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Man musste kämpfen, wenn man nicht ewig am unteren Ende der Leiter stehen und zu den Mächtigen hinaufsehen wollte. Man musste gegen die Mächtigen kämpfen. Und er würde es tun. Er würde nicht klein beigeben. Davon war er überzeugt. Jetzt, nach dem Gespräch mit dem jungen Mann, noch mehr als zuvor. Er hatte bereits zu viel geopfert, stand zu lange schon unten, geduckt und geprügelt, immer mit der Angst im Nacken, dass es irgendwann einmal nicht mehr weitergehen würde.
Es wurde Zeit aufzustehen.
Radu Tirla war müde. Er hatte einen langen Tag hinter sich. Bereits um halb sieben war er auf der Baustelle gewesen. So vieles musste noch fertig gemacht werden. Sie waren in Verzug. Sie mussten schneller arbeiten, sonst würde man ihnen Geld vom Lohn abziehen. Es war ein harter Job.
Bis nach 20 Uhr war er auf dem Bau geblieben, dann in die Heßstraße, in das Büro dieser kleinen Partei, gefahren, um sich wieder mit dem jungen Mann zu treffen. Dort hatten sie ein langes Gespräch geführt. Radu war schon vorher davon überzeugt gewesen, dass man etwas unternehmen musste, sich nicht nur ducken durfte, doch jetzt hatten sie einen Weg gefunden, um sich zu wehren.
Der junge Mann war eifrig, wie die Jugend so ist, begeistert und voller Feuer für seine Sache. Radu wusste nicht, ob er am Ende einen Vorteil davon haben würde, aber der junge Mann hatte recht: Wer nicht kämpft, hat schon verloren.
Jetzt war es 22.30 Uhr. Er spürte die Müdigkeit wie eine zähe Flüssigkeit, die ihn umhüllte. Seine Beine waren schwer, als er kraftlos nach Hause marschierte.
Radu Tirla stammte aus Vorniceni, einer Kleinstadt mit rund 4.000 Einwohnern im Kreis Boto?ani im letzten Winkel der Region Moldau, dem Osten Rumäniens, der als ärmste Gegend des Landes galt. Sein 16-jähriger Sohn Dumitru sagte, Vorniceni sei ein so unbedeutendes Nest, dass man nicht einmal auf Wikipedia einen Eintrag darüber finden würde. Das stimmte nicht ganz, Radu hatte das nachgeprüft. Zwei Sätze gab es dort über seinen Heimatort. Sein Sohn wollte ihm damit klarmachen, wo sie lebten und vor allem wie und welche Chancen sie hatten, jemals da rauszukommen - nämlich keine.
Die nächste größere Stadt, Saveni, war etwa 20 Kilometer entfernt, die Kreishauptstadt Botosani 30. Arbeit gab es in keinem der beiden Orte für Radu. Selbst wenn er eine gefunden hätte, wäre das Gehalt so niedrig gewesen, dass er seine Familie damit nicht durchgebracht hätte. Bei seinem letzten Job in Rumänien hatte er umgerechnet 250 Euro im Monat verdient. Das bekam er hier pro Woche.
Von Vorniceni nach Bukarest waren es beinahe 500 Kilometer. Zu weit weg, um zu Hause zu leben. Da konnte er genauso gut in Ungarn, Österreich oder Deutschland arbeiten.
Im Dezember 1989, als die Revolution ausbrach, war Radu 14 Jahre alt gewesen. Politik hatte ihn damals nicht interessiert, die Mädchen waren wichtiger gewesen. Die Kämpfe in Timi?oara und Bukarest, die Flucht von Ceau?escu, dessen Festnahme, der Schauprozess und seine Hinrichtung, all das hatte er im Fernsehen gesehen. Es war für ihn so weit weg gewesen, als wäre es in einem fernen Land geschehen. Damals war er als Maurerlehrling bei einer großen staatsnahen Baufirma in Boto?ani angestellt gewesen. Man konnte über Ceau?escu schimpfen, so viel man wollte, aber zumindest hatte es damals Arbeit gegeben.
Ein Jahr später wurde er entlassen. Keine Aufträge mehr, die Firma musste sparen. Viele im Betrieb erhielten in dieser Zeit ihre Kündigung. Nach einem weiteren Jahr wurde die Firma geschlossen.
Radu ging nach Ungarn. Illegal. Nachdem die Grenzzäune abgebaut worden waren, stellte das kein Problem dar. Blieb einige Monate in Budapest. Dann fuhr er weiter nach Österreich und nach Deutschland. Immer illegal. Jedes Mal erwischten sie ihn nach einiger Zeit, und er versuchte, ins nächste Land zu kommen.
Fünf Jahre lang schlug er sich so durch. Er verdiente gutes Geld, schickte viel davon seinen Eltern nach Hause. Dann lernte er Felicia kennen, blieb in Rumänien und sie heirateten bald. Felicia arbeitete in einer großen Möbelfabrik in Botosani, nähte Bezüge für Polstermöbel, die nach Westeuropa verkauft wurden. Als sie mit ihrer Tochter Mirela schwanger war, verlor sie ihre Stelle und fand keine neue mehr. Drei Jahre später kam Dumitru zur Welt.
Lange Zeit war es Radu gelungen, seine Familie zu ernähren. Er hatte einige Ersparnisse und Arbeit in einer Fabrik für Betonguss in Dorohoi, eine halbe Autostunde von Vorniceni entfernt. Sie wohnten in einem kleinen Haus in der Nähe von Felicias Eltern. Alles lief gut. Doch dann kaufte ein englischer Investor die Firma, und Teile der Produktion wurden nach China verlegt. Dort könne man billiger herstellen, hieß es. 200 Arbeiter wurden entlassen, darunter auch Radu. Mehrere Monate bemühte er sich vergeblich, eine neue Stelle zu finden. Er hätte alles gemacht. Aber es gab nichts. 43 Prozent Arbeitslosigkeit in der Region.
