Schweitzer Fachinformationen
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Der Tag bricht an.
In der physischen Welt haben nur wenige Phänomene eine größere Wirkung als die Morgendämmerung. Allein durch ihr Aufscheinen nehmen wir alles in unserer Umgebung anders wahr. Stein, Bäume, Wasser, Himmel, Tiere, alles wird durch ihre Berührung verändert. Sogar die Gesichter und Körper. Die Morgenröte braucht nur aufzuglühen, und schon ergreift einen die Schönheit dessen, was man vorher kaum wahrnahm.
Allerdings entspricht das eher nicht den Empfindungen von Commandante Castro, als ihr Kollege, Capitaine Brabant, ihr einen Pappbecher mit kochend heißem Kaffee reicht. Nein, man kann nicht behaupten, dass sie je von Brabants Schönheit oder auch nur von seiner Eleganz ergriffen gewesen wäre. Er ist schweigsam, manche sagen sogar maulfaul, doch hinter dieser Maske steckt der anständigste Mann, dem Commandante Castro je begegnet ist.
Sie führt den Becher zum Mund und bläst auf die Oberfläche des schwärzlichen Gebräus. Zarter weißer Dampf steigt auf und löst sich in den schräg einfallenden Sonnenstrahlen auf.
»Na, bereit für die Premiere, Commandante?«, fragt Brabant mit leichter Betonung auf dem »Commandante«.
Castro zwinkert ihm mit einem Lächeln zu, das ihre ebenso weißen wie langen Zähne entblößt.
»Vannod hat mich daran erinnert, dass ich die Jüngste bin, die er je in diesen Rang befördert hat, und dann hat er noch gesagt, beim nächsten Mord wären alle Augen auf mich gerichtet.«
Castro entfährt ein nervöses kleines Lachen, bevor sie hinzufügt:
»Ich denke, ich sollte lieber keinen Mist bauen.«
Sie schließt für einen Moment die Augen und lässt die bräunliche Haut ihres Gesichts vom Sonnenlicht wärmen. Sie braucht nur ein, zwei Sekunden, um sich innerlich von allem äußeren Druck zu befreien.
»Gehen wir«, sagt sie schließlich knapp.
Castro und Brabant gehen mit energischen Schritten auf ein stattliches Gebäude mitten im Goldenen Dreieck von Paris zu. Castro trinkt ihren Kaffee aus und wirft den Becher in einen Abfalleimer.
»Ich habe gelesen, dass solche Becher bald verboten werden sollen.«
»Und?«
»Und?«, wiederholt sie. »Ich glaube, bald werden wir alle mit unserem eigenen Kaffeebecher herumlaufen müssen, wenn wir draußen auf der Straße einen Kaffee trinken wollen.«
Sie tut so, als würde sie eine Kaffeetasse an ihren Gürtel hängen, neben ihre Glock 19, und dreht sich kurz um sich selbst.
»Kannst du dir das vorstellen? Ich mit diesem Ding an der Taille, zwischen der Knarre und den Handschellen?«
Brabant lacht innerlich und verzieht dabei die Lippen zum breitestmöglichen Lächeln. Von außen gesehen gleicht es dem der Mona Lisa. Würde Castro ihn nicht so gut kennen, dann brächte sie eine derart steinerne Miene vielleicht in Verlegenheit. Doch sie fährt unbeeindruckt fort:
»All die Dinge, die man für unveränderlich hielt, verändern sich schließlich doch grundlegend, macht dir das keine Angst?«
Brabant kommt nicht zu einer Antwort. Ein uniformierter Polizist mit ergrauenden Schläfen ruft ihnen vom Portal her zu: »Sind Sie von der Kripo?«
»Ja«, antwortet sie. »Capi. Äh, Commandante Castro, und das hier ist Capitaine Brabant.«
»Die warten da oben schon ungeduldig auf Sie. Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Weg.«
Sie folgen ihm durch die kleine Vorhalle und gehen dann auf einer Holztreppe mit einem schmalen bordeauxroten Läufer nach oben. Während sie immer weiter hochsteigen, bemerkt Castro den zerknitterten Anzug des Beamten, seine schlecht geputzten Schuhe und ein kleines Loch im Synthetikstoff der Hose. Als sie den Treppenabsatz vor dem Tatort erreicht haben und er ihnen zwei Schutzanzüge hinhält, bemerkt sie außerdem auf seinen Handflächen und an seinen Fingern leichte Abschürfungen sowie winzige honigfarben glänzende Rückstände in den Hautfältchen. Alter Junggeselle, eingefleischter Raucher und Hobbyholzschnitzer, konstatiert sie still für sich.
Wenn die Beamten gelangweilt in einem Mannschaftswagen warten, dann können sich die starken Raucher ihr Zigarettchen nicht verkneifen. Und dann kommt es vor, dass unbemerkt ein bisschen Glut auf ihren Schenkel oder den Sitz fällt und ein kleines Loch in die Uniform brennt. Die Abschürfungen zeugen von Feinarbeit mit scharfen Werkzeugen, gefolgt vom Gebrauch eines Harzlacks, der solche schwer zu entfernenden kleinen Reste hinterlässt.
Von ihrem Vater, einem haitianischen Arzt, hat Castro sehr früh gelernt, die Kleidung und die körperlichen Besonderheiten von Menschen zu analysieren. Wenn er seine Tochter beeindrucken wollte, erläuterte er ihr die Techniken, mit denen er durch reine Beobachtung zu erraten versuchte, woran seine Patienten litten. An den wenigen Schritten, die sie tun mussten, um vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, an der Art, wie sie nach der Stuhllehne griffen und sich dann setzten, an derartigen für ein uneingeweihtes Auge gar nicht wahrnehmbaren Zeichen konnte er bei fast der Hälfte seiner Patienten bereits ihre Krankheit erahnen, noch bevor sie den Mund aufmachten. Als Kind dachte Castro, ihr Vater sei ein als Arzt verkleideter Zauberer.
