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Verschlafen blicke ich auf die Uhr, nachdem ich meine Augen aufgeschlagen habe. Sieben Uhr. Während ich die Decke über meinen Kopf ziehe, stöhne ich laut auf. Aber sosehr ich es mir auch wünsche, ich kann nicht mehr schlafen.
Heute ist der erste Tag der Semesterferien. Eigentlich wollte ich ausschlafen, aber aus irgendeinem Grund bin ich jetzt schon wach. Kurz spitze ich meine Ohren, aber im Haus ist noch alles ruhig. Meine Eltern sind schon unterwegs, und mein älterer Bruder Mike liegt wahrscheinlich noch von seiner gestrigen Party im Koma, falls er überhaupt nach Hause gekommen ist.
Ich habe gerade das erste Jahr meines Informatik-Studiums beendet, während für Mike nach den Ferien das letzte Jahr beginnen wird. Eigentlich wollte ich gar nicht studieren, aber meine Eltern haben mir so lange damit in den Ohren gelegen und als Begründung angeführt, dass ja sogar Mike aufs College gehen würde, bis ich schließlich doch nachgegeben habe.
Dabei weiß ich ganz genau, wieso Mike studiert. Für ihn ist es nur eine Möglichkeit, noch ein paar Freiheiten zu genießen, bevor er ins Berufsleben startet. Und zu diesen Freiheiten gehören auf jeden Fall Partys und Frauen. Obwohl ich nicht so oft feiern gehe wie er, haben wir trotzdem ein super Verhältnis. In den letzten Jahren hat er mir mehr als einmal bewiesen, dass ich mich immer auf ihn verlassen kann.
Seufzend schlage ich nun die Decke zur Seite und verlasse das Bett. Mit wenigen Schritten habe ich mein kleines Zimmer durchquert und die Tür geöffnet. Als ich den Flur betrete, werde ich von der Ruhe des Hauses empfangen. Zügig gehe ich weiter ins Badezimmer, um mich fertig zu machen.
Eine Stunde später stehe ich in der Küche und schlürfe meinen Kaffee. Das Klingeln meines Handys lässt mich erschrocken zusammenfahren.
»Ja?«, frage ich, nachdem ich einfach abgenommen habe, ohne einen Blick auf das Display zu werfen.
»Guten Morgen, Süße! Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt«, ertönt die gut gelaunte Stimme meiner besten Freundin Joleen.
»Hast du nicht.«
»Wie wäre es mit Frühstück?«, fragt sie mich.
»In einer halben Stunde bei Johnson?« Das Johnson ist ein gemütliches kleines Café, in dem man super frühstücken kann. Da es nicht direkt am Strip liegt, verirren sich nicht so viele Touristen dorthin, weshalb der Laden nicht so überfüllt ist. In den letzten Jahren ist dies unser Stammlokal geworden
»Wir sehen uns!« Mit diesen Worten legt sie wieder auf. Schnell trinke ich meinen Kaffee aus und schnappe mir beim Verlassen des Hauses meine Tasche und die Autoschlüssel.
Draußen begrüßt mich die Sonne. Es verspricht ein schöner Tag zu werden, aber da wir hier mitten in der Wüste sind, ist fast jeder Tag so. Die Luft ist warm, typisch für Las Vegas.
In dieser Stadt wurde ich geboren. Obwohl mich nicht nur schöne Momente mit ihr verbinden, liebe ich sie. Trotzdem möchte ich nicht den Rest meines Lebens hier verbringen. Früher habe ich mir immer ausgemalt, wie ich die Welt entdecke. Mittlerweile denke ich jedoch etwas anders darüber. Ich will zwar immer noch so viel wie möglich reisen, aber dabei den Ort finden, an den ich gehöre.
Während der Autofahrt entdecke ich immer wieder Touristen. Da sie so viel wie möglich von der Stadt der Sünde sehen möchten, sind sie schon sehr früh unterwegs.
Wenige Minuten später finde ich einen freien Parkplatz, der nicht weit vom Johnson entfernt ist. Während ich aussteige und den Wagen abschließe, laufen ein paar Kumpel meines Exfreundes Cole an mir vorbei. Erleichtert atme ich auf, als sie einfach vorübergehen, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Kurz frage ich mich, ob sie mich überhaupt erkannt haben, aber selbst wenn nicht, würde mich das nicht stören.
Bei der Erinnerung an ihn und somit auch an das Ende unserer Beziehung bekomme ich Magenschmerzen. Bevor dieser Mann mir den Tag versauen kann, schiebe ich diese Gedanken beiseite und betrete das Café.
Es ist gemütlich eingerichtet. An den Wänden hängen Bilder und Regale, auf denen Bücher stehen, welche die Gäste lesen können. Die Tische erinnern an normale Küchentische, mit ihren Bänken davor. Das ganze Café ist in verschiedenen Brauntönen gehalten, sodass alles farblich perfekt zueinanderpasst.
Joleen sitzt schon in der hintersten Ecke und winkt mir zu.
