Prolog
Ben
»Verschwinde sofort von meinem Grundstück«, dringt die laute und energische Stimme meines Vaters an mein Ohr, noch bevor ich überhaupt die Treppe erreicht habe, die zur Haustür führt.
Es dauert den Bruchteil einer Sekunde, bis diese aufgerissen wird und ich die große Gestalt des Mannes erkennen kann, der mich aufgezogen hat. Auf die meisten Menschen macht er einen einschüchternden Eindruck. Sie ziehen den Kopf ein, wenn er einmal laut wird, und machen ein paar Schritte zurück, um mehr Abstand zwischen sich selbst und ihn zu bringen. Und würde ich ihn nicht kennen, würde es mir wahrscheinlich genauso gehen.
Er ist groß und lächelt verdammt selten. Ich glaube, die Male, an denen er mich wirklich angelächelt hat, kann ich an einer Hand abzählen. Und das ist schon ein paar Jahre her. Außerdem hat er über der rechten Augenbraue eine dicke Narbe. Offiziell behauptet er immer, dass die von einem Unfall stammt. Meine Oma hat mir vor ein paar Jahren allerdings verraten, dass er sie sich bei einer Prügelei in der Schule zugezogen hat.
Noch bevor ich etwas von mir geben kann, um mein Auftauchen zu erklären, kommt er mit einem wütenden Blick auf die Veranda, die sich vor meinem Elternhaus befindet, und stemmt die Hände in die Hüften, während er sich zu seiner vollen Größe aufrichtet.
Ich erkenne, dass er in den Jahren, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben, eindeutig zugenommen hat. Sein Hemd spannt mehr um seinen Bauch herum, als es eigentlich der Fall sein sollte, und sein Gürtel befindet sich im letzten Loch. Damit hatte ich nicht gerechnet. Schließlich hat er immer auf seine Ernährung geachtet, während er meiner Mom Vorhaltungen über ihren ungesunden Lebensstil machte. Er hat ihr sogar mal gesagt, wie schnell es sie ins Grab bringen würde. Dabei bin ich mir sicher, dass es ihm eigentlich egal ist.
Jetzt betrachtet er mich mit einem finsteren Blick, sodass ich nicht mehr darüber nachdenke, einen Schritt näher zu gehen. Mein Ziel war es auch nur, ihn aus der Fassung zu bringen und nicht, mich mit ihm zu prügeln. Das habe ich erreicht.
Ich habe keine Angst vor ihm. Das hatte ich noch nie. In gewisser Weise kann man sogar behaupten, dass ich noch nie Respekt vor ihm hatte. Dennoch frage ich mich gerade, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen ist, hier aufzutauchen. Ich habe nämlich keine Lust auf Streit.
Mit großen Schritten nähert er sich mir und lässt mich dabei nicht aus den Augen. Allein wegen der Art und Weise, wie er sich bewegt, wären die meisten wahrscheinlich sofort wieder abgehauen. Oder sie wären gar nicht erst auf die Idee gekommen, hier aufzutauchen.
Doch ich war noch nie so, wie andere es erwartet haben. Sonst wäre ich nicht in dieser Situation gelandet. Ich bin schon immer meinen eigenen Weg gegangen, ohne dabei auf jemand anderen Rücksicht zu nehmen. Und das werde ich wahrscheinlich auch immer. In der Vergangenheit war es mir egal, ob mein Vater mich anschrie oder meine Mutter es ruhig versuchte. Ich saß da und habe an etwas anderes gedacht. Ich hätte zu alten Freunden fahren sollen. Da wäre der Empfang herzlicher gewesen, fährt es mir beim Anblick meines alten Herren durch den Kopf.
Ich will mit meiner Vergangenheit abschließen. Doch wenn ich einen der Jungs aufsuche, verfalle ich bald wieder in die alten Muster. Und auch wenn ich noch immer nicht das machen will, was mein Vater sagt, so will ich auch nicht wieder straffällig werden.
Dennoch wusste ich von Anfang an, dass es eine scheiß Idee war, hier aufzutauchen. Seitdem die Cops vor der Tür standen, hat mein Vater kein Geheimnis daraus gemacht, dass er mich nicht mehr sehen will. Ehrlich gesagt will ich überhaupt nicht wissen, was er den Nachbarn als Grund für meine Verhaftung genannt hat.
»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, begrüße ich ihn, ohne mich aus der Ruhe bringen zu lassen.
Nur wenige Zentimeter von mir entfernt kommt er zum Stehen und verzieht keine Miene. Aus Erfahrung kann ich sagen, dass das kein gutes Zeichen ist. Doch interessieren tut es mich nicht. Mir ist bewusst, dass er mir Angst machen will. Doch seien wir mal ehrlich. Ich bin erwachsen und habe für die Scheiße geradegestanden, die ich gebaut habe. Es gibt keinen Grund, wieso ich Angst vor ihm haben sollte.
»Du hast keine Ahnung, wie sehr deine Mutter unter dieser Geschichte zu leiden hatte. Das tut sie noch immer. Dein Auftauchen macht es nicht besser. Weißt du, was du uns damit angetan hast? Ich habe es dir damals schon gesagt und ich meine es noch immer: Du bist nicht mehr mein Sohn. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob du das jemals warst. Mein Sohn hätte sich im Griff.«
Mir ist klar, dass er auf meinen Streber-Bruder anspielt. Den Arzt in seiner teuren Privatklinik. Er hat schon immer ein langweiliges Leben geführt, was aber sein Problem ist und nicht meines.
