Schweitzer Fachinformationen
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Es begann mit einer Fernsehaufzeichnung. Ich mochte keine Videos von mir, hatte auch als Jugendliche selten welche gemacht und hatte nie Schauspielerin oder Sängerin oder auf irgendeine andere Art berühmt werden wollen, ganz im Gegensatz zu meinen Freundinnen. Bis heute spreche ich nicht gerne vor Menschen. Schulaufführungen waren traumatisierend für mich, Vorlesen vor der Klasse ein Graus, und bei dem Gedanken, bei Tausenden, vielleicht Millionen von Fremden im Wohnzimmer zu erscheinen, wenn auch nur stumm und im Hintergrund, versetzte mich in Panik. Aber ich bin auch loyal, und ich hasse es, Menschen zu enttäuschen, vor allem jene, die ich liebe. Vor allem Amal.
Also stand ich an dem Morgen vor dem Spiegel in unserem Schlafzimmer, meine komplette Garderobe vor mir ausgebreitet, und wischte mir mit einem Taschentuch den Schweiß aus den Achseln.
Amal kam aus dem Bad, hatte die Haare in ein Handtuch gewickelt. Ich versuchte, sie nicht zu beachten, souverän zu wirken, aber nach beinahe fünfzehn Jahren konnte sie mich lesen wie ihre Architect Digests, die sie in ihrem Studio sammelte. Sie zögerte nur kurz und griff dann zielsicher in den Kleiderhaufen.
»Das Grüne!«
Es war kein Vorschlag, sondern eine Tatsache, und ich dankte ihr stumm. Wie immer war ihre Wahl perfekt: ein dunkelgrünes Kleid mit schmalem Rock, wadenlang, klassisch, elegant, unauffällig. Sie würde mir die passenden Schuhe raussuchen, später, hatte sicher schon eine Idee, welche es sein würden. Solche Entscheidungen fielen Amal leicht.
Ich nahm ihr das Kleid ab, und sie küsste mich auf die Wange. »Es wird ganz unspektakulär, du wirst schon sehen.« Ihre Hand lag warm auf meinem Rücken, ihr Daumen streichelte mich sanft, eine Geste, die sie sich angewöhnt hatte, um mich zu beruhigen. Weil sie wusste, dass ich in solchen Momenten nicht mehr Nähe ertrug.
Eine Stunde später trafen wir bei Amals Bruder ein. Der E-Wagen, den wir per Handy bestellt hatten, hielt vor dem Tor des Grundstücks und ließ uns aussteigen. Mo hatte uns gewarnt, dass die Einfahrt von den Transportern des Fernsehteams blockiert sein würde. Wir gingen die weite Auffahrt entlang, schlängelten uns durch die Fahrzeuge, an deren Seiten das Logo des Fernsehsenders prangte. Amal schwebte in ihren Stöckelschuhen elegant über die Pflastersteine. Der Rasen war frisch gemäht, die Beete bunt bepflanzt. Es sah hier immer makellos aus, doch heute lag ein besonderer Glanz auf allem, als hätte eine riesige Hand das Anwesen blank poliert. Selbst das Haus schien zu leuchten.
Die Tür stand offen, und von drinnen schwappten uns Gesprächsfetzen und Gelächter entgegen. Wir traten ein, ich folgte Amals zielstrebigen Schritten durch die Eingangshalle und den Salon auf die Terrasse. Überall schwirrten Menschen umher, verlegten Kabel, stellten Scheinwerfer auf, rückten Blumenbouquets und Beistelltischchen zurecht. Mir hatte die Üppigkeit von Mos und Sabines Haus nie gefallen. Es war zu überladen für meinen Geschmack. Mehr ein Museum als ein Zuhause. Alles war mit so viel Bedacht platziert, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass hier tatsächlich jemand lebte. Wie sie diese Ordnung mit sieben Kindern aufrechterhielt, war mir ein Rätsel.
