcht, die sie nur schwer kontrollieren kann.
Doch in diesem Augenblick schwächt sich die Angst so weit ab, dass sie fast verschwunden ist. Denn Aura hat den letzten Satz des Richters eher als versteckte Frage verstanden denn als direkte Drohung.
Und wieder schimmert die alte Aura hindurch.
»Das wäre der Fall, wenn ich für das, was in der Strafanzeige steht, verantwortlich wäre. Aber ich habe Ihnen bereits gesagt, dass das nicht stimmt, Euer Ehren«, lügt Aura selbstbewusst. »Und um ehrlich zu sein, muss ich Ihnen sagen, dass ich nicht die Absicht habe, vorzeitig die Haftstrafe anzutreten, sondern dass ich das Geld für die Kaution aufbringen und mich als freier Mensch dem Prozess stellen werde, was mein gutes Recht ist.«
Der Richter mustert Aura aufmerksam.
»Aha. Und die Nacht in der Zelle hat vermutlich etwas mit dieser Entscheidung zu tun.«
Diplomatisch zuckt Aura mit den Schultern.
»Señora Reyes, wenn ich Sie heute freilasse, gehe ich ein Risiko ein. Kann ich Ihnen vertrauen?«
»Ja, Euer Ehren. Vollkommen, Euer Ehren. Ich habe mein Lehrgeld bezahlt. Ich kann Ihnen aufrichtig versichern, dass ich ein neuer Mensch bin und keine Gefahr für die Gesellschaft darstelle. Das ist die reine Wahrheit«, erklärt Aura in ihrer besten Imitation von Morgan Freeman.
Einen Moment lang fürchtet sie, zu weit gegangen zu sein, aber der Richter wirkt zufrieden, fast amüsiert...
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