I. Westennest
Nirgendwo roch es so nach frischen Äpfeln wie in der Höttinger Au. Im Haus meiner Großeltern duftete es überall danach. Erklären kann ich mir das nur so, dass meine Oma die Äpfel heimlich kistenweise im Haus versteckt hat. Tatsächlich stand in ihrem Garten ein alter Apfelbaum: Darauf wuchsen sogenannte Wirtschaftsäpfel, sauer und nicht jedermanns Geschmack, aber perfekt für einen ordentlichen Apfelstrudel. Gästen, denen die Tür geöffnet wurde, stieg der Duft unweigerlich in die Nase. Die Garderobe, die Wohnküche, alle Zimmer im Haus waren erfüllt davon. Mir kam es immer vor wie Urlaub, wenn wir zu Besuch hierherfuhren. Das Haus, mehr ein Häuschen, erinnerte an einen dieser Bungalows, wie man sie aus dem Urlaub kennt. Das Haus in der sogenannten Heilig-Jahr-Siedlung war flach, es gab kein Stockwerk, auch das Dach war flach. So etwas sah man zu der Zeit in Innsbruck nicht oft: Der Bungalow war nicht freistehend, vielmehr stand er in einer Reihe mit mehreren anderen. Links und rechts waren Häuschen angebaut, es waren mehrere parallel verlaufende Zeilen, die so eine Siedlung ergaben. Dazwischen gab es Wege und, gemessen an der Kleinheit der Häuser, recht große Gärten. Zumindest konnte man als Kind herrlich darin spielen und sich bewegen. Innen fühlte man sich fast wie in einem Wohnwagen, in der offenen Wohnküche befand sich eine rustikale Eckbank samt Wandvertäfelung aus hellem Lärchenholz, fast wie auf einer Almhütte. Die Atmosphäre war beengt, aber heimelig. Die Veranda war lauschig, der Garten gepflegt, von einem mit Natursteinen gepflasterten Weg in zwei Hälften geteilt. Besonders verführerisch kam der Apfelduft im kühlen, weil auch im Winter ungeheizten Wohnzimmer zur Geltung. Dieses Zimmer, das ehemalige Kinderzimmer meiner Mutter, war ein Durchgangszimmer. Von dort gelangte man ins Schlafzimmer der Großeltern, das ich nie betreten habe, und in den Garten. Es glich eher einem Schlauch und wurde daher nur an einem einzigen Tag im Jahr bewohnt: zu Weihnachten.
Hier im Wohnzimmer war der einzige freie Platz für den Christbaum. Nur ab und zu, vor allem wenn es drüben in der Stube zu laut wurde, verzog sich mein Opa hierher, um in Ruhe fernsehen zu können. Wenn die Nachrichten liefen, wollte er von nichts und niemandem gestört werden. Meine Großeltern besaßen nämlich - ein seltener Luxus für diese Zeit - zwei Fernsehapparate. Was mir genauso imponierte, war die Tatsache, dass meine Großeltern Kabelfernsehen hatten. Mein Opa Hans, Jahrgang 1920, war, wie viele Männer seiner Generation, geradezu besessen von Fernsehnachrichten. Irgendwie kein Wunder, schließlich war es sein Beruf, für den richtigen Empfang zu sorgen. Er hatte als Diplom-Ingenieur bei der Post die Sendeanlagen am Patscherkofel, Innsbrucks Hausberg, geplant. Diese Geschichte trug ihm den familiären Stolz ein, was ihm aber eher egal war. Hauptsache, man gönnte ihm seine Ruhe während Zeit im Bild und Tagesschau. Denn so hielt er Kontakt zur Welt, in der Zeit des Kalten Krieges.
Wenn die Nachrichten liefen, durfte ihn absolut niemand stören, seine Frau, meine Oma, nicht, meine Mutter genauso wenig, und wir, seine Enkelkinder, schon gar nicht. Dann versank er in dieser Mischung aus Politik und Chronik, aus Regierungserklärungen und Parlamentsdebatten. Kreisky, Reagan, Schmidt oder Kohl, das waren die Namen, mit denen ich ständig konfrontiert wurde und mit denen mein Opa um sich warf. Mit denen kannte er sich aus und keine Wortmeldung der wirklich Wichtigen durfte verpasst werden. Dass es sich beinahe ausschließlich um alte weiße Männer in grauen oder braunen Anzügen handelte, wurde von niemandem zu der Zeit auch nur ansatzweise in Frage gestellt. Vielleicht lag es ja daran, dass neben dem Apfelduft immer auch so eine Schwere und fast schon militärische Strenge im Raum lag. Davon gab es nur eine Ausnahme: das Badezimmer. Dort, im hintersten Raum des Hauses, wo man, was sonst praktisch unmöglich war, die Tür abschließen konnte, sorgte mein Opa Hans für Odeur. Das brachte ein Stück Seife, das in einer weißen, leicht vergilbten Schale aus Email neben dem Waschbecken lag. Die Seife war grün wie eine Tanne, in etwa so wie jene mächtige, die im großelterlichen Garten stand. Und genau so roch dieses Stück Kernseife. Ich mochte ihren frischen, scharfen Geruch, der den Apfelduft konterkarierte und ihm locker Paroli bot. Viel später fand ich heraus, dass die Seife von der Innsbrucker Seifenfabrik Walde stammte. Sie ist immer noch erhältlich, ich kaufe sie heute gelegentlich selbst. Möglicherweise, um die Erinnerung an das verschwundene Haus meiner Großeltern frisch zu halten. Ja, richtig. Das Haus mit der Adresse Fischerhäuslweg 24 existiert heute nicht mehr.
