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17. Januar 1950
Dieses verflixte Telefon. Klingelte verlässlich immer dann, wenn Mrs. Rosen gerade keine Hand frei hatte. Die Uhr in der Diele zeigte bereits Viertel nach acht, und sie hatte noch jede Menge zu erledigen, bevor sie um neun den Teewagen ins Wohnzimmer schieben musste. Die Teller vom Abendessen abzuräumen, dauerte stets länger als gedacht. Nach all den Jahren sollte man meinen, sie hätte gewusst, dass die Herren Geschäftsreisenden die Suppe unweigerlich auf dem ganzen Tisch verkleckerten, und doch war sie jedes Mal aufs Neue überrascht.
Sie brauchte einen Moment, um einen Platz zum Ablegen des sauberen Tischtuchs zu finden, bevor sie den Hörer des heiser scheppernden Telefons abnehmen konnte. Der Eingangsbereich quoll über von Wintermänteln, an der Garderobe drängelten sich Schals und Hüte um die verfügbaren Haken, und auf dem Boden türmten sich wegen des diese Woche herrschenden Schmuddelwetters die Gummistiefel und Galoschen.
Der helle Bakelitapparat forderte Mrs. Rosens Aufmerksamkeit mehr klappernd als klingelnd ein, was auch erklärte, weshalb keiner der Herren im Wohnzimmer etwas gehört hatte. Noch so eine Sache, um die man sich dringend mal kümmern müsste. Es gelang Mrs. Rosen, das Tischtuch auf einem wackligen Stapel Zeitschriften zu platzieren, der auf der großen Truhe neben dem Telefon und einem Notizblock auslag. Während sie diesen heiklen Aufbau mit der Hüfte daran hinderte, zu Boden zu rutschen, nahm sie den schweren Hörer ab und hielt ihn sich ans Ohr.
«Scunthorpe 478? Ja, guten Abend .» Aus dem Wohnzimmer ertönte eine Lachsalve als Antwort auf eine gelungene Anekdote. «Bitte entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht verstanden. Brauchen Sie ein Zimmer? Es kostet zwei Shilling die Nacht, ein kleines Frühstück, Abendessen und Tee sind inbegriffen. Oh, Verzeihung - einen unserer Gäste? Nein, ich glaube nicht, dass ein Herr namens Cook bei uns zu Gast ist . ach, das schreibt sich C-O-K-E? Verstehe. Nun, beim Abendessen hat mein Mann aufgetragen, während ich in der Küche war, eine junge Dame hat er allerdings nicht erwähnt .» Sie brach ab, um die Person am anderen Ende der Leitung sprechen zu lassen. Plötzlich richtete sie sich kerzengerade auf. Das Tischtuch und die Zeitschriften glitten auf den Linoleumboden, doch sie bemerkte es kaum. «Aber ja, ich verstehe. Wenn Sie sich nur einen Augenblick gedulden wollen, gnädige Frau.»
Just in diesem Moment versuchte Jimmy, Mrs. Rosens Jüngster, an ihr vorbeizuflitzen, doch sie war schneller, packte ihn am Kragen und deutete auf die herabgefallenen Magazine und das Tischtuch. Während er alles aufsammelte, legte sie den Hörer vorsichtig neben das Telefon, löste den Knoten ihrer Schürze und hängte sie zu den Überziehern der Geschäftsreisenden an die Garderobe. Jetzt, wo sie genauer hinsah, entdeckte sie, dass da tatsächlich auch ein Damenmantel hing. Ein hellbrauner Dufflecoat mit großen Knebelknöpfen aus Holz und einem in die Kapuze gesteckten geblümten Schal. Sehr hübsch. Rasch ordnete Mrs. Rosen sich das Haar. Jimmy schaute sie erstaunt an, woraufhin sie ihm einen finsteren Blick zuwarf und auf die Tür zum Esszimmer zeigte. Endlich verstand er und trug das Tischtuch hinein.