Auch, wenn es das Beste wäre, zu verschwinden, kann ich es nicht. Stattdessen richte ich mich ebenfalls noch ein wenig auf und spanne meine Muskeln an. »Ich habe nie gewollt, dass es Mom meinetwegen schlecht geht. Ich glaube, bei dir geht es ihr schlecht genug. Sie hat ein Herz, was man von dir nicht gerade behaupten kann.« Um meine Worte zu unterstreichen, lehne ich mich ein Stück nach vorne.
Ich kann beobachten, wie meine Ansage ihn aus dem Gleichgewicht bringt. Überlegen grinse ich ihn an.
»Eigentlich wollte ich in Ruhe mit euch sprechen. Euch sagen, wie es so weit kommen konnte. Mich entschuldigen. Doch nun will ich von dir nur noch wissen, ob Mom hier ist.«
Obwohl ich die Antwort bereits kenne, spreche ich die Worte dennoch aus. Mein Vater wird mich mit Sicherheit nicht in die Nähe meiner Mutter lassen.
Dafür hat er viel zu sehr Angst, die Kontrolle zu verlieren. Aber ich will wenigstens einen Versuch starten.
»Dass du dich überhaupt traust, dich nach ihr zu erkundigen«, fährt er mich an.
Ich versuche ruhig zu bleiben und ihm keine Macht über mich zu geben. In den letzten Jahren hatte ich schließlich mehr als genug Zeit, mich auf diese Unterhaltung vorzubereiten. Ich war davon ausgegangen, dass ich es geschafft habe. Doch ich kann es einfach nicht. Seine Worte sorgen dafür, dass bei mir sämtliche Sicherungen durchbrennen.
Mit zusammengekniffenen Augen starre ich ihn an. Er bewegt sich kein Stück. »Ich habe für alles, was ich getan habe, gebüßt. Und zwar jeden einzelnen Tag in den letzten drei Jahren. Hätte ich mich vor dieser Verantwortung gedrückt, könntest du nun sauer auf mich sein. In diesem Fall würde ich dein Verhalten sogar verstehen und wäre auch nicht hergekommen. Aber genau das habe ich nicht. Und deswegen hast du kein Recht, mich so zu behandeln. Das heißt aber nicht, dass es mich überrascht. Dir war schon immer wichtiger, was andere von dir denken, als wie es deiner eigenen Familie geht.« Ich rede leise, mit gefährlicher Stimme. Keinerlei Zweifel lasse ich daran, dass ich es so meine, wie ich es sage. Er kann mich nicht behandeln, als wäre ich ein kleines Kind. Diese Zeit haben wir schon lange hinter uns gelassen.
»Ben«, erwidert mein Vater. Er versucht, mich in meine Schranken zu weisen. Gleichzeitig huschen seine Augen hin und her.
»Du bist so ein Weichei. Lass dir endlich Eier wachsen und kümmere dich um die wirklichen Probleme in deinem Leben. Vielleicht geht es Mom dann auch wieder besser. Es muss frustrierend sein, wenn man mit einem Mann verheiratet ist, der nicht in der Lage ist, es einem zu besorgen. In gewisser Weise kann man dich nicht einmal als Mann bezeichnen.«
Mir ist sehr wohl bewusst, dass sich mittlerweile sämtliche Nachbarn an ihren Fenstern befinden und uns beobachten, so wie es hier immer ist. Aus diesem Grund spreche ich ein wenig lauter, sodass sie meine Worte hören. Ich bin mir sicher, dass sie ihn auf den ungebetenen Gast ansprechen werden. Von mir aus soll er den Nachbarn deswegen aus dem Weg gehen. Denn mit seinem Verhalten hat er mir mal wieder klargemacht, wieso ich mich noch nie sonderlich gut mit ihm verstanden habe. Nicht, dass ich es vergessen gehabt hätte.
»Du solltest mir nicht die Schuld geben. Schließlich warst du alt genug, mal deinen Kopf einzuschalten, bevor du handelst. Und um deine Mutter brauchst du dir keine Gedanken zu machen, sie hat alles, was sie braucht.«
Ich sehe meinem Vater an, dass es ihm schwerfällt, die Worte auszusprechen. Seine Stimme ist so leise, dass er sich sicher sein kann, dass sie sonst niemand hört.
Mir liegt so einiges auf der Zunge. Aber das behalte ich lieber für mich, wenn ich nicht will, dass diese Unterhaltung ausartet. Das ist eines der Dinge, die ich in den letzten Jahren gelernt habe. Selbstbeherrschung!
Eine Weile stehen wir uns stumm gegenüber. Und je mehr Zeit vergeht, umso schwieriger wird es für meinen Vater, wie ich ganz genau erkennen kann.
»Du hast nichts. Kein Geld, kein Auto, keine Wohnung. Wäre es anders, würdest du nicht hier stehen. Ich bin mir sicher, dass du früher oder später wieder da landen wirst, wo du hergekommen bist. Denn dort gehörst du hin. Mehr bist du nicht wert.«
Mein Vater sagt das, um mich zu verletzen, doch er schafft es nicht. Ich habe mir geschworen, dass ich lieber auf der Straße leben werde, als zurück ins Gefängnis zu...