Schweitzer Fachinformationen
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Das heute abgerissene Hotel Colonna in Rom befand sich damals in der Via Due Macelli. Es bot dem Gast einen recht düsteren Eingang, einen äußerst engen und bejahrten Fahrstuhl und einen dürftigen, langgestreckten Bau, bestehend aus bebenden Zimmerdecken und dünnen Wänden. Im obersten Stockwerk wellten sich wegen des eingesickerten Regenwassers die Kalkfarben oder die billigen Tapeten auf dem krisseligen, rauen Gipsverputz. Die Fenster waren so empfindlich wie die eines Bühnenbilds in einem Puppentheater, es fehlten Vorhänge und Fensterläden, und die lockeren Bodenfliesen ruckelten unter den Füßen.
Die Annehmlichkeiten da oben waren äußerst beschränkt, oft gab es kein Wasser, und Kälte und Hitze waren deutlich zu spüren. Doch nach Westen überblickte man einen unermesslich weiten luftigen Raum. Und im Licht der letzten Sonnenstrahlen füllte sich diese Leere am Abend mit dem unendlichen Flug der Schwalben, die im Vorbeischießen dicht vor dem Gesicht der Betrachter kreischten, bis nach drüben, weit drüben, eine Mischung aus flimmerndem Staub, aus Strahlen und Flügeln.
Das Licht dieser Sonnenuntergänge bestand aus einem reinen gleißenden Gelb. Davor zeichnete sich eine Unzahl von Dächern, Kuppeln und Türmen ab, deren Schärfe sich in Abstufungen vom hellstem Grau bis zum dunkelsten Violett verlor, nach und nach, wie der Abend in die Nacht überging. Dieses Dämmern besaß die Magie einer Verklärung. Und das Gekreisch der Schwalben, das sich schrill tönend entfernte und mit der Tagesneige sein Ende fand, als wäre es im Schoß der Dinge aufgegangen, war die einzigartige Schlussnote dieses sich täglich einstellenden Wunders. Mir, der ich die Abendstunden mit reglosem Zuschauen verbrachte, kam es damals vor, als würde ich in diesem Himmel den durchsonnten, ewigen Himmel von Rom erkennen, so wie ich als kleiner Junge von der Loggia der Wohnung meines Onkels Gedeone aus den von Neapel im luftigen, blassblauen Tal erkannt habe, durchsprenkelt mit Weiß und Grün.
Dort oben also kam mich der Onkel besuchen. Und weil er sich da oben möglicherweise wohlfühlte, verschwand aus seinem gutmütigen Gesicht der Ausdruck von Unbehagen, der ihn seit unserer ersten Umarmung im dunklen Vestibül des Hotels nicht verlassen hatte. Er blickte auf das schlichte Bett, auf die Risse im Verputz, auf das bescheidene Waschbecken und meinen einzigen Koffer und wandte dann seine liebevollen Augen mir zu und lächelte.
Unser Gespräch zog sich unendlich lange und langsam hin. Doch seltsam war, dass am Ende nicht ich ihm von meinen Geschichten und meinem Leid erzählte, sondern er mir von seinen, so als hätte er sich zum ersten Mal von aller Last zu befreien vermocht, die seit vielen Jahren auf ihm lag, und seine verkannte Güte und seine unausgesprochenen Opfer endlich einmal aussprechen und hörbar machen können.
Er schaute sich weiter um und wirkte hingerissen. Er sah in mir jemanden, der die Kraft hatte, das zu tun, was er selbst, von Bescheidenheit und Pflichtgefühl gehindert, nicht gewagt hatte. Mit forciertem Lächeln sagte er:
»Es macht nichts, wenn man bescheiden lebt. Aber! Zu enden, ohne gelebt zu haben .«
Ich umarmte ihn fest. Zu seiner Freude erinnerte ich ihn an die lustigen Kanzonetten, die er mir vorgetragen hatte, als ich ein kleiner Junge war. Er schien überrascht zu sein, dass sie mir im Gedächtnis geblieben waren. Gut gelaunt gingen wir zum Nachtessen und rezitierten um die Wette, mal er, mal ich und dann gemeinsam. In dieser Nacht schlief er aufgeheitert.
Tags darauf überlegten wir in Ruhe, was zu tun wäre. Onkel Gedeone erwähnte nie direkt Gian Luigi. Er wusste, dass der Bruch zwischen ihm und mir nicht zu heilen war, denn war erst einmal das Prinzip der Autorität nicht mehr anerkannt, war es unmöglich, es zu erneuern. So wie es in der Geschichte der Völker geschehen war, nachdem sie sich zum ersten Mal gegen den König erhoben hatten und damit das göttliche Recht nicht mehr anerkannten.
Er sagte mir, dass ich fast zwei Jahre Zeit gewinnen würde, wenn ich den Militärdienst ableistete, den ich bis dahin immer wieder aufgeschoben hatte, weil ich an der Universität eingeschrieben war. Ich hatte allerdings keinerlei Absicht, das Ingenieursstudium fortzusetzen, und dachte auch nicht an eine neue Fakultät. Daher war es nur richtig, dass ich dieser Verpflichtung nachkam und mir damit Zeit gab nachzudenken.
Auch wenn die Sanseveros von den modernen Zeiten gezähmt worden waren, so hatten sie doch den Glanz der Waffen nicht vergessen. Onkel Gedeone versuchte, meine Begeisterung für die Bersaglieri neu zu entfachen, indem er sie so ins Gedächtnis zurückrief, wie ich sie zur Zeit des Libyschen Kriegs im Jahr 1911 in den allerersten Kinos gesehen hatte, wo die gleichaltrigen Jungs in ihrer Raserei mit den Füßen auf den Sitzen stampften, wenn die Soldaten auf der Leinwand auftauchten. Jetzt aber würde ich die Pferde bevorzugen, obwohl es in dieser »noblen« Militäreinheit sicher wesentlich kostenaufwendiger war, für einen würdigen Unterhalt aufzukommen.
