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Nervös laufe ich in meiner Küche auf und ab und atme dabei immer wieder tief durch. Aber es bringt nichts. Ich bin hibbelig, aufgedreht und mir ist schlecht. Und das wird von Sekunde zu Sekunde nur noch schlimmer.
Langsam macht sich die Befürchtung in mir breit, dass ich gleich durch den Boden breche und bei meinem Nachbarn landen werde. Da meine Küche an der längsten Seite gerade einmal drei Meter breit ist, habe ich nicht allzu viel Platz. Deshalb weiß ich längst nicht mehr, wie viele Runden ich schon gedreht habe.
Seufzend bleibe ich stehen, streiche meine Kleidung glatt und starre auf die hellen Schränke, die an den Wänden hängen.
»Verdammt, wieso habe ich mich bloß darauf eingelassen?«, frage ich mich immer wieder mit lauter Stimme. Dabei atme ich tief durch. Gleichzeitig versuche ich, meinen verspannten Nacken zu lockern, indem ich meinen Kopf von rechts nach links bewege. Aber auch das bringt nichts.
Mir ist klar, dass es egal ist, wie oft ich mir diese Frage stelle, die Antwort ändert sich dadurch nicht. Ich wollte mir selber beweisen, dass ich mehr bin als die jüngste Pink Sister. Vor allem meiner ältesten Schwester Haley will ich zeigen, dass ich nicht länger in ihrem Schatten stehe. Ich muss zugeben, dass sie nie etwas getan hat, womit sie mir dieses Gefühl vermittelt hätte. Aber schon als kleines Kind habe ich mich mit Selbstzweifeln herumgeschlagen, die auch in den darauffolgenden Jahren nie ganz verschwunden sind.
Als mir der Kosename, den unsere Eltern und Nachbarn uns gegeben haben, durch den Kopf geht, beruhige ich mich ein wenig, und ein Lächeln tritt auf mein Gesicht. Pink Sisters. So wurden wir früher von jedem genannt, da wir es liebten, pinke Klamotten zu tragen. Es gab sogar Tage, an denen hatten wir alle drei uns von Kopf bis Fuß in diese Farbe gekleidet. Wobei ich zugeben muss, dass ich die Fotos von diesen Gelegenheiten nun eher peinlich finde. Aber trotzdem erinnert mich der Name Pink Sisters an eine lustige Zeit. Und noch an so vieles mehr. Er zeigt den Zusammenhalt zwischen meinen Schwestern und mir.
Mit zittrigen Fingern greife ich nach der Wasserflasche, die auf der Arbeitsplatte steht, öffne sie und nehme einen Schluck. Mein Herz rast in einem atemberaubenden Tempo, und mein Mund ist andauernd trocken. Ich habe die Befürchtung, dass ich die meiste Zeit des Tages auf der Toilette verbringen werde, da ich schon so viel getrunken habe.
Als ich mein Studium angefangen hatte, habe ich gedacht, dass der erste Tag am College nervenaufreibend war, aber der Start ins Berufsleben ist nochmal etwas anderes.
Hoffentlich wird es in den nächsten Tagen besser, sonst schließe ich mich in meinem Schlafzimmer ein und gehe nicht mehr ans Telefon.
Ich will mich gerade umdrehen, um noch eine Runde in meiner engen Küche zu drehen, als ich erschrocken zusammenzucke. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und ich drehe mich ruckartig in die Richtung der Küchentür. Der schrille Klingelton meines Handys schallt durch die ansonsten leise Wohnung.
Nachdem ich meine Nerven wieder unter Kontrolle bekommen habe, gehe ich, dankbar über die Ablenkung, mit schnellen Schritten in das angrenzende Wohnzimmer und werfe einen Blick auf das Display.
Oma steht in großen und hellen Buchstaben darauf. Ein letztes Mal atme ich tief durch und hoffe, dass meine Großmutter meine Nervosität nicht sofort bemerken wird, da sie einen Riecher für so etwas hat.
Erst als ich mir sicher bin, dass meine Stimme sich normal anhört, drücke ich auf den grünen Hörer und halte mir das Telefon ans Ohr.
»Du wirst das ganz wundervoll machen, Liebes«, legt sie auch schon los, ohne mich zu begrüßen. Ihre schrille Stimme dringt so laut an mein Ohr, dass ich das Handy einige Zentimeter davon entfernt halten muss, damit ich keinen Hörschaden davontrage.
»Ich hoffe es«, murmle ich, wobei ich mir nicht sicher bin, ob sie das hören soll oder nicht.
Ich habe ein gutes Verhältnis zu meiner Oma, das haben wir alle, und normalerweise freue ich mich über ihre aufbauenden Worte. Aber in diesem Fall habe ich keine Ahnung, ob ich die Sache nicht am besten mit mir alleine ausmachen sollte. Wahrscheinlich wäre es das Einfachste, schließlich muss ich den Tag auch alleine hinter mich bringen. Trotzdem sind Omas Worte gerade das Einzige, was mich davon abhält, einen Nervenzusammenbruch zu bekommen.
