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»Es gibt ihn, den immateriellen Raum, das Ungefüllte, Leere. Andernfalls könnte sich kein Ding irgend bewegen.«(Lukrez, um 60 v. u. Z.)
Aber beginnt mit dem Denkmal für Apollinaire eine Kunstgeschichte der Zeichnung im Raum? Im Folgenden betrachten wir das Medium entwicklungsgeschichtlich; denn wenn wir das Lineare zum Maß des Zeichnerischen machen, das sich auf den Weg zur Verräumlichung befindet und das Papier verlassen will, so sollte zumindest kurz auf das Ornament hingewiesen werden, das seit der Antike die Linie zielgerichtet in stetige Bewegung versetzt und Zeiträume auf der Fläche inauguriert, speziell wenn sie mäandert. Solche stetigen, geometrisierenden Linienführungen, die roh in schönster Einfachheit, ohne Inspiration durch die Pflanzenwelt sich bewegen, kritisiert der Universalgelehrte John Ruskin als leblos.30 Jedoch suggerieren die Mäander in ihrem einfachen gesetzmäßigen Ordnungsgefüge gerade auch als architektonische Schmuckelemente, als Reliefs in ihrem Beharren auf stete Fortsetzung ein räumliches Eigenleben, eine Loslösung von der Fläche. Sie zielen auf eine Unendlichkeit, allerdings nicht in Richtung bestirnter Himmel, sondern allhier auf Erden. So erblickt der Kunsthistoriker Henri Focillon in den mäandernden Flechtbandornamenten etwa der irischen Handschriften des Mittelalters, obwohl »unbewegt und flach«, eine schon kinetisch orientierte Kunst, »da sich ja die Verwandlungen vor unseren Augen vollziehen«.31
Aber entscheidender für die Historie einer räumlichen Emanzipation der Linie ist die Kontur, deren Karriere mit den legendären Anfängen der Kunst und den entsprechenden Erzählungen in der Naturgeschichte (um 77 u. Z.) des bei einem Ausbruch des Vesuv umgekommenen Plinius des Älteren beginnt. Zur Geburtsstunde der Malerei schreibt dieser: »Die Frage nach den Ursprüngen der Malerei ist ungeklärt. [.] Die Ägypter behaupten, sie sei bei ihnen 6000 Jahre, ehe sie nach Griechenland kam, erfunden worden - offensichtlich eine eitle Feststellung; die Griechen aber lassen sie teils zu Sikyon, teils bei den Korinthern ihren Anfang nehmen, alle jedoch sagen, man habe den Schatten eines Menschen mit Linien nachgezogen [.]; deshalb sei die erste Malerei so beschaffen gewesen, die nächste habe nur je ein Farbe verwendet und sie sei die einfarbige genannt worden, nachdem eine kunstvollere Malerei erfunden war; in dieser Weise besteht sie noch heute«32
Berühmter ist allerdings die Anekdote von der Tochter des Töpfers Dibutades, die die Erfindung der Plastik erzählt: »Mit einem Erzeugnis des gleichen Erdmaterials erfand in Korinth der Töpfer Butades [= Dibutades] aus Sikyon als erster ähnliche Bilder aus Ton zu formen, und zwar mit Hilfe seiner Tochter, die aus Liebe zu einem jungen Mann, der in die Fremde ging, bei Lampenlicht an der Wand den Schatten seines Gesichts mit Linien umzog; den Umriß füllte der Vater mit draufgedrücktem Ton und machte ein Abbild, das er mit dem übrigen Tonzeug im Feuer brannte und ausstellte, es soll im Nymphaion [.] von Korinth [.] aufbewahrt worden sein.«33
Beide Textstellen werden in der Rezeption häufig miteinander verquickt, und in der sie illustrierenden Malerei und Grafik des 18./19. Jahrhundert wird zumeist die Dibutades-Story als Erfindung der Malerei dargestellt (Abb. 9). Gemeinsam ist beiden Erzählungen die Projektion, die einen Schatten und somit eine Umrisslinie ermöglicht. In der ersten ist es allerdings offensichtlich die Sonne, die einen Schatten als Ganzkörperbild, in der zweiten eine künstliche Beleuchtung, die ein plastisches Porträt denkbar werden lässt.34 Umrisslinien sind also seit Anbeginn der Kunst konstruktiv und imaginationsfördernd zugleich. Sie umzeichnen, konturieren eine individuelle Körperlichkeit, die als solche letztlich allerdings etwas Unbefriedigendes hat; denn es fehlt bis zum Zeitpunkt, an dem ein Künstler die Sache in die Hand nimmt, quasi die inhaltliche Konkretisierung des Darzustellenden, es bleibt eine wesentliche Leere, die im Unterschied zur Rhetorik bei Mallarmé tatsächlich gefüllt werden will. Die Konturlinie lässt sich also in Beziehung zu ihren legendären Ursprüngen als Hilfslinie plastischer Konstruktionen begreifen, aber sie reizt auch immens die räumlich ausgedehnte Assoziationsbereitschaft, die Imaginationskräfte. Die Umrisslinie orientiert sich an realen Körpern und schafft gleichzeitig eine produktive Leere, die wir beispielsweise noch früher als auch geritzte oder monochrom ausgemalte Nachahmungen von Formen der Umwelt in den prähistorischen Felszeichnungen finden, mit denen das eigentliche visuelle Denken beginnt.35 In ihrer nackten Existenz vermag seitdem die Umrisslinie zwischen Leere und Form eine eigenständige Kraft auszubilden, die sich aus dem Kontext ihrer konkreten Eigenschaft als Hilfslinie herauslösen kann, um dann als autonome, befreite Linie im Sinne einer »Entgrenzung« der Linienträger36 in den Realraum überzuwechseln.
