Schweitzer Fachinformationen
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Es war ein Sonntag im März. Nicht wichtig eigentlich, aber trotzdem im Nachhinein entscheidend. Meine Eltern standen vor mir und sagten: »Wi führt düssen Sommer noh Finnland.« Wir fahren diesen Sommer nach Finnland. Die beiden reden meistens plattdeutsch, »Platt«, wie wir in Ostwestfalen sagen. Nach Finnland also. »Wi wellt Axel beseuken.« Wir wollen Axel besuchen. Axel. Mein kleiner Bruder, aber längst erwachsen. Ausgewandert nach Finnland. Natürlich wegen einer Frau. Nun lebt er in Lahti. Mit ihr. Mit Viivi. Das kann man machen.
Ich sehe meine Eltern nicht oft. Sie leben in Minden, ich inzwischen in Dortmund. Näher dran als vorher, aber doch weit genug weg. Ich mag meine Eltern - solange die Distanz stimmt. Seit vielen Jahren besuche ich sie immer nur für ein paar Stunden, und diese Zeit schaffen wir in der Regel problemlos miteinander. Ich übernachte auch nicht mehr bei ihnen, sondern nehme mir lieber ein Hotelzimmer, damit die Distanz stimmt, um genügend, aber nicht zu viel Nähe haben zu können. Sonst erstreiten wir uns schnell den nötigen Abstand. Inzwischen haben wir viel Spaß miteinander, aber wir können uns ohne Probleme, von einer seit Kindheit und Pubertät antrainierten, spontanen Konfliktfähigkeit getragen, innerhalb von Sekunden »in die Wolle kriegen«. Nach den frühen »Kriegsjahren« bin ich heute mit beiden eng befreundet. Sie sind witzig-herzliche Ostwestfalen, die aus meinem Bruder und mir die Menschen machten, die wir heute sind. Alles ist gut. Es sei denn, wir treffen zu lang aufeinander, Eltern und Söhne, Mutter, Vater, Bruder und ich.
Jetzt wollten meine Eltern also nach Finnland fahren. Hermann und Ilse. Ich war überrascht von dieser Reise-Ankündigung. Wie wollten sie das denn bewerkstelligen? Meine Eltern sind körperlich durchaus gehandicapt. Hermann war dem Teufel, »dän Düvel«, wie man bei uns in Ostwestfalen sagt, in seinem Leben bereits mehrfach von der Schippe gesprungen, nun hatte man ihm geraten, nur noch im deutschsprachigen Ausland Urlaub zu machen. Mit »unser« Mutter, mit Ilse, ist es auch nicht viel besser. Regelmäßig unregelmäßig überkommen sie Schwindel, Übelkeiten und Hörstürze. Die führen zu Fahrradstürzen oder von Treppen herunter, aber all das hindert sie nicht, mit alter Heftigkeit, Hektik und Unnachgiebigkeit die Chefin der Kompanie zu geben. Meine Mutter erzieht gerne und bis heute. Ihr größter Fall ist übrigens mein Vater.
Meine Eltern standen also vor mir, im Garten in Minden-Kutenhausen, meinem Heimatdorf, vom kahlen Apfelbaum überschattet. Raureif lag auf dem Feld. Wir beobachteten ein Fasanenpaar, das sich über den Acker langsam zu uns herüber pickte.
Die Fasane pickten, meine Eltern stritten. Das waren sonst normale, schöne, gleichförmige Tage im Jahresrund. Aber nun diese Ankündigung: »Wir fahren diesen Sommer nach Finnland.«
Ich fragte: »Wie wollt ihr das denn machen? Ihr könnt doch nicht fliegen mit euren Malessen.«
Malessen sind Krankheiten, die von kleinen Blessuren bis hin zu schweren Infarkten reichen können. Der Ostwestfale erträgt das stoisch und redet nicht lang darüber. Er redet ohnehin nicht sehr viel.
Beide im Chor: »Wir fahren mit dem Auto.«
Ich starrte sie an. »Aber ihr könnt doch, so kaputt wie ihr seid, nicht mit dem Auto alleine bis nach Finnland fahren!«
Beide: »Worümme? Hier führ wi doch ok!« Wieso? Hier fahren wir doch auch!
Ich hatte einen Sommerurlaub geplant und mich noch nicht endgültig zwischen Bali und Neuseeland entschieden. Ich wollte in die Fremde. Am liebsten zu den exotischen Reisfeldern, den unerklärlichen, aber poetischen Opferritualen an die Götter, wenn wunderschön gekleidete Balinesinnen Reis, Blüten und Räucherstäbchen verteilen, mit Wasser besprenkeln und heilige Verse hauchen. Ich wollte in diese Fülle von Vegetation, wollte zu Palmen, die sich unter dem Gewicht der Kokosnüsse bogen, zu Kaffeepflanzen und Kakaobäumen.
