2. Die Weisheit und die Methode
Traditionell verwendet man in verschiedenen Lehren zwei Schlüsselbegriffe: Weisheit und Methode. Der Begriff Weisheit umfasst alle Lehren und Belehrungen, die auf die absolute und non-duale Wahrheit hindeuten. Methoden sind Mittel der relativen Wirklichkeit, die es ermöglichen, die absolute Wahrheit offenzulegen und innerlich zu realisieren.
Die Advaitalehre sagt, dass es nur ein einheitliches absolutes Bewusstsein gibt, das ALLES ist und es nichts gibt, was es nicht ist. Es gleicht dem unendlichen Raum, es ist unbegreiflich, unendlich, ursprünglich rein, alldurchdringend und spontan vollkommen. Es ist unerschütterlich, unbefleckt, allgegenwärtig, unveränderlich und ohne Stütze. Es ist die lichtvolle Leerheit, welche die Fähigkeit zur Emanation hat und aus sich heraus eine unendliche Anzahl an Universen ausstrahlt. Die Heiligen sagen, dass wir dieses absolute Bewusstsein sind, und sie rufen uns dazu auf, seine innere Natur zu erforschen.
Es existieren verschiedene Wege, die zur Realisation des nondualen Bewusstseins führen. Insgesamt können sie in zwei Kategorien aufgeteilt werden: allmähliche und spontane. Der allmäh-liche Weg ist mit einer kontinuierlichen Anstrengung verbunden, mit der Anwendung der Methoden der Konzentration, Meditation, Energiesteuerung usw. Der spontane Weg führt über die anstrengungslose Selbsthingabe gegenüber dem absoluten Selbst.
Im Advaita der Siddha-Tradition sind diese zwei Wege miteinander verbunden. Obwohl die höchste Sichtweise in Bezug auf die subtile Bewusstheit und die Selbsttranszendierung schon in den ersten Lehrphasen übertragen wird, werden relative Methoden nicht abgelehnt, sondern werden, ohne dabei Abstriche von der höchsten Sichtweise zu machen, zur Reinigung von Eintrübungen des Geistes genutzt.
Methoden der Siddhas
Die Methoden der Siddhas sind keine Methoden, die von den Menschen stammen. Sie tragen ein Wissen in sich, das als göttliche Offenbarung erhalten wurde. Diese Methoden sind Geschenke mächtiger Wesen, die jenseits aller Begrenzungen sind und sich im Zustand völliger Freiheit befinden.
Die Methoden des Siddhas sind deswegen so wertvoll, weil sie den Schüler schließlich jenseits der Methode in den ursprünglichen Zustand der Reinheit führen, wo Weisheit und Methode eins werden.
Die Methoden der Siddhas sind durch die Zeit geprüft, weil sie Jahrtausende lang genutzt wurden und zur Befreiung vieler Wesen geführt haben. Das bedeutet, dass jeder ein gutes Ergebnis erhalten kann, wenn er dem Weg der Siddhas folgt. In dieser Tradition haben viele Heilige nicht nur Erleuchtung und Befreiung erreicht, sondern auch einen Regenbogenkörper und schafften damit den "großen Übergang" (Kaya Vyuha).
Drei Arten zur Klassifikation von Methoden
Es gibt Methoden der Bereiche von Sutra, Tantra und Anuttara-Tantra. Diesen Bereichen entsprechen verschiedene Arten von Praktizierenden. Diese werden als Pashu (wenig Fähigkeiten, viele Hindernisse), Vira (starker Wille und heldenhafte Zielstrebigkeit) sowie Divya (außergewöhnliche, quasi göttliche Fähigkeiten) bezeichnet.
Prinzipien der richtigen Anwendung der Methoden
Respekt gegenüber den Methoden
Nur wenn man eine Methode als großartiges Juwel achtet, kann sich die Methode wirklich öffnen, erfolgreich sein und das beste Ergebnis erbringen.
Anwendung der Methoden der Übertragungslinie
Man sollte nur Methoden nutzen und anwenden, die unmittelbar aus der Übertragungslinie heraus erhalten wurden. Denn nur dann funktionieren sie, schaffen reale Transformationen, weil die direkte Übertragungslinie sie mit bestimmten Eigenschaften und mit der Kraft ihrer Segnungen ausstattet. So wie ein Same nur in einem guten Boden und durch die Pflege eines Gärtners wächst, so kann sich eine Methode nur mit Hilfe der Segnungen der Halter der Tradition entfalten.
Reinheit des Samaya
Samaya ist die Verbindung mit der Übertragungslinie, mit dem "Baum" der Zuflucht, mit allen Heiligen der Tradition. Dank dieser Verbindung geschieht das Zusammenspiel des Raumes des erwachten Bewusstseins der Siddhas mit dem Bewusstsein des Praktizierenden. Die Energie, die vom Meister und vom "Baum" der Zuflucht ausgeht, verleiht der Methode ihre Kraft.
