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Das Schicksal und seine Reisegefährten, das Unglück und das Elend, klopften am kalten, dunstigen Morgen des Sankt-Wilhelms-Tages 1346 an Thomas Blackstones Tür.
Simon Chandler, Reeve von Lord Marldons Landsitz und selbsternannter Mittelsmann, wollte dem Freisassen seines Herrn nichts Böses. Indem er den jungen Steinmetzen warnte, dass gegen seinen Bruder ein Haftbefehl erlassen worden war, erwies Chandler Seiner Lordschaft einen Gefallen und erschien zugleich weniger raffgierig, als er war. So hatte der Junge noch eine Chance, zu fliehen, ehe man ihn hängte. Denn hängen würde man ihn zweifellos für die Schändung und Ermordung von Sarah, der Tochter von Malcolm Flaxley aus dem Nachbardorf.
«Thomas?», rief Chandler, während er sein Pferd anband. «Wo steckt dein Bruder, die Missgeburt? Thomas!»
Das Haus war aus Lehmweller gebaut, einem Gemisch aus Stroh, Lehm und Tiermist. Es war etwas mehr als zwanzig Fuß breit und bestand aus einem einzigen Raum. Durch eine Öffnung in dem steilen, von Moos überzogenen Rieddach stieg Rauch auf. Chandler hämmerte an die eisenbeschlagene Tür, als aus dem Dunst neben der Hütte eine Gestalt auftauchte.
«Ihr seid schon früh unterwegs, Master Chandler.» Der junge Mann, der einen Armvoll Holzscheite trug, blickte Lord Marldons Verwalter argwöhnisch an. Dass er zu dieser Stunde hier auftauchte, verhieß sicher nichts Gutes.
Thomas Blackstone war etwas über sechs Fuß groß, und da er schon mit sieben Jahren seine Lehre im Steinbruch begonnen hatte, besaß er die Statur eines Mannes, der an schwere Arbeit gewöhnt war. Das wettergegerbte, von dunklem Haar umrahmte Gesicht, das hager war wie sein Körper, hatte fast dieselbe Farbe wie sein ledernes Wams und ließ den Sechzehnjährigen älter erscheinen, als er war.
«Ich bin hier, um dich zu warnen. Gegen deinen Bruder wurde ein Haftbefehl erlassen. Die Männer des Sheriffs sind auf dem Weg hierher. Euch bleibt nicht viel Zeit.»
Blackstone spähte in den Dunst, lauschte auf das Geräusch von Hufeisen auf dem steinigen Weg, doch in der Stille krähte nur ein Hahn. Die Hütte stand außerhalb des Dorfes; wenn er flüchten wollte, konnte er mit seinem Bruder ungesehen in den Wald und über die Hügel entkommen.
«Was wird ihm vorgeworfen?»
«Die Schändung und Ermordung von Sarah Flaxley.»
Blackstones Magen krampfte sich zusammen, doch sein Gesicht verriet keine Regung.
«Er hat nichts Unrechtes getan. Wir haben keinen Grund, davonzulaufen. Danke für Eure Warnung», sagte Blackstone.
«Herrgott, Thomas, ich bin mir sicher, Seine Lordschaft würde nicht wollen, dass euch beiden etwas zustößt. Du bist der Vormund deines Bruders, auch du wirst zur Rechenschaft gezogen werden. Man wird euch beide hängen.»
«Hat Euer Cousin immer noch die Absicht, sich hier niederzulassen? Da käme es ihm wohl ganz gelegen, wenn Richard und ich in die Berge flüchteten und er unsere zehn Morgen Land übernehmen könnte.»
Blackstone hatte ins Schwarze getroffen, und Chandler brauste auf. «Du bist ein Narr! Diesmal kann Lord Marldon dich nicht beschützen.»
«Der Lord hat immer gesagt, wer unschuldig ist, hat nichts zu befürchten.»
Chandler band sein Pferd los und schwang sich in den Sattel. «Du kennst doch Henry Drayman?»
Der Mann hatte sich in einem halben Dutzend Dörfern überall in der Grafschaft unbeliebt gemacht. Ein brutaler Kerl in den Zwanzigern, der stets auf schnelles Geld aus war, sei es beim Hahnenkampf oder beim Würfelspiel. Blackstones Bruder hatte ihn mehrmals beim Bogenschießen besiegt und ihn vergangene Ostern sogar im Ringkampf geschlagen. Das war für den fast zehn Jahre älteren Drayman der Gipfel der Schande gewesen, und er hatte Rache geschworen. Jetzt schien der Zeitpunkt gekommen.
«Dein Bruder wird schon morgen am Strick baumeln. Er wird brüllen wie ein Stück Vieh, der tumbe Schwachkopf.»
Blackstone trat einen Schritt vor, packte die Zügel des Pferdes und verdrehte sie so, dass Chandlers Hände schmerzhaft eingequetscht wurden.
«Ich achte Euer Amt, Master Chandler. Ihr dient Seiner Lordschaft gewissenhaft, aber versichert ihm bitte, dass weder ich noch mein Bruder irgendwelche Schande über seinen edlen Namen gebracht haben.»
Er ließ die Zügel los. Chandler wendete sein Pferd.