Mrs. Rosen öffnete die Wohnzimmertür. Soweit sie erkennen konnte, hatten die Männer sich allesamt dicht um die kleinen Tische geschart, auf denen die Aschenbecher immer voller wurden. Abgesehen vom Tabakduft lag noch ein weiterer Geruch in der Luft, dunkel und scharf - das Odeur der von den Herren benutzten Pomade. Als sie die Pensionswirtin in der Tür sahen, ebbte der Lärm ihrer Gespräche ab.
«Ist Miss Coke hier?», fragte sie, wobei sie auf die korrekte Aussprache achtete, so, dass der Name sich auf reimte. Sie konnte immer noch nicht ganz glauben, dass jemand wie die Gesuchte sich in ihrem Wohnzimmer befinden sollte. Allerdings hatte die vornehme weibliche Stimme am Telefon ziemlich sicher geklungen. «Miss Anne Coke von Holkham Hall?»
Aus dem Meer der im Zimmer versammelten Herrenköpfe tauchte ein schmaler Arm empor, und Mrs. Rosen sah, wie sich eine groß gewachsene, schlanke junge Dame, mehr ein Mädchen eigentlich, nicht älter als siebzehn, mit schulterlangen blonden, ordentlich aus dem Gesicht gekämmten und weich ausgebürsteten Locken zwischen den Geschäftsreisenden erhob, wie eine Venus aus dem Schaum aus Handel und Kommerz. Sie hatte auf dem Ecksofa gesessen und hielt ein Buch in der Hand. Ihr Zeigefinger war zwischen die Seiten geklemmt und markierte die gerade gelesene Stelle.
«Ein Anruf für Sie, Miss Coke. Von Ihrer Mutter, aus Holkham Hall», ergänzte Mrs. Rosen unwillkürlich.
«Haben Sie vielen Dank, Mrs. Rosen», sagte die junge Dame. Die Geschäftsreisenden rückten mit ihren Stühlen beiseite, um sie durchzulassen, und folgten ihr mit den Blicken. Jene, die beim Abendessen mit ihr gesprochen hatten, blickten erkennbar selbstgefällig drein, die anderen, die sie nicht beachtet hatten, nachgerade verwirrt.
«Hier entlang, bitte», sagte Mrs. Rosen und geleitete die junge Dame aus dem Zimmer, als könnte man sich auf dem Weg zum Telefon verlaufen. Sie schloss die Tür zum Wohnzimmer, und die zurückgebliebenen Herren starrten ihnen hinterher.
«Holkham Hall? Ist das nicht so ein gewaltiger Kasten in Norfolk? Der Sitz des Earl of Leicester?» Diese an niemand Bestimmten gerichtete Frage warf ein rothaariger Mann in die Runde, der in Zahnpasta reiste.
«Es liegt an der Küste, einen Steinwurf von Sandringham entfernt», erwiderte ein älterer Herr mit eisengrauem Schnurrbart. «Miss Coke ist die Enkelin des Earl of Leicester.»
«Niemals!», rief der Rotschopf. «Mir hat sie erzählt, ihre Familie würde eine Töpferei betreiben, und sie hoffe, Vasen und Keramikkrüge an die Geschenkartikelläden in Grimsby und Skegness verkaufen zu können!»
«Ganz recht, so ist es.» Der Herr mit dem Eisenschnurrbart, der fand, dass der rothaarige Kerl sich ein bisschen zu sehr aufplusterte, genoss nun dessen verdutzten Blick. «Ich bin mindestens zweimal im Jahr in King's Lynn. Sie haben die alte Wäscherei von Holkham Hall zu einer Töpferei umgebaut. Machen übrigens wirklich hübsche Sachen, da ist durchaus künstlerisches Geschick vorhanden. Ein nettes kleines Service mit Schneeflockendekor, zum Beispiel.»