Höchstwahrscheinlich nur Zufall, aber das Auto meines Großvaters war auch tannengrün. Auf diese Beobachtung war ich als Kind ungemein stolz. Unser Auto, das meiner Eltern, ein dreitüriger Fiat 128, war auch grün, olivgrün. Ich weiß noch, wie wenig Platz wir darin hatten, wenn wir von Amras quer durch die Stadt in die Höttinger Au zuckelten, zu dritt oder zu viert auf der Rückbank, eingequetscht wie Sardinen in der Dose, vorne die Eltern. Es herrschte immer ein wildes Gezeter und oft auch handgreifliche Streiterei, was bei drei Brüdern aber nicht weiter verwunderlich ist. Die Leidtragende war meistens meine ältere Schwester, die als Mädchen naturgemäß oft zwischen die Fronten geriet. Wir fuhren immer die gleiche Strecke von Amras über den Südring, Innsbrucks Hauptverkehrsstraße, die damals, Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre, noch so gut wie leer war. Worin der Unterschied zwischen dem Osten der Stadt, aus dem wir kamen, und dem Westen, wo wir hinfuhren, lag, konnte ich mir als Kind nicht so richtig erklären, trotzdem fühlte ich ihn und war er spürbar. Bei uns in Amras gab es das Dorf, alte Bauernhäuser, einen unendlich hohen, imposanten Kirchturm, die Nähe zum Schlosspark Ambras und zum Wald. Ich wuchs am Rand des Dorfs in einem städtischen Block, einer im Blocksystem errichteten Sozialbausiedlung auf. Die gewohnte Umgebung bestand aus einem von unzähligen Kindern dieses Blocks bevölkerten Hof, wo wir Kinder, die meiste Zeit uns selbst überlassen, spielen und voneinander lernen konnten, was es heißt, Kind zu sein. Was uns mit der Stadt verband, waren nicht nur die städtischen Wohnbauten, sondern auch die Nähe zur Straßenbahn. Die Linie 3, deren Endhaltestelle gleich um die Ecke lag, brachte einen direkt in die Innenstadt. Wer aus Amras hinauswollte, kam daran nicht vorbei. Für mich war das Vorhandensein der Straßenbahn ein sichtbares Zeichen für die Einheit von Stadt und Leben.
In der Höttinger Au gab es nichts, was es in Amras gab. Das war eine ganz andere Gegend. Für uns Kinder war dieses verschlafene Nest mit seinen kleinen Häuschen, den privaten Gärten, zeilenförmig und geradlinig angeordnet, und ein paar in den schmalen Straßen parkenden Autos nicht sehr aufregend. Hier wurde einem quasi nichts geboten. Man sah kaum Menschen, keine spielenden Kinder wie in den städtischen Wohnblocks, hauptsächlich sah man ältere Leute, denen ihr Bedürfnis nach Ruhe und Ordnung regelrecht ins Gesicht geschrieben stand. Statt mögliche Spielkameraden traf ich hier auf notorische Langeweile. Eine neumodische, kühl wirkende Kirche, die für mich als Kind gar nicht nach einer richtigen Kirche aussah, erhärtete diesen Eindruck. Schließlich fehlte es diesem neumodischen Gebäude am Allerwichtigsten: einem anständigen Kirchturm, wie es ihn eben in Amras gab.
Was ich bewunderte und was mein kindliches Interesse weckte, war der Flughafen. Die Mischung aus Technik und Dingen, die man überhaupt nicht begreifen konnte, die sich einem nicht erschlossen, waren das genaue Gegenteil von alltäglich und langweilig. Das Beste war: Das Häuschen meiner Großeltern befand sich am Puls des Geschehens. Es befand sich in direkter Linie zur Einflugschneise, in Verlängerung der Start- und Landebahn. Wenn man sich im Garten meiner Großeltern aufhielt oder auf der Terrasse saß, gab es, speziell am Wochenende, alle paar Minuten einen ohrenbetäubenden Lärm. Dann startete oder landete eine der riesigen Düsenmaschinen und zog nur wenige Meter über unsere Köpfe hinweg. Der Höllenlärm der Maschinen versetzte mich jedes Mal in eine Mischung aus Schrecken und Faszination. Warum man ausgerechnet hier eine Wohnsiedlung gebaut hatte, verstand ich als Kind genauso wenig wie den Umstand, dass keiner der hier lebenden Menschen deshalb einen Funken Angst oder Sorge zeigte. Ich bewunderte das und fragte meinen Großvater, ob er nicht glaube, dass hier einmal eine Maschine auf sein Haus abstürzen und es so zerstören könne. Da lachte er nur und ich habe nie herausgefunden, warum. Für mich blieb das eines der für immer ungelösten Rätsel meiner Kindheit.
Wenn ich gewusst hätte, dass die Höttinger Au ein sehr junger Stadtteil war, wäre sie mir vielleicht weniger seltsam vorgekommen. So spürte ich lediglich, dass alles, was im Dorf Amras heilig war, hier nicht existierte: weder die dörfliche Tradition und der damit verbundene Geist, die von Kindesbeinen an jedem Bewohner eingeimpft wurden, noch die alteingesessenen Familien, von denen zahlreiche Legenden erzählt oder über die gemunkelt oder die Nase gerümpft wurde. Die Höttinger Au präsentierte sich mir als mehr oder weniger große grüne Wiese, als Spazierweg zum nahegelegenen Inn, der ohne Flughafen für uns als Kinder keinerlei Reiz besessen hätte. Viel mehr sah ich davon nicht, viel mehr wusste ich nicht und es wurde überhaupt wenig gesprochen zu der Zeit. Dass diese Sprachlosigkeit eine prägende Erscheinung der Zeit war, war mir genauso wenig klar. Woher auch?
Es war für mich als Kind mit Wurzeln in der Stadt und im Dorf Amras nicht absehbar, wie...