Onkel Gedeone blähte die Wangen auf, dachte nach, prustete, trommelte mit den Fingern einen Marsch auf dem Tisch und sagte schließlich, dass er sich darum kümmern werde, mich bei der Macao-Einheit zum Lehrgang für Offiziersschüler anzumelden, und dass er mir über den gesamten Zeitraum meines Dienstes monatlich einen Betrag zukommen lassen werde, zwar keinen großen, doch einen, der hinreichen würde. Einen weiteren Betrag wolle er mir sofort geben. Er war nach Rom gekommen, weil ich ihm eine lakonische Nachricht geschickt hatte. Er schob irgendeine Notwendigkeit in seinem Büro vor und hatte ganz sicher niemandem zu Hause etwas gesagt. Als er abreiste, nahm er meine Gedanken mit und ließ mir seine zurück.
Per Postanweisung zahlte ich dem Commendatore Venuti das mir in Mailand vorgestreckte Geld zurück, zerriss den Brief, den er mir für die hochgestellte Persönlichkeit mitgegeben hatte, sodass ich niemals erfuhr, wer diese war, und richtete mich darauf ein, über drei Monate zu warten und nachzudenken, während ich da oben den Schwalben von Rom bei ihrem Flug im gelben Sonnenuntergang zuschaute.
Das ungewöhnlichste Element im Hotel Colonna war eine alte Glyzinie, die sich durch das ganze Haus vom Erdgeschoss bis zum Dach hochwand. Das Gebäude musste über einem Garten errichtet und im Lauf der Jahre Etage um Etage aufgestockt worden sein. Und um diese ehrwürdige Glyzinie nicht zu opfern, wurde eine Öffnung in der Decke jeder Etage gelassen, was ihr ermöglichte, weiter hinaufzuwachsen und zu blühen, so dass sie sich jetzt, nachdem sie über vier Etagendecken hinausgewachsen war, auf dem obersten Stockwerk üppig ausbreitete und ihre Blütendolden und ihr Duft die Wände und die Fenster ausfüllten, von denen ich mich an einem erfreuen konnte, während ich auf den Sonnenuntergang wartete.
Die Betrachtung dieser Pflanze, die akribisch genaue Untersuchung ihrer nur dem Anschein nach launischen Verflechtung, die jedoch von einer strengen Regel diktiert wurde, die Zartheit ihrer geäderten, feingliedrigen Schönheit und des besonderen Schicksals, das sie niederdrückte, gleichzeitig aber am Leben hielt, und über das ich mir ständig wechselnde Allegorien ausdachte, fügten sich in dieser Zeit des Schwebezustands zu dem anderen, so intensiven Schauspiel der Schwalben und der Stadt Rom bei Neige des Tages.
Zum ersten Mal, seit ich mein Zimmer am schwebenden Korridor in Neapel verlassen hatte, versuchte ich erneut zu schreiben, wobei ich kurzen Stücken den Vorzug gab, die einen besonderen Augenblick des Denkens zum Abschluss brachten. Und so schrieb ich eines über den Gedanken, dass ich mir als letzten Himmel über dem letzten Tag meiner Existenz hier unten diesen wünschen würde, während er sich ins flammende Gelb des Sonnenuntergangs hinüberfärbte. Dort, in diesem Hotelzimmerchen, in dem Onkel Gedeone mir sein Leben anvertraut hatte, erkor ich mir meinen Tod. Und jetzt, da diese Zeit entschwunden ist, kommt es mir vor, als wäre er aufgehoben und hätte sich von mir entfernt, so, als würde er nicht mehr zurückkehren und mich ins Auge fassen, es sei denn, ich bestimme ihm einen anderen Ort, wo er mich treffen kann.
Für die übrige Zeit des Tages und für viele Stunden der Nacht war es, wie in Mailand, die Straße. Ich saß auf den Stufen der Kirchen, auf den Rändern der Brunnen, auf den Geländern der Brücken, ich bewunderte Rom, war begeistert von seiner Majestät und berauschte mich an Gedanken. Nicht, dass ich die Stadt mir nahe gefühlt hätte. Sie war so viel größer als ich und machte mich mitunter traurig. Die grenzenlosen Räume einiger ihrer Häuser- und Straßenfluchten zerrieben den Menschen zu Staub. Die unantastbare Feierlichkeit der riesenhaften Monumente verherrlichte nicht den Ruhm der Stadt, sondern entwürdigte ihn, der nur noch ein Schatten war. Der leichte Wind über den Halmen, die aus den Ruinen hervorschauten, trug den Todesgeruch des Nichts mit sich. Doch Rom war aus sich selbst heraus lebendig, in einer Ebene oberhalb und jenseits des Menschen. Ein auf den Kopf gestellter Himmel, in dem man sich verlieren konnte, wie in dem anderen.
Wie das antike Rom erstand auch das andere, das der Päpste, gleich einem verdickichten Wald aus Glauben und Werken. Seine Tempel verbargen einen so märchenhaften Schatz, dass jeder Reichtum seine Bedeutung verlor. Im Schoß der Basiliken schien die unendliche Ernte von Grandezza und Meisterwerken nichts und niemandem mehr gehören zu können. Sie war der Überrest einer ganzen, außergewöhnlichen Zivilisation, die auf dem Angesicht der Erde zurückgelassen worden war,...
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