Kapitel 2
Zu einfach, um großartig zu sein?

»Hast du gut geschlafen?«, Hast du gut gespeist?« - das sind Fragen, die wir häufiger mal stellen. Doch wie oft haben Sie Mitarbeitende schon gefragt: »Guten Morgen, wie tief atmest du heute?« Vermutlich eher selten bis nie. Und das spricht Bände. Denn während der Atem unsere lebenswichtigste Energiequelle ist, schenken wir ihm üblicherweise nur wenig Beachtung.

Haben Sie sich schon einmal bewusst Ihrer Lunge zugewandt? Wie oft haben Sie liebevolle Gedanken an dieses Wunderorgan gesendet, das lebenswichtig ist und für Sie Tag und Nacht leistungsbereit bleibt? Gar nicht? Dann wird es Zeit, sich jetzt einmal bewusst zu machen, dass Sie mit jedem Atemzug Sauerstoff in die Lunge bringen, dass dieser Sauerstoff durch die Lungenbläschen ins Blut gelangt, um Muskeln, Organe und Zellen zu versorgen, dass Kohlenstoffdioxid über die Blutkapillaren zurück in die Lungenbläschen gelangt, um ausgeatmet zu werden.

Circa dreihundert Millionen Lungenbläschen sind für diesen Austausch einsatzbereit. Wenn wir uns bewusst machen, dass wir täglich im Schnitt 11 000 Liter Luft einatmen, dann ahnen wir, wie oft und unermüdlich sich die Lunge bewegt.

Solange wir atmen, leben wir. Denken wir darüber genügend nach? Ich habe eher den Eindruck: Wir hecheln, schnaufen, japsen uns durch die Zeit. Nicht nur die körperliche Anstrengung treibt den Atem und damit die Tätigkeit der Lunge an, sondern auch der mentale Stress belastet den Atem. Wenn sich die Atemfrequenz erhöht, verringert sich jedoch das Volumen der eingeatmeten Luft. Wir verkürzen den nachhaltigen Austausch von Sauerstoff und Kohlendioxid - und das hat Folgen, die auf Dauer schädlich sind: Der Körper entgiftet nicht gänzlich, die Energieproduktion lässt nach, Körper und Geist finden keinen angenehmen, lungengerechten Rhythmus. Sehen wir einmal genauer hin.

Vom Atmen in Ruhe

Nie war Arbeit schneller - und vermutlich wird sie nie wieder so langsam sein wie heute. Das führt uns in ein Paradoxon. Auf der einen Seite verlangt man von Ihnen, dass Sie über die Kondition verfügen, diese Geschwindigkeit zu halten; auf der anderen Seite sollen Sie Stress vermeiden, um leistungsstark zu bleiben. Man erwartet also Tempo und eine innere Ruhe und gleichsam eine Flexibilität, weil der Markt sich verändert. Das wirft die Frage auf: Wie können Sie diesem Dreieck der Ansprüche genügen?

Ich habe viel geforscht, habe weltweit mit vielen Top-Unternehmen genau dazu gearbeitet und festgestellt, dass es einen Begriff gibt, der zwar in aller Munde ist, der jedoch oftmals missverstanden wird: Agilität! Viele gehen heute davon aus, dass es in zehn Jahren nur noch 50 bis 60 Prozent der heutigen Unternehmen geben wird, nämlich die, die sich in der entsprechenden Richtung und Geschwindigkeit transformieren konnten. Dementsprechend wichtig ist es, dass Unternehmen agil sind. Will heißen: Unternehmen sollten schnell und innovativ handeln, die Richtung dabei immer wieder flexibel ändern können und trotzdem wissen, wer sie sind und warum sie existieren. Damit die Veränderung nicht wahllos ist, sondern intentional und der Mission entsprechend. Doch ein agiles Unternehmen braucht agile Führungskräfte, und so stellt sich die Frage: Was ist ein agiles Mindset?

Es bedeutet im Kern, in entscheidenden Augenblicken präsent und gewahr zu bleiben, den Autopiloten auszuschalten, innezuhalten und bewusst aus der inneren Ruhe zu handeln. Punktum.

Wir rennen nicht mehr auf einem ausgelatschten Pfad zum Ziel. Wir stürmen nicht mehr durch das flatternde Zielband, weil alle das immer schon so taten. Wir beten nicht die Ziele und Vorgaben unreflektiert hinunter und sehen eine Strategie nicht als unantastbar an. Nein, wir bewahren in der Hektik des täglichen Wandels eine innere Ruhe und Klarheit. Wir werden innerlich elastisch. Wir atmen ein und aus, aktivieren unser parasympathisches Nervensystem, jene Stränge, die für den inneren Ausgleich zuständig sind - und handeln bewusst aus der Kraft der inneren Ruhe.

