Schweitzer Fachinformationen
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Fremde Nähe
Erste Begegnung
Bett und Tisch
Asphalt oder blaue Gletscher
Poesie und Theatralik
Erfahrungssucht und wortgetreues Leben
Ausflüge ins Unbeschwerte
Mord ist keine Kunst
Die Nachgeschichte(n)
Ausblick
Dank
Anhang
Editorische Notiz
Benutzte Literatur und filmisches Material
Anmerkungen
Register
Bildnachweis
Max Frisch sitzt am Steintisch im Garten seines Hauses in Berzona, Valle Onsernone, Tessin. Ihm gegenüber hat der Übersetzer und Regisseur Philippe Pilliod Platz genommen. Mit ihm ist Frisch seit vielen Jahren befreundet. Pilliod hat mehrere Werke Frischs ins Französische übersetzt, kennt sich also aus in der Schreibwerkstatt des Schriftstellers. Vor ihnen stehen eine Flasche mit Weißwein und zwei Gläser. Manchmal erheben sich die beiden Männer, spazieren im Garten umher. Manchmal halten sie inne, bleiben nachdenklich stehen. Meistens aber sitzen sie am Tisch oder auf dem Verandamäuerchen.
Worum es gehen soll, wurde im Voraus besprochen: Max Frisch gibt dem Freund Interviews, deren spätere Ausstrahlung im Fernsehen geplant ist.1
Frisch äußert den Wunsch, es solle bereits im Titel deutlich werden, dass hier ein alter Mann spricht, einem 20 Jahre Jüngeren Rede und Antwort steht. Ein alter und ein junger Mann, und es ist der Jüngere, Philippe Pilliod, der einen gesetzten, gut gekleideten und ordentlich frisierten Eindruck macht. Frischs letzter Friseurbesuch muss einige Zeit zurückliegen, seine weißen Haare sind ziemlich lang, der Wind hat leichtes Spiel mit ihnen. Aber auch auf Fotos aus früheren Jahren fällt das Zusammenspiel von Haar und Wind immer wieder auf.
Max Frisch antwortet auf jede der Fragen bereitwillig, ruhig, aber nie in vorgefertigten oder auswendig gelernt wirkenden Sätzen. Er spielt nicht die Rolle des geübten Antwortgebers, die er sein ganzes Leben über oft genug eingenommen hatte. Er muss nicht auf Knopfdruck druckreife Aussagen machen.
Vielleicht spielt auch die Gegend, in der die Gespräche stattfinden, eine Rolle: Diese wilde Tessiner Berglandschaft begünstigt offenbar ein freieres Nachdenken und Sprechen. Anspruchslos wie die Natur um ihn wirkt auch Max Frisch. Als habe sie abgefärbt auf seinen Charakter. Max Frisch, der Heimatflüchtige, der Unstete, hier in Berzona scheint er angekommen zu sein, bleiben zu wollen, nicht gleich wieder an Abreise zu denken. Zumindest für diese freundschaftliche Begegnung mit Pilliod fühlt er sich am richtigen Ort.
Die Gespräche folgen einem gleichmäßigen Rhythmus, Frisch und Pilliod verstehen sich, haben sich schon vor diesen Interviews verstanden. Der Schriftsteller muss keine Angst haben, unversehens durch eine indiskrete Frage in die Enge getrieben zu werden. Er sieht sich keinem voyeuristischen Blick ausgesetzt. Zwischen den Gesprächspartnern geht es vertrauensvoll, offen, gelöst zu. Keine Anspannung, keine Gehemmtheiten. Max Frisch ist faszinierend präsent, argumentiert klar, erzählt flüssig und spannend.
Im Einklang mit der Umgebung, hin und wieder einen Schluck Wein nehmend, scheint nichts die gelassene und doch wachsame Ruhe der beiden Freunde stören zu können.