Auf der Terrasse schoben Produktionshelfer Sitzmöbel zusammen, ein Rattansofa, zwei Sessel zur einen, zwei zur anderen Seite. Ein Sonnensegel sollte uns vor der Hitze schützen. Ein junger Mann hievte einen Ficus in den Hintergrund, um den Blick auf das Fernsehequipment zu versperren.
Wir blieben in der Terrassentür stehen wie ungebetene Gäste, während Unbekannte vorbeihuschten und uns keines Blickes würdigten. Irgendwann kam eine kleine Frau mit einem Klemmbrett auf uns zu.
»Sie sind?« Ihr Ton war herrisch und kühl. Ich musste den Impuls unterdrücken, mich bei ihr zu entschuldigen.
»Ich bin Mos Schwester«, sagte Amal. »Meine Frau Emma.« Sie reckte das Kinn. Nein, Amal ließ sich nicht so leicht einschüchtern.
»Wir machen nicht alles overhead, das hatten wir schon besprochen«, sagte die Frau scharf, während sie etwas auf ihr Klemmbrett kritzelte.
»Ich verstehe nicht«, sagte Amal, aber die Frau tippte sich ans Ohr als Zeichen, dass sie nicht mit ihr geredet hatte. Sie wandte sich ab, und kurz konnte ich das winzige Earpiece erkennen, über das sie mit der Crew sprach.
Sie winkte uns, ihr zu folgen, und wir eilten über die Terrasse in den Wintergarten, wo man die Maske aufgebaut hatte. Endlich bekannte Gesichter. Mo saß vor einem Spiegel, ein weißes Tuch um den Hals, und schäkerte mit der Frau, die ihm die Stirn puderte. Auf einer Bank saß Sabine neben einer alten Dame. Die Person der Stunde, wenn Mo ihr nicht die Show stehlen würde. Auch Lisa und Joel waren hier, Sabines Schwester und ihr Mann, auch sie wurden gerade geschminkt. Lisa sah uns als Erste, winkte nur, während ein junger Mann ihr ein vulgäres Pink auf die Lippen malte.
»Ami«, rief Mo, stand auf und kam mit ausgebreiteten Armen auf uns zu. Die Maskenbildnerin nahm es mit professioneller Gelassenheit. Er umarmte uns gleichzeitig. »Emma. Wie schön, dass ihr da seid.«
Wieder einmal fiel mir auf, wie ähnlich er und Amal sich sahen. Die scharfen Nasen, die schmalen Gesichter, hohe Wangenknochen. Ihre Augen machten immer den Eindruck, als trügen sie Lidstrich und Wimperntusche. Makellose hellbraune Haut, schwarzes Haar, das nicht ergrauen wollte, obwohl er auf die Fünfzig zuging. Bis heute sind Mo und Amal die schönsten Menschen, denen ich je begegnet bin.
Er führte uns in den Raum, und nun kam auch Sabine auf uns zu und hauchte Küsschen neben unseren Gesichtern in die Luft. »Entschuldigt, aber ich bin schon fertig mit der Maske.« Ihre perlweißen Zähne leuchteten, wenn sie lächelte. »Aber kommt, ihr müsst jemanden kennenlernen.«
Sie führte uns zu der Bank hinüber, wo wir vor der winzigen Dame stehen blieben. Wie riesig wir auf sie wirken mussten. Aber vielleicht erinnere ich es auch falsch. Vielleicht war sie nicht so klein, wie das Bild in meinem Kopf es mir weismachen will. Doch so sehe ich sie vor mir: silbernes Haar zu einem Knoten gebunden, gebeugter Rücken, die seidig-faltige Haut des Alters. Gerne hätte ich sie berührt, traute mich aber nicht.
»Dies hier ist Louise Sommer«, sagte Sabine und leuchtete dabei ein wenig.
»Es freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Amal.