Es mag sein, dass andere in diesen Momenten an Ihnen vorbeidonnern, sich bereits als Sieger fühlen, aber Sie bleiben ruhig und finden den Einklang in sich wieder und lassen es nicht zu, dass übermäßiges Cortisol Ihre Sinne im Stress vernebelt. Just in diesem Moment des Innehaltens setzt etwas ein, das ich Intentionalität nenne. Es ist die kreative Kraft, durch die wir unser wahres Potenzial nutzen und mit unserem Genie in Kontakt kommen, wenn ein Geistesblitz einer Kunst vorausgeht. Dann nämlich geschieht Folgendes: Sie eröffnen in sich einen Raum für das Netzwerken der Neuronen, für die Konzentration im präfrontalen Kortex. Dieser Bereich im Gehirn ist für Aufmerksamkeit und rationales Denken zuständig. Gleichzeitig erlauben Sie Ihrem Gehirn, auf Gedächtnisinhalte, auf Wissen und Emotionen zurückzugreifen. Wie wir das in kritischen Situationen leben können? Nun, Sie schaffen das zum Beispiel, indem Sie sich in dieser Situation Ihrer Atmung gewahr werden. Das bestätigt die moderne Wissenschaft. Doch dazu später mehr.

Abbildung 1: Innere Stabilität und Schnelligkeit als Voraussetzung für Agilität (Quelle: TLEX)

Merksatz

Ein agiles Mindset entsteht durch die Balance zwischen Schnelligkeit und innerer Ruhe.

Von der Kraft der Langsamkeit

Wenn ich im vorigen Kapitel von den Schwingungszuständen unseres Gehirns gesprochen habe, dann will ich das an dieser Stelle wieder aufgreifen: Wir werden in Zukunft, in der unsere Welt sich noch rasanter wandeln wird, nicht durch Temposteigerung Schritt halten können. Noch mehr E-Mails, noch mehr Meetings, noch mehr Präsenz in den sozialen Medien?. Dieses Nochmehr brennt uns auf Dauer aus, schlimmer noch, es bringt unser Gehirn in eine Schwingung, an deren Ende der Crash und damit die totale Erschöpfung stehen. Ich weiß es, Sie wissen es, und Ihre Kolleginnen und Kollegen wissen es auch. Aber Hand aufs Herz: Ändern wir etwas daran? Beugen wir dem Crash täglich vor, um gesund zu bleiben? Wenn ich in meinen Trainings nachfrage: »Warum gönnen wir uns so selten Pausen? Warum hören wir nicht auf die Körpersignale? Warum nehmen wir die Anzeichen von Stress nicht wahr?«, dann fühle ich mich wie ein strenger Hausarzt, der gerne schimpfen möchte mit dem Patienten, ihn aber nur allzu gut versteht!

Und doch rate ich Ihnen: Atmen Sie täglich mindestens zwölf Minuten lang in Achtsamkeit, denn Studien haben gezeigt, dass Sie mit diesem Zeitinvestment bereits sehr gute Ergebnisse erzielen, wie ich in Kapitel 12 detailliert ausführen werde. Stellen Sie sich vor, wie der Sauerstoff durch die Nase, durch die Kehle in die Lunge fließt und von dort bis in die kleinste Rundung Ihres Körpers. Genießen Sie diese völlig nebenwirkungsfreie Methode, um Ihren Präsenzmuskel zu stärken. Wohlgemerkt, ich rede von zwölf Minuten täglich. Doch mein Gegenüber antwortet allzu oft, er oder sie habe dazu keine Zeit.

Seit der Corona-Pandemie hat sich die Anzahl der Meetings um das 2,5-Fache erhöht, so zeigt es eine von Microsoft veröffentlichte Studie.1 Die Kalender sind gefüllt mit diesen Terminen. Meetings, so sagen über 62 Prozent aller Mitarbeitenden in einer repräsentativen Umfrage des State of Work-Report aus dem Jahr 2020,2 seien enorm frustrierend, hielten vom eigentlichen Arbeiten ab und seien doch eine Pflichtübung in Unternehmen. Aber Vorsicht, sie haben Nebenwirkungen, und die lauten: Zeitmangel und Energieverlust. Der Meeting-Marathon vermittelt oft das kurzfristige Gefühl, Stunde um Stunde etwas geleistet zu haben. Doch die Wahrheit sieht anders aus. Und auch davon berichten viele Führungskräfte: Meetings bergen eine Frustrationsgefahr, weil wir Zeit und Energie oftmals sinnlos binden - und den Preis zahlen wir später, beruflich und privat. Uns gehen Inspiration und Kreativität verloren. Wir agieren im Autopilotmodus nach...