Schweitzer Fachinformationen
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So wie man bei einem grippalen Infekt auch erst einmal schaute, was die Hausapotheke an fiebersenkenden und schmerzlindernden Medikamenten hergab, so durchstöberte auch Herr?G. erst einmal die Hausbibliothek nach Wirkstoffen gegen die Angst. Vielleicht waren Heilmittel ja sogar in jener Disziplin zu finden, die Herrn?G. am besten vertraut war, da sie ihn seit seiner Schulzeit begleitete: in der Philosophie. Das belächelte Orchideen- und »Laberfach«, das man in der Oberstufe nur hinzuwählen konnte als schmückendes Beiwerk, von dem klar war, dass es niemals von Nutzen sein würde.
Die Philosophie war im Grunde genommen keine Wissenschaft und noch nicht einmal Weisheit, sie war dem Wortsinn nach nur die »Liebe zur Weisheit«. Wer philosophierte, behauptete nicht, alles zu wissen oder erleuchtet zu sein, im Gegenteil: Philosoph:innen waren Suchende, Zweifelnde, Fragende, die sich nicht zufriedengaben mit dem Leben, wie es nun mal war, die nicht im Reinen waren mit den Verhältnissen; die zugleich über die Welt staunen und eine Art von Liebe und Begeisterung empfinden konnten für neue Gedanken. Genau so war es Herrn?G. im Unterricht von Herrn?P. gegangen: Es öffneten sich ständig Türen in hellere Räume, in denen Zusammenhänge klarer wurden.
Herr?P. war ein Lehrer, dessen Autorität allein in seiner Persönlichkeit, in seiner Lebenserfahrung und in seinem freundlichen Wesen begründet war. Ja, für Herrn?G. war Herr?P. der Inbegriff eines glücklichen Menschen, auch wenn er ihn sicherlich etwas idealisierte, vielleicht auch, weil er so anders war als Herr?G.: so ohne Angst, vertrauensvoll, lebensbejahend. Äußerlich hatte er Ähnlichkeiten mit einem buddhistischen Mönch: Er sprach mit ruhiger, tiefer Stimme, atmete in den Bauch und lachte viel. In seinem Unterricht wurde meditiert, über Kafka, Kant, Nietzsche und den Zen-Buddhismus diskutiert. Er nahm seine Schüler:innen mit ins Kloster, aber auch mit nach Italien, er lehrte sie also beides: Askese und Sinnenfreude, Einkehr und Fröhlichkeit, stilles Wasser und Rotwein.
Als Herr?G. eines Tages ein Referat über Arthur Schopenhauer halten sollte und sich ein Buch bestellte, das in die Philosophie Schopenhauers einführte, da war er zunächst überwältigt von der Komplexität dieser Gedanken: »Die Welt als Wille und Vorstellung«, was sollte das bedeuten? Doch je mehr sich ihm erschloss, wenn auch zunächst nur bruchstückhaft, desto begeisterter war er. Für einen 17-jährigen Menschen fühlte sich das revolutionär an: die Welt, wie sie sich zeigte, derart auseinanderzunehmen, hinter den Schleier zu schauen, zu ergründen, wie unsere Wahrnehmung und unser Geist funktionierten, welche Prinzipien die Welt ausmachten.
Für Herrn?G. war die Erinnerung an Herrn?P. und an dessen Unterricht eine Quelle der Kraft und des Lichts, auch wenn das ein bisschen esoterisch klang, und ein wesentlicher Grund, weshalb er dann auch Philosophie studierte, also ganz offiziell an einer Universität. Auch wenn viele aus seinem Umfeld damals ratlos mit den Schultern zuckten. »Philosophie? Aha. Und was macht man dann damit?« In Süddeutschland zählten - so kam es Herrn?G. jedenfalls vor - die Produktivität und das Bruttoinlandsprodukt. Man stand früh auf, setzte sich in seinen Dienstwagen und ärgerte sich über den Berufsverkehr.
Andererseits war es Herrn?G. unter solchen Bedingungen materieller Sicherheit überhaupt erst möglich, frei von finanziellen Erwägungen über sein Studienfach zu entscheiden. So hatte er das Privileg, sich zeitweise in einen rosafarbenen Elfenbeinturm verabschieden zu dürfen: in die Tübinger Burse, die Philosophische Fakultät, ein tatsächlich rosafarbenes Gebäude, in dem man mit Blick auf den leise dahinströmenden Neckar, Schwäne und Stocherkähne (die Kähne wurden jeweils mit einem überdimensionalen Zahnstocher vorangetrieben) die überlieferten Schriften Platons interpretierte oder Hegels Phänomenologie des Geistes auseinandernahm - und dabei nicht selten im gedanklichen Nebel herumstocherte.