Besondere Aufmerksamkeit sollte man auf die Entsprechung seiner Ebene der Entwicklung als Praktizierender zu den verwendeten Methoden legen. Nicht zu schnell vorgehen, ohne zu viele Ablenkungen auf die sekundären Methoden, dem Algorithmus des Prozesses der Schulung folgend, der in der Tradition angenommen wurde, geht der Praktizierender alle Schritte der Schulung nacheinander und erreicht den Erfolg. Bei solchem strategischen Vorgehen geht die Sadhana (die Praxis) erfolgreich voran.
Eindringen in die Feinheiten und Nuancen der Methode
Die Methode gibt das höchste Ergebnis, wenn man ein ausreichendes Wissen darüber hat und weiß, die Feinheiten anzuwenden, wenn man in das Mandala (eine gewisse göttliche Ordnung) der Methode reinkommen kann. Dieser Aspekt ist sehr wichtig, weil viele Menschen die Methoden jahrzehntelang praktizieren und keine Zeichen der Realisation erhalten. Das hängt damit zusammen, dass die Feinheiten nicht eröffnet wurden, die Vertiefung in die Methode nicht stattgefunden hatte. Deswegen soll die Vertiefung in die Methode vollständig sein.
Regelmäßigkeit und Systemhaftigkeit der Praxis der Methode
Eine Methode zu praktizieren, heißt von Tag zu Tag die Meisterschaft zu steigern, in die Methode untertauchen. Solche Meisterschaft kommt mit den Jahren der Praxis.
Das Wichtigste ist immer an das Wichtigste zu denken
Alle Methoden werden angewandt auf dem Hintergrund der Vertiefung in den natürlichen Zustand und in die subtile Bewusstheit. Für die Praktiker des Advaita der Siddhas ist das besonders wichtig, weil in unserer Lehre jede Methode immer auf dem Hintergrund dieses Bewusstseins praktiziert wird.
Weisheit als Grundlage der Methode
Wenn wir dem Verstand nicht erlauben, sich an etwas festzuhalten, sich auf etwas zu fokussieren, wenn wir uns in einem Zustand ohne Stütze befinden, weit wie der Himmel, dessen Grenzen unendlich und das Zentrum überall sind, wenn unsere Wahrnehmung wie so eine Sphäre ist und sich frei in alle Richtung erweitert, dann sagt man, dass wir in dem natürlichen Zustand sind, in einer subtilen leeren und lichtvollen Bewusstheit.
Sich in einem stützlosen Zustand zu befinden bedeutet nicht, dass wir keine Praxis der Konzentration machen oder keine anderen Methoden anwenden, die Konzentration erfordern. Und hier ist es wichtig zu verstehen, was das Wichtigste in der Lehre ist und was sekundär, zusätzlich, was die Weisheit ist und was die Methode. Die Weisheit ist das Sein in dem natürlichen Zustand. Und wenn die Rede über die Weisheit ist, wenn der Schüler nach den Anweisungen bezüglich des Seins fragt, wenn er nach dem Darshan der Weisheit fragt, dann antwortet der Lehrer, dass es keine Konzentration, keine Chakras, keine Sankalpas (mentale Einstellungen) und so weiter sein müssen, dass man das alles wegtun und in einem bedingungslosen Zustand sein soll, den Verstand offen halten und auf sich selbst stützend haben soll. Das ist die Sicht.
Denn jegliche Fixierung des Verstandes, jegliche Konzentration, jegliche Färbung von was auch immer ist eine Begrenzung und sie ist das Gefängnis für das Bewusstsein. Die Aufgabe besteht darin, den Verstand in die wirkliche Freiheit zu entlassen. Keine Doktrinen, keine Theorien, keine Konzepte - all das soll weggeworfen werden, weil das reine Spiegel des Bewusstseins von allem frei ist.
Wenn wir aber über die relative Dimension reden, über die Praxis der Methode, sagen wir, dass Sankalpas (mentale Einstellungen) sehr gut sind, dass Arbeit mit Chakren und inneren Kanälen wichtig ist, genauso wie die Philosophie.
Die Weisheit ist der Hintergrund, auf dem sich unsere Praxis entwickelt. Das ist der Zustand, den wir anstreben und den wir zur Grundlage machen, zum Wichtigsten und die Methoden sind der Zusatz, die Hilfen, die es erlauben, die Weisheit frei zu legen. Die Methode ist der Diener der Weisheit und nicht umgekehrt. Die Weisheit ist der König und die Methoden sind Soldaten und Minister, die den Willen des Königs erfüllen und ihm dienen. In diesem Fall ist der König die durch nichts bedingte Natur des Geistes, die auf nichts fixiert ist.
Hier ist wichtig zu verstehen, dass zwischen der Weisheit und der Methode keine Widersprüche gibt, wenn man sie richtig versteht. Wir machen die Betonung darauf, dass man die Weisheit von der Methode erst mal trennen soll, zumindest solange wir den Status eines Mahasiddhas noch nicht erreicht haben.
In vielen Traditionen wird die Weisheit erst mal versteckt und die Betonung liegt auf der Methode (auf einer konkreten rituellen Praxis, Sutra, auf einem Symbol des Glaubens und so weiter) weil angenommen wird, dass irgendwann mit den Jahren, mit der Reinigung des Bewusstseins und mit der Entwicklung der Praxis die Methode die Weisheit von innen erweckt. Aber erstens kann es sehr lange dauern und zweites...