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Zwischen Mai 1960 und Juni 1961 erschienen unter dem Pseudonym «Publius» in der Basler National-Zeitung gut zwei Dutzend Kolumnen. Aus Sorge um das hohe Gut der Verfassung, so liess der Kolumnist seine Leserschaft wissen, schreibe er diese «Splitter», um die drängenden politischen und verfassungsrechtlichen Aufgaben der Zeit anzugehen. Es gehe um die Themen Macht und Herrschaft, Verfassung und Gesetze sowie um die Frage, wie Letztere formuliert sein müssen, um Erstere in die Schranken weisen zu können.12 Der Autor war niemand anderes als Max Imboden, seit sieben Jahren Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel, eben in das kantonale Parlament seiner Wahlheimat Basel-Stadt gewählt worden, gefragter Gutachter und Experte für Themen rund um die Schweizer Politik sowie begnadeter Verfechter einer auf Verfassung und Gesetz beruhenden Demokratie.
Diese Themen, so der Verfasser, gingen alle etwas an, sie seien nicht «Monopol der Juristen».13 Wohl wusste er um die - vermeintliche - Trockenheit der Materie: «Das Wort gehört heute kaum zu den erregenden und bewegenden politischen Vorstellungen. Es scheint etwas auszudrücken.» Aus diesem Grunde näherte er sich dem Gegenstand mit Rückbezug auf den nicht minder grossen Leitgedanken der Macht: «Ohne Macht [.] keine soziale Ordnung», konstatierte er und wandte sich damit gegen eine allgemeine Diskreditierung des Machtprinzips als das prinzipiell .
Es war diese allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber der Verfassung, die Imboden regelmässig zur Feder greifen liess - eine Verfassung, die ihm nicht nur Mittel zur Machtregulierung war, sondern gleichsam als Hüterin der Werte einer liberalen Gesellschaft fungierte. Um ähnliche und weitere Verfassungsfragen zu behandeln, werde er künftig in zwangloser Reihenfolge solche streuen, liess er die Leserschaft wissen.14Imboden nahm damit eine Textart wieder auf, die er bereits 1935 als junger Student der Rechtswissenschaft erprobt hatte.15 Ihn beschäftigten aber nicht nur die grossen staatsphilosophischen Themen, sondern auch ganz konkrete Tagesfragen zu Gesetzesänderungen, Referenden und zu neuen Regulierungen. Er kommentierte Anträge von Parteien, Kommissionsdiskussionen des Parlaments sowie Eingaben und Entscheide des Bundesrats. Nichts war ihm heilig - oder anders gesagt: Alles war ihm heilig genug, um sich intensiv und akribisch damit auseinanderzusetzen. 25 dieser Zwischenrufe sind schliesslich erschienen.
Tatsächlich drehten sich die Kolumnen letztlich immer um die eine Frage, wie das Recht in der Willensnation Schweiz - diese war gleichsam Axiom von Imbodens Denken - ausgestaltet zu sein hatte, um eine Machtkonzentration zu verhindern und die Werte einer offenen Gesellschaft schätzen zu können, Werte wie Freiheit, Gleichheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Denn Publius - alias Max Imboden - sah diese und damit die Grundlagen für ein gutes Zusammenleben zunehmend bedroht. Seit einem Vierteljahrhundert, so sein Verdikt, zeige sich eine fortlaufende Entwertung des «obersten Gesetzes», die sich in einer Gleichgültigkeit gegenüber den Möglichkeiten aktiver Teilhabe am politischen Geschehen manifestiere, was sich auch als Indifferenz gegenüber der Verfassung deuten lasse. Dadurch werde aber dem Gewalthaber Tür und Tor geöffnet, sich an allen Ecken und Enden auszudehnen und einzunisten.16 Imboden als Verfechter von liberalen Werten und Freiheitsrechten konnte diese Entwicklungen nicht gutheissen.
Konkret widerspiegelte sich diese Gleichgültigkeit gegenüber der Verfassung im Rückgang der Stimm- und Wahlbeteiligung auf kantonaler und eidgenössischer Ebene. Diese Stimmabstinenz respektive das Desinteresse an den grundlegenden Bürgerrechten beschäftigten den Staatsrechtler stark, und er widmete dem Thema mehrere seiner Beiträge.17 Noch sah er keine eigentliche Krise am Horizont, aber die zunehmende Indifferenz gegenüber diesem grundlegenden Rechtsdokument besorgte ihn durchaus.
Es ging dem Intellektuellen darum, «in der Betriebsamkeit unseres vom Wirtschaftswunder beseelten helvetischen Alltags» innezuhalten und darüber nachzudenken, wie in der Schweiz im Zeitalter des Golden Age, des Wirtschaftswachstums, des zunehmenden Wohlstands der damit einhergehenden Trägheit der Gesellschaft zu begegnen sei und wie das Zusammenleben vor diesen neuen Gegebenheiten ausgestaltet sein müsse. Seit Langem hatte der Jurist dafür plädiert, den Staat als Gestaltungsaufgabe der Bürger und - als früher und dezidierter Verfechter des Frauenstimmrechts - der Bürgerinnen zu sehen und nicht als etwas Bedrohliches, das Macht über sie ausübe.