In diesem Moment ging die Tür wieder auf, und die junge Dame kehrte zurück. Sie sah, sofern das überhaupt möglich war, noch ein wenig blasser aus als zuvor. Einige Herren erhoben sich.
«Bitte entschuldigen Sie, aber ich habe meine Handtasche auf dem Sofa liegen gelassen. Ob sie mir jemand anreichen könnte?»
Die Handtasche, die eigentlich mehr eine Aktenmappe war, wurde geborgen, und Eisenbart wurde das Privileg zuteil, sie übergeben zu dürfen.
«Hoffentlich keine schlechten Nachrichten, Miss Coke?» Er hatte ein freundliches, onkelhaftes Gesicht. Anne war ihm auf ihren Handelsreisen bereits ein- oder zweimal begegnet, und die Mitteilung, dass sie adliger Herkunft war, hatte er mit ruhiger Höflichkeit aufgenommen, ohne viel Aufhebens darum zu machen. Alles, was er selbst übers Verkaufen wusste, hatte er bereitwillig an sie weitergegeben - die besten Tage für den Besuch bestimmter Geschäfte und wer gern ein Schwätzchen hielt, aber nie etwas kaufte. Samuels, so hieß er. Marcus Samuels. Anne schluckte.
«Leider doch, Mr. Samuels. Mein Großvater ist gestorben. Ich muss sofort nach Hause.»
Die Herren bekundeten murmelnd ihr Beileid, und diejenigen, die rauchten, drückten zum Zeichen des Respekts ihre Zigaretten aus.
«Ich bedaure sehr, das zu hören», sagte Mr. Samuels. «Er war ein echter Gentleman. Und Sie sind sicher, dass Sie noch heute Abend nach Hause fahren wollen, Lady Anne?»
Als er sie mit ansprach, weiteten sich ihre blauen Augen. Eine Kleinigkeit nur, dieser neue Titel, und doch bedeutete er eine gewaltige Veränderung.
«Es ist mir ein Bedürfnis.»
Er nickte. «Dann lassen wir Sie selbstverständlich packen. Aber vielleicht können die hier versammelten Herren und ich Ihnen währenddessen eine Liste mit nützlichen Telefonnummern und einigen Namen zusammenstellen. Werkstätten und Pensionen auf Ihrer Route, nur für den Fall, dass Ihr kleiner Wagen Ihnen Probleme bereitet. Das ist doch Ihr Wagen, der Morris Minor, oder?» Sie nickte. «Und Sie fahren vermutlich über Sleaford und Holbeach, nicht wahr? Da kriegen wir schon ein paar Adressen zusammen, was meint ihr, Jungs?»
Die Jungs waren sich da ganz sicher.
«Wie freundlich von Ihnen.»
«Es ist uns ein Vergnügen, Mylady.»
«Haben Sie vielen Dank», erwiderte sie, bekam aber selbst kaum mehr mit, was sie sagte. Sie zog sich zurück, um mit Mrs. Rosen zu sprechen und ihre Sachen zu packen.
«Jetzt erkenne ich's natürlich», verkündete der Rotschopf. «Das blaue Blut.»
Mr. Samuels schnaufte vielsagend und zog sein Notizbuch aus der Tasche.
«Also dann, Gentlemen. Sorgen wir dafür, dass Lady Anne sicher und wohlbehalten nach Hause kommt.»
Anne ging auf ihr Zimmer und begann, ihre paar Habseligkeiten zusammenzupacken. Der Koffer mit den sorgfältig in Zeitungspapier eingeschlagenen Mustern aus der Töpferei befand sich ohnehin noch im Wagen. Plötzlich aber sank sie unvermittelt auf das schmale Bett, den Beutel mit ihren Toilettenartikeln auf den Knien.
«Ach Grandpa!»
Ein Sturz, hatte ihre Mutter am Telefon gesagt, Großvater habe auf der...
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