Das war die Zeit, in der sein Sohn geboren wurde.
Deshalb entschloss er sich, wieder nach Westeuropa zu gehen. Zuerst nach Deutschland, illegal. Immer mit der Angst, erwischt zu werden. Zwei Jahre ging es gut, dann wurde er geschnappt. Zurückgeschickt. Das Ganze wiederholte sich zweimal, dann ein Einreiseverbot.
Am 1. Januar 2007 traten Rumänien und Bulgarien der EU bei. Es gab strenge Auflagen, was die Beschäftigung betraf, aber keine Einschränkungen mehr im Reiseverkehr.
Ein Onkel gab Radu eine Adresse von einem Arbeitsvermittler in Bukarest, und dort wurde ihm eine legale Arbeitserlaubnis für Österreich besorgt. So kam er in dieses Land. Zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren durfte er offiziell in Westeuropa Geld verdienen. Er arbeitete viel und wurde gut bezahlt - für rumänische Verhältnisse.
In den letzten Jahren war es jedoch schwieriger geworden. Immer härter die Arbeit, immer geringer der Lohn. Doch auch das hatte er ertragen. Bis vor einigen Wochen, als der Bauherr ihm und seinen Kollegen das Geld für eine ganze Woche verweigert hatte, weil sie angeblich schlechte Arbeit abgeliefert hätten. In Wirklichkeit wollte der Kerl sie um ihren Lohn betrügen. Da hatte es ihm gereicht.
Aber sie waren machtlos. Was hätten sie auch tun sollen? Wohl oder übel hatten sie es akzeptiert. Doch Radu hatte es nicht vergessen. Seine Wut war groß.
Ein Glück, dass er dem jungen Mann begegnet war, sich mit ihm unterhalten und ihn heute erneut getroffen hatte.
Es war Zeit, aufzustehen! Es war Zeit, sich zu wehren!
Obwohl Radu Tirla von dem langen Tag sehr müde war, ging er zu Fuß zurück. Er schätzte, dass er etwa eine Viertelstunde brauchen würde, und ging absichtlich langsam. Er musste nachdenken, das konnte er nicht in seinem Zimmer, weil er es mit mehreren Kollegen teilte. Außerdem war die Nacht angenehm, die Sommerhitze der vergangenen Tage vorüber. Jetzt, Anfang September, war es kühler geworden.
Er bemerkte nicht, dass ihm drei Männer folgten, in einiger Entfernung und getrennt voneinander, auf derselben Straßenseite und auf der gegenüberliegenden, aber so, dass sie ihn nicht aus den Augen verloren. Jetzt schlossen die drei zu ihm auf, einer von ihnen überholte ihn und stellte sich ihm in den Weg. Es war ein großer Kerl, Mitte 30, kräftig gebaut, mit einem runden Gesicht und einer Glatze. Er trug eine kurze Jacke und Jeans, alles in Schwarz.
Radu erstarrte. Hätte er an ihm hinuntergesehen, wären ihm die schweren Stiefel aufgefallen.
»He, du Scheißzigeuner«, zischte der Mann vor ihm. Leise und gefährlich klang es, und der Mann grinste, aber das Lächeln war nicht freundlich, sondern böse und gemein.
Radu war ein Rom, so wie die meisten Leute in Vorniceni. Er wunderte sich, woher der Mann das wusste.
»Wir brauchen hier keine Zigeuner.« Der Typ gab ihm einen Stoß, drängte ihn von der Straße auf einen kleinen Parkplatz. Die zwei anderen traten hinter Radu.
Radu wollte keinen Streit. Er lebte lange genug in diesem Land, um die Ausländerfeindlichkeit der Leute zu kennen. Sie wurde nicht immer offen zur Schau gestellt, brodelte meist unter der Oberfläche der Menschen. Doch wenn sich eine Gelegenheit bot, sprudelte sie hervor wie die Unheil bringende Lava eines heimtückischen Vulkans. Er wollte einfach weitergehen, versuchte, an dem Mann vorbeizukommen, aber der stellte sich ihm erneut in den Weg.
Bevor Radu ein Wort sagen konnte, spürte er einen heftigen Schlag im Rücken, genau an der Niere. Eine Welle des Schmerzes packte ihn. Der nächste Hieb, diesmal in den Magen. Die Luft blieb ihm weg, helle Punkte tanzten vor seinen Augen. Er krümmte sich nach vorne. Noch einmal wurde zugeschlagen, in die Rippen. Er hörte, wie sie knackten, und ein heftiger Stich durchfuhr seinen Oberkörper. Er rang nach Atem. Doch da wurde er erneut getroffen, jetzt in die Seite. Er schrie vor Schmerz, ging in die Knie. Unfähig, zu denken. Er hatte Panik. Wollten die ihn totprügeln?
Er wurde an den Haaren gepackt und hochgezogen. Der Mann vor ihm schlug ihm die Faust ins Gesicht. Sofort spürte er Blut im Mund. Der Mann schlug noch einmal zu und noch einmal. Radu war benommen, sah den Kerl vor sich nur mehr verschwommen.
Der Kerl beugte sich über ihn und flüsterte: »Wir brauchen dich hier nicht. Also verschwinde dahin, wo du hergekommen bist.« Er richtete sich auf, griff in seine Jackentasche und zog einen Schlagring heraus. Langsam schob er ihn über seine Hand.
Der erste Schlag traf Radu an der Schulter. Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, zerschmetterte der zweite Hieb sein...
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