In den 1960er-Jahren nun, als ein gesellschaftlicher Normalitätskonsens noch immer gegeben schien, wollte Imboden nochmals in aller Schärfe darauf hinweisen, dass die seit dem Kalten Krieg vorherrschende wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität und das generelle Vertrauen in die staatlichen Institutionen auf ihrer Negativfolie eine gesellschaftliche Trägheit zur Folge hatten. Dem hielt Publius den Verfassungsstaat der Neuzeit entgegen, den «grossartigsten vom Menschen unternommene[n] Versuch, den Staat auf dem festen Boden des Rechts»18 zu gründen. Werde dieser Errungenschaft nicht genügend Sorge getragen, öffneten sich Tür und Tor für Zwang und Gewalt.
Als Jurist beschäftigte sich Imboden mit dem Staatsrecht, also mit Themen der Verfassung, mit den Grundrechten, mit dem Verhältnis zwischen Bürger:innen und Staat, aber auch mit demjenigen zwischen Bund und Kantonen, zudem mit den Aufgaben von Behörden und Verwaltung. Als Kolumnist wollte er sein Publikum nicht einfach als stumme Leserschaft ansprechen, sondern es auch für seine Anliegen gewinnen. Das Pseudonym «Publius» war denn auch nicht zufällig gewählt, sondern diente als Bekenntnis zu den von ihm verehrten amerikanischen «Verfassungsväter[n]» Alexander Hamilton, James Madison und John Jay, die das Grundgesetz der USA geschaffen hatten.19 «Wenn sich der oder die Verfasser hinter dem [sic] Namen stellen, dann soll damit eine geschichtliche Erinnerung heraufbeschworen sein. Als die älteste der heute noch geltenden Verfassungen - das 1787 im Konvent von Philadelphia ausgearbeitete Grundgesetz der Nordamerikanischen Union - im Kampf um seine Ratifikation gefährdet schien, sind drei grosse amerikanische Staatsmänner unter diesem Namen erfolgreich für das grosse Werk eingetreten. Diesem hohen Vorbild fühlt sich der Schreiber an seinem bescheidenen Orte zutiefst verpflichtet.»20 Diese «drei grosse[n] amerikanische[n] Staatsmänner» waren in Anspielung auf den römischen Konsul Publius Valerius Poplicola unter dem gemeinsamen Pseudonym «Publius» aufgetreten, ihre Texte erschienen 1787/88 in der Schrift The Federalist, einer Serie von rund 85 Artikeln, die in verschiedenen New Yorker Zeitungen mit dem Ziel veröffentlicht worden waren, die noch nicht ratifizierte föderale Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika voranzutreiben. Es handelte sich um eine Sammlung von Abhandlungen zu staatsrechtlichen Themen, die Imboden später ausführlich als Quelle für seine eigenen Schriften beizog.
Das Anliegen des Schweizer Publius war es also, sich öffentlich zu Fragen von Staat, Recht und Gesetz, von politischer Teilhabe und zunehmender Gleichgültigkeit gegenüber politischen Gestaltungsprozessen zu äussern. Es ging ihm darum zu verstehen, welche gesetzlichen Rahmenbedingungen für Stabilität
Max Imboden erteilt seinen Landsleuten eine Lektion in Sachen Staat (St. Galler Tagblatt Nr. 354, 31.7.1937)
sorgten, die ihrerseits die Voraussetzung für eine politische Partizipation war.
Es war nicht das erste Mal, dass sich Imboden an die Öffentlichkeit wandte. Bereits im Alter von 22 Jahren wollte er 1937 in einer 1. August-Rede der Leserschaft des St. Galler Tagblatts eine Lektion erteilen, indem er in nuce das Thema ansprach, das ihn fortan umtreiben sollte: Die politische Struktur der Schweiz stelle eine Form menschlicher Gemeinschaft dar, die sich von innen heraus forme respektive definiere und sich nicht mit einem von aussen oktroyierten Ziel vertrage: «[Der Staat] ist die Form einer menschlichen Gemeinschaft, wo jeder das mit sich bringt, was er selbst ist und wo das Ganze in beständigem lebendigen Zusammenwirken aus seinen Teilen hervorgeht.» Der Staat, so formulierte es der junge Max Imboden noch etwas unbeholfen, sei «bei uns» daher niemals etwas Fremdes, das den Einzelnen von aussen bedränge, vielmehr lebe er «von Kräften, die wir alle in uns tragen». Und schliesslich: Es gelte, den Mut aufzubringen, unzeitgemäss zu sein und nach Freiheit zu streben.21
Jahre später sollte er noch einmal auf seinen Appell zurückkommen. In einer Rede vor den Altzofingern, seiner ehemaligen Studentenverbindung, sprach Imboden vom «Mut des Gedankens»,22 über den die «Altvordern» verfügt hätten, der den Nachfolgegenerationen jedoch abhandengekommen sei: «Ein tiefes Misstrauen gegen Ideen und Programme hat uns heute erfasst. Wo es um den Staat und um die Gestaltung unserer menschlichen Gemeinschaft geht, sehen wir unsere Aufgabe vorab als die einer technischen Vervollkommnung.»23 Bereits hier also drehte sich sein Denken um die res publica, um die selbstständigen und eigenverantwortlichen Bürger:innen und ihr Zusammenleben: «Meine[m] Beruf und meiner beruflichen Arbeit lag...
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