Bis ein Name fällt: Ingeborg Bachmann. Frisch springt auf, als habe ein Stromstoß seinen Körper durchzuckt, er weicht zurück, nimmt eine Art Fluchthaltung ein. Diese abrupte Reaktion überträgt sich auf die Zuschauer des Films. Es sieht aus wie ein großes Erschrecken, aber das Wort fasst nicht alles, was in diesem Moment da ist, plötzlich sehr nah erscheint. Die Frage nach dem Grund, die Frage danach, warum etwas geschieht, diese Frage, die die Natur nicht stellt, nur der aus der Natur entlassene Mensch. Auf einmal hat sie sich aufgebaut, massiv wie ein Gebirge und so, als gehöre sie dazu, ganz natürlich, schon immer. Max Frisch weiß es. Vielleicht hatte er vergessen, dass diese Frage lauerte, dass sie sich einfach nur für eine Weile still verhalten hatte. Wie beruhigend ist es, in der Natur zu sein, die den Menschen nicht braucht, die in keinen Erklärungszwang gerät, die einfach da ist. Anders aber steht es mit all den Erfahrungen, die Menschen anhäufen im Lauf ihres Lebens, Erfahrungen, die verstanden werden wollen, die ein forschendes Nachdenken herausfordern, keine Ruhe geben. Wechsel der Jahreszeiten, Sonne, Blitz und Donner, wild prasselnder Regen, das Zubereiten und Einnehmen der Mahlzeiten, Reparaturarbeiten am Haus, Gartenarbeit, manchmal der Besuch von Freunden: als ob das nicht genügen könnte, jetzt im Alter.
Und dann stellt der Freund auf einmal die Frage nach Ingeborg Bachmann. Sofort sind die Erinnerungen wieder da. Der Name Ingeborg Bachmanns fällt, als sei es das Natürlichste von der Welt, neben den vielen anderen Dingen auch über sie und die gemeinsame Zeit zu sprechen. Der Gesprächspartner Frischs ahnt es, ja weiß es vielleicht sogar, dass ohne die Begegnung mit Bachmann für Max Frisch fast alles anders gekommen wäre. Diese Beziehung kann nicht einfach nur eine Episode gewesen sein, ein Missverständnis. Wie steht Frisch heute dazu, was bewirkt die Nennung dieses Namens in ihm, hier in Berzona, jetzt, in dieser Stunde?
Ein kleines Zögern: Was war das damals mit Ingeborg, vor fast 30 Jahren, in Paris, Zürich, Rom, in der eigenen und der fremden Sprache, im Sprachengemisch, im Durcheinander der Gefühle, unter dem Diktat des Schreibenmüssens. Eine Liebe zwischen einem Schriftsteller und einer Schriftstellerin. Diese extreme Erfahrung, sie ist eingegangen in Frischs Arbeit, wie sie auch in Bachmanns Werk eingegangen ist, aber das Schreiben hat sie nicht verstehbar gemacht, sondern bloß ausgefaltet. Nach wie vor lässt Max Frisch der Name Ingeborg Bachmann in äußerste Unruhe geraten, ihn seine Grenzen spüren. Den erlösenden Satz, es hat ihn zu Lebzeiten Bachmanns nicht gegeben. Frisch hat sich ins Schreiben gerettet. Wieder und wieder hat er sich selbst und seinen Lesern Liebesgeschichten erzählt, hat verschiedene Frauenfiguren entworfen, ihnen Namen gegeben. Die wahre Geschichte der Beziehung zu Ingeborg Bachmann kann nicht erzählt werden. Das weiß Max Frisch. Und es beunruhigt ihn. Der verwirrende, vieldeutige Anfang, die gemeinsamen Jahre, die Trennung, über die er, Frisch selbst, schrieb: »Das Ende haben wir nicht gut bestanden, beide nicht.«2 Man mache im Leben vielleicht drei, vier oder fünf entscheidende Erfahrungen. Die Begegnung mit Ingeborg Bachmann habe für ihn zu diesen wichtigsten Erfahrungen gehört. Sie sei damals auf ihn zugekommen auf einem roten Teppich, was für das Zwischenmenschliche gefährlich gewesen sei. Sie hatte Vorrang, und er akzeptierte es. So sieht es der alte Max Frisch. Er denke häufig an sie, aber nicht mit einem Bewusstsein der Schuld, wohl aber mit dem Gefühl der Reue. Schuld wirkt endgültig, trennend, schafft eine letzte Realität. Reue hingegen bewahrt einen Zwischenraum aus ungelebten Möglichkeiten. Daran denkt Frisch jetzt, wenn er mit Philippe Pilliod über seine Liebe zu Ingeborg Bachmann spricht.