9 Eduard Daege, Die Erfindung der Malerei, 1832, Alte Nationalgalerie, Berlin
Doch bevor diese wie etwa bei González schließlich plastische Tatsache wird, geistert sie - umfassend von Charlotte Kurbjuhn dargestellt - als ästhetische Denkfigur der Kontur, als »Spur auf dem Grunde der Einbildungskraft«37 durch die Ästhetiken vornehmlich des 18. Jahrhunderts, das gleichzeitig ganz praktisch von der aus China importierten Kunst des Scherenschnitts - beziehungsweise des Schattenrisses - mehr als begeistert war.38 Es besteht hier eine Wechselbeziehung zwischen avancierter Theorie und einer auch von Laien praktizierten Kunstausübung, die weit hinaus über die Romantik - etwa bei Philipp Otto Runge und Hans Christian Andersen - bis in die Moderne reicht,39 wobei mit der Silhouette die Umrisslinie jetzt zur Umrisskante und als Linie gewissermaßen ausgelöscht wird.
Als Denkfigur bezieht sich neben - unter anderen - Joachim von Sandrart, Johann Joachim Winckelmann oder Johann Georg Sulzer auch der Schriftsteller Karl Philipp Moritz in seinem Nachdenken über das Schöne allerdings nicht nur auf den Umriss. Moritz geht schon einen Schritt weiter und erlöst die Linie zumindest theoretisch aus ihrer Zweckgebundenheit, was eine revolutionäre Autonomieästhetik des Kunstwerks zur Folge hat, und formuliert in seiner Schrift In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können (1788/89): »Und so müssen auch bei der Beschreibung des Schönen durch Linien, diese Linien selbst, zusammengenommen, das Schöne sein, welches nie anders als durch sich selbst bezeichnet werden kann«.40 Damit wird der Linie zugetraut, dass sie unabhängig von einer dienenden Funktion etwa innerhalb eines Kunstwerks für sich selbst wirkmächtig nicht nur sein kann, sondern ist. Denn für Moritz gehört es zum Wesen des Schönen, dass es sich aus sich selbst bestätigt und keiner Erklärung bedarf, was letztlich auch für die Linie gilt. Für Moritz »ist Vollkommenheit nicht Vereinfachung und Verständlichkeit, sondern Geheimnis und Härte, sie ist Abgerundetheit, In-sich-Geschlossenheit, Isolierung«.41 So widersprüchlich Moritz' frühbürgerliche Ästhetik sein mag, so revolutionär ist sie auch,42 und sie wird zur Grundlage einer unabdingbar unabhängigen Kunst, die in unseren Tagen allerdings im Schlepptau der »Moral« und Vermittlung ihrer in der Aufklärung gewonnenen Freiheit vehement verlustig geht; mit welchen Folgen für den Fortgang der Kunst in unserem Jahrhundert ist ungewiss.
Praktisch-künstlerisch ist es der englische Bildhauer, Kunsthandwerker, Zeichner und Grafiker John Flaxman, der insbesondere durch seine Illustrationen literarischer und mythologischer Texte auch in Deutschland einen Beitrag zu dieser ästhetischen Kontur-Debatte leistet (Abb. 10).43 In einer ersten Würdigung preist August Wilhelm Schlegel mit seiner Kritik Über Zeichnungen zu Gedichten und John Flaxman's Umrisse in der Zeitschrift Athenaeum (1798-1800) die poetischen Möglichkeiten seiner reduktionistischen Linienführungen im einansichtigen Raum der Leere: »Keine überflüssigen Striche, auch nichts von jenen Schwungzügen, die bloß zur Verbindung dienen, und die man sich bei flüchtigen Entwürfen erlaubt, oder auch wohl, um ihr Feuer zu beweisen, mit Fleiß anbringt. Alles ist mit dem wenigsten gemacht; seine Illustrationen vereinigen die bedeutsame Keckheit des ersten Gedankens mit der Sorgfalt und Zierlichkeit der ausgeführtesten Behandlung. Er schreibt den menschlichen Körper in seinen verschiedensten Bestimmungen und Ansichten mit Sicherheit hin.«44 Bei Flaxman erwächst die Beschränkung auf die Konturlinie zu jenem klassizistischen Stil, der das ätherische Weiß antiker Skulpturen und Reliefs idealisiert und sich gleichzeitig von der Überladenheit des Barocken auch in seinen Möbeln und Gebrauchsgegenständen befreit. Die isolierte Führung einer Linie wird zum ästhetischen Ereignis erklärt, wie es zunächst für die Möbelindustrie etwa der Gebrüder Thonet, dann für eine konstruktive Kunst des 20. Jahrhunderts vor allem in der Plastik selbstverständlich wird.45
10 John Flaxman, Zeus, den Gott der Träume zu Agamemnon sendend, Illustration zur Illias in der Versübersetzung von Alexander Pope, 1805
Doch beginnt für uns eine eigentliche Kunstgeschichte konstellierter Verräumlichungen von Linienobjekten etwas früher mit jener Analysis of Beauty von William Hogarth, die 1753 in London erscheint und in Deutschland nicht nur Moritz inspiriert.46 Schon das Titelblatt überrascht mit einer transparenten...
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