»Ahhh«, fährt sie mir mit fester Stimme, die keinen Widerspruch duldet, dazwischen. Schon als wir noch Kinder waren, hat sie so mit uns gesprochen, damit wir anfangen, an uns zu glauben. Bei meinen Schwestern hat es funktioniert, bei mir leider nicht so ganz, wie ich nun wieder deutlich merke. »Sicher wirst du das. Die Rechtsverdreher können froh sein, dich zu bekommen«, fährt sie unbeirrt fort.
Während sie spricht, kann ich vor meinem inneren Auge sehen, wie sie energisch den Kopf schüttelt und mir so zu verstehen gibt, dass ich mich irre.
Bei ihren Worten schleicht sich ein kleines Lächeln auf mein Gesicht. So war meine Oma schon immer: gerade heraus. Sie hat sich noch nie zurückgehalten und sagt jedem ihre Meinung, egal, ob man sie hören möchte oder nicht. Seit ich denken kann, kommt es deswegen regelmäßig vor, dass sie sich mit allen möglichen Leuten streitet. Aber das ist einer der vielen Gründe dafür, dass meine Schwestern und ich sie so lieben. Mit ihr legt sich so schnell niemand an, und aus diesem Grund haben Brooke, Haley und ich uns diese Streitlust ebenfalls angewöhnt.
»Es sind Anwälte«, korrigiere ich sie, obwohl ich weiß, dass es nichts bringen wird. In ihrer Vergangenheit hat meine Großmutter keine guten Erfahrungen mit Anwälten gemacht. Seitdem meidet meine Oma sie, als hätten sie irgendeine ansteckende Krankheit.
»Was trägst du?«, fragt sie mich, ohne auf meinen Einwand einzugehen, und wechselt so das Thema.
Langsam senke ich meinen Kopf und lasse meinen Blick an mir hinunterwandern.
»Eine Jeans und dazu meine braune Bluse und die braunen High-Heels«, antworte ich, während ich selber überlege, ob es das richtige Outfit für die Buchhaltung in einer Kanzlei ist.
Wahrscheinlich laufen dort alle total normal rum, zumal wir wohl keinen Kontakt zu den Mandanten haben, denke ich, schiebe den Gedanken allerdings schnell wieder zur Seite.
Einige Sekunden ist es ruhig in der Leitung, was dafür sorgt, dass ich direkt den nächsten Schweißausbruch bekomme. Die Klamotten habe ich mir gestern Abend extra herausgelegt, nachdem ich meinen ganzen Kleiderschrank auseinandergenommen hatte. Wenn meine Oma nun meint, dass es das falsche Outfit ist, habe ich keine Ahnung, was ich sonst anziehen soll.
Zitternd streiche ich mir meine braunen Haare aus dem Gesicht und überlege, ob ich sie mir nicht besser zu einem Zopf zusammenbinden sollte.
»Das ist perfekt«, ruft meine Oma schließlich, und ich atme erleichtert auf. »In den Sachen bist du unschlagbar.« Ich bin mir sicher, dass sie gerade von einem Ohr bis zum anderen strahlt. Wenn sie könnte, würde sie bestimmt auch noch begeistert in die Hände klatschen. Bei dem Gedanken vergesse ich meine Nervosität für ein paar Sekunden.
»Ich glaube zwar nicht, dass meine Kleidung in meinem neuen Job die Hautrolle spielen wird, aber danke«, gebe ich lachend zurück.
»So gefällst du mir schon besser. Vergiss nicht, dass es ein neuer Abschnitt in deinem Leben ist, eine neue Chance. Nutze sie.«
»Ich weiß, deshalb kann ich ja kaum noch klar denken«, erwidere ich.
»Du wirst das schaffen«, spricht sie mir Mut zu. »Und nun mach dich auf den Weg, sonst kommst du an deinem ersten Tag noch zu spät. Ich drücke dir die Daumen.«
»Danke, ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch, Schatz.« Nachdem sie ihren Satz beendet hat, legt sie auch schon auf, sodass ich nur noch das Tuten höre, das durch die Leitung dringt.
Ich lasse meine Hand sinken und werfe das Telefon in meine Tasche. Als nächstes greife ich nach der silbernen Armbanduhr, die ich im letzten Jahr von meinen Eltern geschenkt bekommen habe, und lege sie mir an. Bevor die Panik mich wieder fest im Griff hat, hänge ich mir meine Tasche über die Schulter und nehme den Schlüssel in die Hand, der ebenfalls auf dem Tisch liegt. Ein letztes Mal schaue ich mich suchend um und überprüfe, ob ich alle Geräte ausgeschaltet und die Fenster geschlossen habe. Dann verlasse ich mit großen Schritten die Wohnung und schließe die Tür hinter mir ab.
»Hallo Melody. Ich wünsche dir heute viel Glück«, begrüßt mich Isabell, die in derselben Sekunde wie ich mit ihren beiden Kindern ihre Wohnung verlässt.
Sie ist etwas älter als ich. Ihre braunen Haare trägt sie meistens offen, was sie ein wenig jünger aussehen lässt. Heute hat sie sich für eine enge Jeans und ein schwarzes Top entschieden. An den Füßen trägt sie ebenfalls schwarze Sportschuhe.
»Danke«, erwidere ich freundlich und lächle sie dabei an.
»Wenn du willst, können wir uns die Tage einmal in Ruhe unterhalten. Ich muss jetzt die Kinder zur Schule bringen und dann selber ins Büro. Heute sind wir ein wenig spät dran«,...