»Hi«, begrüßt sie mich, als ich ebenfalls an den Tisch trete und mich auf einen der Stühle sinken lasse. »Wie kommt's, dass du schon so früh auf bist?«
»Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Ich konnte nicht mehr einschlafen, obwohl ich gerne noch etwas gedöst hätte.« Meine Schultern bewegen sich ein Stück nach oben und dann wieder nach unten.
»Dein Pech, mein Glück«, erwidert sie. Im Gegensatz zu mir ist Joleen eine Frühaufsteherin. An manchen Tagen steht sie schon auf, bevor die Sonne aufgegangen ist. Ich habe keine Ahnung, was sie zu diesen Uhrzeiten schon macht, habe sie aber auch noch nie danach gefragt.
Nachdem die Bedienung mir eine Tasse Kaffee gebracht hat, lasse ich meinen Blick durch den Raum gleiten. Familien und Paare haben sich an den Tischen verteilt. Kinder lachen, und Männer legen die Arme um ihre Frauen oder Freundinnen.
Bei diesem Anblick zieht sich mein Bauch zusammen, aber ich lasse es mir nicht anmerken. Ich will nicht, dass Joleen den Eindruck bekommt, dass ich Cole vermisse. Denn das ist das Letzte, was ich tue.
»Hast du es schon gehört?« Joleen zieht meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Als ich sie betrachte, erkenne ich ihren vorsichtigen Blick.
»Was denn?«, frage ich sie und hebe dabei meine Augenbrauen ein Stück nach oben.
»Cole hat Heather nach nur vier Monaten Beziehung schon einen Heiratsantrag gemacht.« Bei dieser Information bekomme ich große Augen.
»Freut mich für sie«, erwidere ich nur, da ich keine Ahnung habe, was ich sonst sagen soll. Ich kann Joleen ja schlecht verraten, dass die beiden nicht erst seit vier Monaten zusammen sind. Denn dann müsste ich ihr auch alles andere erzählen, und das will ich auf keinen Fall. Niemand kennt bislang den wahren Grund für unsere Trennung.
Überrascht schaut Joleen mich an.
»Ich freue mich wirklich für die beiden. Zwei Spinner haben sich gefunden.« Bei diesen Worten wackle ich mit den Augenbrauen und stehe auf, um mir Pfannkuchen vom Büfett zu holen.
»Du hättest deinen Bruder gestern Abend sehen sollen«, fängt sie mit etwas anderem an, als ich zu meinem Platz zurückkehre. Ich bin ihr für den Themenwechsel dankbar. »Er war so betrunken, dass er nicht einmal mehr geradeaus laufen konnte«, fährt Joleen fort, als ich wieder sitze.
»Du warst also auch auf der Party«, stelle ich ausdruckslos fest.
»Sonst hätte ich nicht erfahren, dass die beiden heiraten wollen.« Joleen zuckt mit den Schultern und schneidet sich ein Stück ihres Omeletts ab.
»Das habe ich auch nicht böse gemeint«, erwidere ich, da ich ihren etwas schärferen Ton durchaus herausgehört habe.
»Ich weiß«, murmelt sie, während sie genüsslich kaut.
»Also ist Mike wohlbehalten nach Hause gekommen.«
»Einer seiner Jungs hat ihn heimgebracht, glaube ich.« Entschuldigend zuckt Joleen mit den Schultern, was mir ein leichtes Lächeln entlockt.
Den Rest des Frühstücks verbringen wir lachend. Ich bin mir sicher, hätte sie mir die Nachricht von der Verlobung am Telefon übermittelt, wäre ich ausgerastet. Aber nicht, weil ich ihn noch liebe, mittlerweile glaube ich sogar, dass ich ihn nie richtig geliebt habe. Sondern weil ich insgeheim gehofft hatte, dass er das Gleiche wie mit mir auch mit ihr abziehen würde. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.
Zwei Stunden später bezahlen wir und verlassen das Café. In dem Moment, in dem ich in Gedanken versunken den Gehweg betrete, pralle ich gegen etwas Großes und werde beinahe umgeworfen.
Starke Hände greifen nach mir und bewahren mich so vor einem unschönen Fall auf die Pflastersteine. Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich mich wieder gesammelt habe. Als ich meinen Kopf ein Stück hebe, schaue ich in strahlend blaue Augen, die ich kenne. Überall würde ich sie erkennen.
Sean, schießt es mir durch den Kopf, als ich meinen Blick klar stelle und sein Gesicht betrachte.
Da er fast zwei Köpfe größer ist als ich, schaut er auf mich hinab. Langsam lasse ich meine Augen an ihm hinunterwandern. Auf seinen muskulösen Armen erkenne ich verschiedene Tattoos, die er vor drei Jahren noch nicht hatte. Er trägt ein Muskelshirt, durch das man seine trainierte Brust erkennen kann. Außerdem mache ich auch dort die Ansätze von Tattoos aus. Seine Haare sind durcheinandergewirbelt, was ihm den Anschein gibt, er wäre gerade erst aufgestanden.
Mein Mund wird bei seinem Anblick trocken, und mein Herz beginnt zu rasen. Er sieht noch genauso gut aus wie damals, und er hat immer noch die gleiche Wirkung auf mich. Meine Gedanken wirbeln durcheinander.
Vor mir steht der einzige Mann, den ich jemals geliebt habe....