Als sie gerade den Schutzanzug überstreift, öffnet sich die Tür der Wohnung gegenüber. Eine misstrauisch blickende alte Frau mit gebeugtem Rücken erscheint im Rahmen. Sie trägt ein uraltes pastellfarbenes Chanel-Kostüm, hoch oben auf dem Kopf einen Dutt - wie ihn nur alte Damen noch hochzustecken wissen -, grelle Schminke, die ihre tiefen Falten nicht zu verdecken vermag, und an jedem Finger einen goldenen Ring.
»Na, was ist dem Schriftsteller denn passiert?«, fragt sie.
Castro tritt auf sie zu.
»Guten Tag, Madame .«
»Léger. Madame Léger.«
»Commandante Castro von der Kripo, bitte gehen Sie zurück in Ihre Wohnung, wir kommen dann später und nehmen Ihre Aussage auf.«
»Wenn es die Kripo ist, dann stimmt was nicht! Ich wusste es ja!«
»Warum sagen Sie das?«
»Pfff!« Sie schnaubt, als wollte sie einen Kern ausspucken. »Das war ein verdächtiger Kerl, dieser Schriftsteller. Das wusste ich gleich, als ich ihn zum ersten Mal sah.«
»Ich komme dann in ein oder zwei Stunden zu Ihnen, in Ordnung?«
Die alte Dame murmelt etwas Unverständliches und schließt die Tür. Castro zieht ein Büchlein aus ihrer Gesäßtasche. Während sie ein paar Wörter hineinkritzelt, hört sie mehrere Schlösser, die eines nach dem anderen versperrt werden wie im Tresorraum einer Bank.
Beim Eintreten bemerken Castro und Brabant die diskrete Eleganz der Wohnung, in der das Verbrechen geschah. Die hohen Decken erinnern an den gedämpften Prunk des Second Empire, und die Stuckarbeiten an Wänden und Decken zeugen vom handwerklichen Können einer anderen Epoche, eines vergangenen Paris. Sie durchqueren den Flur, verfolgt vom Klang ihrer Schritte auf dem massiven dunklen Eichenparkett - womöglich ein raffinierter akustischer Trick, um die Besucher einzuschüchtern.
Sie werden von einem seltsamen Eindruck überrascht. Es gibt keinerlei persönliche Gegenstände oder andere Anzeichen von Bewohntheit, die Wohnung wirkt wie eine Theaterkulisse, als wäre der Bewohner nur ein Geist gewesen.
»Verdammt leer hier«, sagt Brabant erstaunt. »Als sollte sie gerade zur Miete angeboten werden.«
»Nach meinen Informationen hat der Mieter die Wohnung vor mehreren Monaten bezogen.« Castro liest etwas in ihrem Notizbuch nach. »Genauer gesagt, vor sieben Monaten. Ein Verlag hat den Mietvertrag unterzeichnet.«
Ein Stück weiter, im Wohnzimmer, stockt ihnen der Atem. Eine große Blutlache breitet sich rings um die weißen Linien aus, die die Kriminaltechniker gezogen haben, um die Position des Opfers festzuhalten, bevor es zur Autopsie ins gerichtsmedizinische Institut gebracht wurde. Diese einem riesigen Rorschach-Tintenklecks gleichende Lache erinnert wie ein Paukenschlag an die sehr reale Grausamkeit, die in diesem Schmuckstück haussmannscher Architektur gewütet hat. Etwa zehn Meter entfernt sieht Castro einen weiteren Blutfleck. Sie geht hin und kauert sich nieder, um ihn zu betrachten. Er ist viel kleiner, etwa zwölf Zentimeter im Durchmesser. Sie schreibt eine erste Frage in ihr Notizbuch: »Blut an zwei verschiedenen Stellen, warum?« Dann steht sie auf, um die Atmosphäre des Tatorts auf sich wirken zu lassen.
Die Luft ist stickig, erfüllt von einem metallischen Geruch. Sachverständige sichern peinlich genau die kleinsten Spuren und Indizien auf dem mit roten Mustern bespritzten Fußboden. So wie der Tatort aussieht, hat das Opfer einen extrem heftigen Schlag auf den Kopf bekommen. Brabant merkt an, dass anscheinend nichts gesäubert wurde, als hätte der Täter in keiner Weise versucht, seine barbarische Tat zu vertuschen.
In der Nähe eines riesigen Fensters steht ein Schreibtisch. Castro geht hin und betrachtet die seltsame Anordnung der Gegenstände darauf. Auf der linken Seite ungeordnete Stapel von Zeitschriften, Zeitungen und Post, während die rechte Seite perfekt aufgeräumt ist.
Mehrere Gegenstände sind von den Kriminaltechnikern eingepackt worden. Darunter eine alte Puppe, ein rostiges kleines Modellauto und das gerahmte altertümliche Schwarz-Weiß-Foto eines Paares. Sie listet sie in ihrem Büchlein auf, weist darauf hin, wie alt und abgenutzt sie aussehen, und ergänzt in Klammern: »Passt nicht zum Rest.« Danach konzentriert sie sich auf die mit weißem Klebeband umrissene Position des Opfers.
»Todesursache?«, fragt sie den Kriminaltechniker, der sich mit der riesigen Blutspur befasst, die das Opfer hinterlassen hat.
»Auf den ersten Blick ein mit...
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