«Bei Drayman wurden Bänder von ihrem Kleid gefunden. Ihre Leiche lag im Kornfeld ihres Vaters. Da hast du es doch immer mit ihr getrieben, oder nicht? Und dein Bruder? Herrgott, das halbe Dorf hat mit ihr gevögelt. Aber Drayman hat als Kronzeuge ausgesagt, bevor er gestern gehängt wurde.»
Blackstone wusste, dass es damit kein Entrinnen mehr vor der Gerichtsbarkeit gab. Ein zum Tode Verurteilter hatte die Möglichkeit, als Kronzeuge einen anderen der Mittäterschaft zu beschuldigen. Folter war unter König Edward III. rechtswidrig, aber die Gesetzeshüter vor Ort scheuten sich dennoch nicht, sie einzusetzen, um ein Geständnis zu erzwingen. Nachdem Drayman eine Woche lang nackt an einen Pfahl gebunden war, ohne Nahrung und Wasser, von seinem eigenen Unrat besudelt, hatten die Schläge schließlich seine Zunge gelöst. Sein eigenes Leben war verwirkt, aber in seiner Verschlagenheit wollte er noch seinen Widersacher, der ihn so beschämt hatte, mit in den Tod reißen.
Chandler lächelte. «Der Wollpreis steigt. In einer Woche werden die Schafe meines Cousins auf deinem Land weiden.»
Er trieb sein Pferd an.
Holzrauch kringelte sich durch den Dunst, als suchte er nach einem Ausweg. Es gab keinen. Blackstone wusste, dass der Tote seine Rache bekommen würde. Hufschläge näherten sich.
Es war zu spät, um zu fliehen.
Blackstone hatte noch Zeit, seinem Bruder einzuschärfen, er solle den bewaffneten Männern keinen Widerstand leisten. Der Junge gab einen kehligen Laut von sich zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Sein Bruder und Vormund war der einzige Halt im Leben des taubstummen Jungen. Für alle anderen war er kaum mehr als ein Tier, sie quälten ihn und trieben ihre Späße mit ihm. Wäre Thomas nicht gewesen, dann hätte der hünenhafte Richard Blackstone seine Peiniger womöglich umgebracht. Die Größe des Jungen und sein gewaltiger kantiger Schädel, der nur von leichtem Flaum bedeckt war, bestätigten alle in der Ansicht, dass er eine Missgeburt war. Sein verwachsener Kiefer verlieh seinem Gesicht ein unablässiges idiotisches Grinsen.
Man hatte seine Mutter aufgeschnitten, um ihn auf die Welt zu holen, und sie war an dem Blutverlust gestorben. Das Kind, schon bei der Geburt außergewöhnlich groß, hatte keinen Laut von sich gegeben und nicht auf das Licht der Fackel reagiert, die vor seinem Gesicht geschwenkt worden war. Die Hebamme riet, das stumme Neugeborene in der kalten Nacht sterben zu lassen, und Henry Blackstone, erschüttert durch den Verlust seiner Frau, stimmte zu. Er hatte bereits einen Zweijährigen zu versorgen. In jenem Herbst des Jahres 1332 wehte ein scharfer Ostwind. Die Gerste war wieder einmal auf den Feldern verdorrt, und der verfrühte Nachtfrost ließ die Glieder der hungernden Menschen erstarren. Doch als der Vater gegen Mitternacht im Mondschein auf das Stoppelfeld hinausging, fand er seinen Sohn lebend vor. Um den Mond schimmerte ein Kranz aus Licht, ein Zeichen der Vereinigung von Himmel und Erde. Henry Blackstone hob das Kind von der kalten Erde auf. Seine Frau hatte den Krieger mit ihrer Liebe von der Brutalität des Krieges entwöhnt und ihn gelehrt, dass Zärtlichkeit keine Schwäche war. Er drückte den kalten Kinderleib an seine nackte Brust, wickelte ihn in eine Decke und legte Holz im Feuer nach.
Es war sein Kind. Es hatte ein Recht, zu leben.
Die Männer des Sheriffs legten die Brüder in Fesseln und brachten sie auf einem Karren durch Weiler und Dörfer in die Marktstadt. Die eisenbeschlagenen Räder rumpelten über den unebenen Marktplatz hinweg zum Gefängnis, vorbei an dem Galgen, an dem noch Draymans Leichnam baumelte. Die Krähen hatten ihm die Augen ausgehackt und das Fleisch stellenweise bis zum Knochen abgefressen. Auch seine Zunge war gierigen Schnäbeln zum Opfer gefallen.
Die Soldaten stießen die Brüder in hölzerne Käfige im kältesten Winkel des Hofes, den die Sonne nie erreichte. Der Jüngere wimmerte leise, fast wie ein Tier, und sah seinen Bruder dabei fragend an.
Über die Jahre hatten Blackstone und sein Vater eine einfache Zeichensprache entwickelt, um den tauben Bruder zu beruhigen und ihm Dinge zu erklären. Wohin er gehen, was er tun sollte und warum Fremde ihn anstarrten und Kinder ihn am Hemd zupften. Die Dörfler hatten aufgehört, ihn zu quälen, nachdem der Reiz des Neuen verflogen war und der Junge auf den Jahrmärkten seine Kraft und Geschicklichkeit im Bogenschießen unter Beweis gestellt hatte. Zwar nannten sie ihn den Dorftrottel, aber er war ihr Dorftrottel, und er errang Siege für sie. Diese Menschen lebten in...
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