Ein Sturzflug sei es gewesen, aber nicht der eines Flugzeugs. Er denke eher an Ikarus dabei. Es ist nicht Altersweisheit, die Frisch so sprechen lässt. Vielmehr eine spezielle Art von Alterswachheit. Immer noch ist dieser Frisch ein Rebell, jemand, der an Utopien glaubt. Wenn einer von Reue spricht, will er nicht recht haben, sich nicht beruhigen in einer Eindeutigkeit, auch nicht in der einer Schuld. In Montauk heißt es, sie werde gebraucht, unsere Schuld, sie rechtfertige viel im Leben anderer. Wie recht Frisch hat. Er denkt daran, was hätte sein können, wenn es nicht gekommen wäre, wie es kam. Es hat keinen Schlussstrich gegeben. Auch wenn es aussah, als habe Frisch nach der Trennung von Bachmann einen radikalen Neuanfang gewagt. Noch einmal anfangen kann man auch dann, wenn man mit allem Vorangegangenen noch nicht am Ende ist. In jedem Anfang sind Reste von Vergangenem, führen ihr Eigenleben.
Frisch war nach dem Ende der Beziehung zu Ingeborg Bachmann sogleich in eine neue Liebesgeschichte geflüchtet. Mit der jungen, aufgeschlossenen, belesenen, fröhlichen, kommunikativen Studentin Marianne Oellers glaubte er, die Zeit mit Ingeborg Bachmann hinter sich lassen zu können, Abstand zu gewinnen, einen der für ihn so lebenswichtigen Anfänge zu schaffen. Wieder neu sein, heraustreten aus einer Lebenssituation, die unerträglich geworden ist. Es ist nicht der letzte Rettungsversuch geblieben. Alice Carey, eine junge Amerikanerin, sollte ein paar Jahre später Garantin sein für einen weiteren Neubeginn.
Das Leben kann scheitern, das weiß Frisch. Es ist eine seiner Grundeinsichten. In seinem Werk setzt er sich dauerhaft auseinander mit Möglichkeiten des Scheiterns. Und diese Einsicht in die Fragilität aller Lebensentwürfe gewinnt nun wieder eine starke Präsenz, hier in Berzona, am Steintisch, im Garten unter Bäumen. Dass man dem totalen Scheitern knapp entrinnen, dass man sich jederzeit verlieren kann und dann nichts mehr hilft, auch keine neue Beziehung. Frisch hat erleben müssen, dass er Vergangenes nicht abzuschütteln vermag. Alles, was war, das ganze Ausmaß an Erfahrungen, kann sich jederzeit zurückmelden, in Bildern, Träumen, Worten, Gesten. Es kann unerwartet in den Geschichten Platz nehmen, vielleicht sogar die Hauptrolle spielen. Zu einer blitzartigen Präsenz von Vergangenheit kommt es nun, als der Freund Pilliod die Dichterin Ingeborg Bachmann erwähnt. Es führt kein Weg vorbei an der Gewissheit: Dies war die ganz entscheidende, die herausforderndste Liebesbeziehung, die Frisch eingegangen war in seinem Leben. Eine Beziehung, deren Wirkung nie nachgelassen hat, das wird ihm jetzt von Neuem bewusst. Aber ist sie wirklich so restlos gescheitert, diese Liebe? Kann man von vollkommenem Scheitern sprechen, wenn etwas derart intensiv weiterwirkt, die Arbeit befeuert, einen immer wieder in eine verwirrende Unruhe versetzt? Oder ist es wie in vielen Büchern Frischs: Gerade dann, wenn man meint, dies sei eine Geschichte, die zwangsläufig ins Scheitern, in den Untergang führt,...
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