»Sie sind Ihrem Bruder ja wie aus dem Gesicht geschnitten.« Die Stimme der alten Frau klang erstaunlich weich und hell. »Wenn ich gewusst hätte, dass es zwei von Ihnen gibt.« Dann sah sie zu mir. »Und Sie, meine Liebe, haben ganz schön Muffensausen, was?«
Ich legte mir eine Hand an die Wange. Ja, ich fühlte mich warm an. »Ist es so offensichtlich?«
»Wenn die da vorne«, sie wedelte mit der Hand in Richtung der Maskenbildnerin, »mit Ihnen fertig ist, wird man nichts mehr davon sehen. Außerdem geht es heute sowieso um mich. Machen Sie sich also keine Sorgen.«
Und plötzlich fiel mir wieder ein, was hier passierte, was dieser Tag für Louise Sommer bedeutete, und ich schämte mich, dass sie sich um mich kümmerte.
»Und wo ist der Wonneproppen?«, fragte Amal. Ich war dankbar für den Themenwechsel.
»Kommt mit!«
»Maske in zehn!«, rief uns die Klemmbrettfrau hinterher, als wir den Wintergarten verließen. Wir folgten Sabine in den ersten Stock, das Kindergeschoss, wie Sabine es nannte.
Wir kamen an einer offenen Tür vorbei, hinter der die anderen sechs Kinder saßen, jedes an einem eigenen Bildschirm, nur die kleine Sophia auf dem Schoß der Nanny. Schwarze und weiße Haarschöpfe, als hätten Mos und Sabines Gene keine Kompromisse eingehen wollen.
»Sie dürfen zocken, dann sind sie nicht im Weg und machen keinen Lärm«, sagte Sabine mit der ruhigen Rationalität einer trainierten Mutter.
Am Ende des Flurs öffnete sie eine Tür. Leise traten wir in das dunkle Zimmer. Amal und ich warteten, während Sabine die Jalousie hochfahren ließ und vorsichtig ihren Jüngsten weckte. Zuerst hörte ich nur das sanfte Kinderschnaufen, dann hob sie ihn hoch, setzte ihn auf ihre Hüfte, und er rieb sich die Augen und musterte uns schlaftrunken.
»Hallo, Louis«, säuselte Amal, und er lächelte.
Kinder. Sie waren ... sind ein wertvolles Gut in unserer Gesellschaft. Jede Empfängnis ist geplant, jede Geburt froh erwartet. Viele Menschen werfen uns Grausamkeit vor, Zwang, Unterdrückung, dabei wird jedes Kind gefeiert, die Eltern bekommen jede nur erdenkliche Unterstützung. Für Gesundheitsversorgung und Ausbildung ist gesorgt. Man verlangt lediglich, dass die Entscheidung, ein Kind in diese scheidende, heiße, karge Welt zu setzen, bewusst getroffen wird. Ist diese Erwartung so falsch? Ist es nicht die größte Verantwortung, die man tragen kann? Die für einen anderen Menschen, und nicht nur das, sondern auch für die Bedeutung dieses Menschen in der Welt? Für die Konsequenz, die seine Existenz hat? Ein weiterer Esser, ein weiterer Stromverbraucher, Transportsystembenutzer, Shopper. Eine weitere Belastung für die schwindenden Ressourcen unseres Planeten.
Ich weiß nicht, ob dieser Gedanke es war, der mich davon abgehalten hat, selbst Kinder zu bekommen. Vielleicht fehlte mir einfach der Instinkt. Sogar Louis mit seinem dichten, schwarzen Haarschopf und seinen klugen Augen brachte meine Hormone nicht in Schwingung. Was nicht heißt, dass ich ihn nicht mochte. Oder andere Kinder. Ich wollte nur keine eigenen. Und zum Glück teilte Amal diese Einstellung. Bei Kindern gibt es keine Kompromisse.
Sabine machte Louis zurecht, während wir uns in die Maske...
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