Doch irgendwie hatte das etwas Altehrwürdiges, fand Herr?G. Und wenn er oben in der Bibliothek an einem Schreibtisch saß und versonnen aus dem Fenster schaute, kam er sich manchmal schon wie ein echter Schriftsteller vor, der große Gedanken zu Papier brachte. Die Weltformel oder so etwas. Es gab unter den Kommiliton:innen die Vergeistigten und Entrückten, die sogar an der Supermarktkasse Descartes lasen, ohne den Blick vom Discours de la méthode zu heben, während der Kassierer die Einkäufe übers Band zog. Es gab die Unverständlichen, die sich derart in schwindelerregender Gehirnakrobatik, geistigen Verrenkungen und Faltungen verloren, dass man sie schlicht nicht mehr verstand und sich Sorgen machen musste, ob sich ihr Geist nach dem Seminar wieder entknoten ließ oder ob sie dazu verdammt waren, fortan mit einem unentwirrbaren Gedanken-Knäuel herumzuirren. Und es gab die »Normalsterblichen«, die Herr?G. sehr ins Herz schloss und die ihm zu sehr guten und treuen Freund:innen wurden.
Vor allem Marty, der einer der wichtigsten Gefährten auf seiner großen Angst-Reise werden sollte. Mit ihm konnte Herr?G. nicht nur alles teilen, was ihm wichtig war und was ihn bewegte, er konnte mit ihm auch »pumpen« gehen. Denn wer etwas so Vergeistigtes wie Philosophie studierte, der brauchte - um sich nicht in Luft aufzulösen - einen körperlichen Ausgleich, eine gute Verbindung zur eigenen Bauch- und Brustmuskulatur. Das hieß: Bankdrücken, wobei es Herr?G. immerhin schaffte, 100?Kilogramm zu stemmen. Aber das nur nebenbei.
Die akademische Philosophie musste ihn in einer Hinsicht natürlich enttäuschen: Sie war weniger Lebenshilfe und Angst-Therapie als vielmehr Logik, rationale Argumentation, Beweisführung und Textanalyse. Sosehr er all das schätzte, mit Texten zu arbeiten und das strukturierte Denken zu üben, so fühlte er sich doch sehr stark zu jenen Denker:innen hingezogen, die in der Tradition der Existenzphilosophie standen, die also das menschliche Leben selbst zum Gegenstand ihres Nachdenkens machten und den Menschen als tragisches, von Emotionen getriebenes sterbliches Wesen in den Blick nahmen - inmitten eines viel größeren, unüberschaubaren Universums. Die sich nicht darum kümmerten, wie dies oder jenes zu beweisen sei oder was die Philosophie eigentlich als solche ausmache, sondern ganz konkret und praktisch: Wie kann ich mein Leben gut führen? Denn darum ging es Herrn?G. ja: wie er ein gutes und möglichst angstfreies Leben führen konnte.
Auf die Frage nach dem guten Leben haben Philosoph:innen seit der Antike (und vermutlich auch schon viel früher) bis hin zu den Existenzialist:innen des 20. Jahrhunderts Antworten gefunden, ohne dass die Frage je abschließend geklärt worden wäre. Sie trieb Platon und Aristoteles um, war aber auch ganz entscheidend für die hellenistischen Schulen der Epikureer, der Stoiker und Skeptiker. Bei allen Unterschieden strebten alle diese Schulen nach einer Art von Seelenruhe, innerer Freiheit und Unerschütterlichkeit - und das gefiel Herrn?G. Denn genau das wünschte er sich auch für sich: die Fähigkeit, sich nicht mehr so leicht erschüttern und aus der Bahn werfen zu lassen von all den Krisen und unvorhergesehenen Ereignissen, die das Leben so mit sich brachte.
In einem Philosophie-Hauptseminar an der rosafarbenen Tübinger Burse hatte Herr?G. die drei hellenistischen Schulen genauer kennengelernt, über den Umweg des französischen Philosophen Michel Foucault, der sich in einer Vorlesungsreihe mit der »Sorge um sich selbst«[43] beschäftigte. Ausgehend von der Aufforderung des griechischen Philosophen Epikur, jeder Mensch müsse sich Tag und Nacht, sein ganzes Leben lang um seine Seele kümmern.[44] Dabei nutzte er das Verb therapeuein, das Herr?G. als »therapieren« kannte.
Es ging also darum, die Seele zu therapieren, sich um sich...
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