Das letzte Mal mit meinen Eltern gemeinsam verreist war ich mit 15 Jahren. An die Nordsee. Neuharlingersiel. In meinem Kopf liefen seltsam zusammengestellte Diaprojektionen über- und ineinander. Windumtoste Nordseedeiche. Klack. Balinesischer Strand. Klack. Grüne Reisfelder. Klack. Die Nordsee bei Ebbe. Klack. Grauer Schlick. Klack. Finnland. Klack. Endlose Kiefernwälder. Klack. Farbenfrohe Hindu-Tempel. Klack. Ich sah von oben auf mich selber herab beim Schnorcheln. Klack. Finnland, grell überstrahlt von einer nicht untergehenden Sonne. Klack. Schemenhafte Waldstücke. Klack. Birken im Wind. Klack. Menschen in Sarongs. Klack. Ich meinte die Klänge eines Gamelanorchesters zu hören. Klack. Farbenprächtige Sonnenuntergänge am Strand von Kuta. Klack. Meeresrauschen. Klack. Ich, unter einem Schirm, fröstelnd, in Finnland an einem trüben Regentag. Klack. Klack. Klack. Ein leerer Diarahmen. Blendendes, gleißendes Licht.
Ich sah meine Eltern an, schaute zu den Fasanen, dann wieder zu meinen Eltern, und ohne dass ich während meiner inneren Diaschau einen oder mehrere Gedanken bewusst gedacht hätte (jedenfalls kann ich mich an keinen erinnern), sagte ich mit Blick über die Kutenhauser Felder: »Dann fahre ich euch eben.«
Moment. Was waren das für Worte? Hatte ich die gesprochen?
»So?«, stutzte Hermann, durchaus beeindruckt und letztlich genauso überrascht wie ich selber.
Die Fasane pickten und verschwanden. Stunden schienen zu vergehen. Dann sagte meine Mutter Ilse: »Das klappt doch nie. Du hast doch nie Zeit.«
Schweigen.
»Ich hab drei Wochen Zeit. Im Juli.«
»Wolltest du nicht nach Bali?«, fragte meine Mutter.
»Was ist Bali gegen Finnland?«, sagte ich.
»Im Leben klappt das nicht!«, murmelte mein Vater.
Ich bin Junggeselle, erfolgreich unverheiratet, nicht ohne Partnerschaften, aber auch nicht fest gebunden. In diesem Sommer war ich lose versprochen. Und lose mit ihr auf eine gemeinsame Reise verabredet. Mit Isabel. Vielleicht sogar nach Bali.
»Was? Mit deinen Eltern? Zu deinem Bruder?«, rief sie entzückt aus, als ich ihr von meiner neuen Urlaubsplanung erzählte. »Das ist doch supersüß, dass du mit deinen Eltern fährst.«
Ich bin zu alt, um »süß« zu sein. Niemand in unserer Familie ist süß.
»Mit meinen Eltern kann es auch ganz schön anstrengend sein. Auf einmal sehe ich die täglich. Tagelang.«
»Aber es sind doch deine Eltern.«
»Eben!«
»Also, meine Eltern und ich .«
»Ja, ihr! Aber wir sind nun mal Ostwestfalen! Da kann man sich nur nah kommen, wenn alles distanziert genug ist.«
»Ach, Quatsch! Ihr nehmt euch in die Arme und dann .«
»Was? Wir nehmen uns nicht in die Arme.«
»Wie begrüßt ihr euch denn?«
»Na, ordentlich, mit Handschlag.«
»Deine Eltern?«
»Gehört sich ja wohl so.«
»Bernd, wenn du und ich Kinder hätten, die würdest du mit Handschlag begrüßen?«
Wenn sie und ich Kinder hätten? Hatte ich was überhört? Ich kannte diese Frau doch kaum! Erst ganz kurz. Noch keine zwei Jahre.
»Weißt du was? Ich könnte doch mit euch .«
»Oh. Äh. Nein, das, also, tolle Idee. Natürlich. Aber, ich, äh, ich glaube, eher nicht. Meine Eltern, die würden das nicht .«
Ich würde nicht drei Wochen gemeinsam mit drei Fremden verbringen. Zwei Fremde reichten entschieden aus. Hoffentlich hörte sie nicht, was ich dachte.
»Schreibst du mir von unterwegs?«, fragte Isabel.
»'ne Karte? Na klar schreib ich dir 'ne Karte.«
»Nee, Bernd. Schon etwas ausführlicher. Mails. Eine Art Reisebericht. Ich hätte dann wenigstens das Gefühl, mit dir unterwegs zu sein.«
Ich starrte sie an. Ihre Augen schimmerten feucht.
»Ich soll nicht mit. Und du willst mir nicht einmal schreiben. Dein Bruder ist wegen dieser Frau sogar nach Finnland gezogen, und du schreibst nicht mal 'ne Mail. Du bist ja echt ein ganz toller Mann. Nicht mal eine SMS!«
»Ich bin doch überhaupt noch nicht weg.«
»Von mir aus bleib doch ganz in Finnland!«
»Isabel!«
Es ist an einem Samstag im Juli. Ich frühstücke im Hotel Holiday Inn in Minden. Last supper. Das letzte Abendmahl zum Frühstück. Drei Wochen mit meinen Eltern nach Finnland. Ich bin mehr als besorgt. Wie habe ich nur zusagen können? Mir geht das alles noch einmal durch den Kopf. Klar. Finnland. Ich freue mich auf Finnland. Auf das Land. Die Leute. Meinen Bruder. Viivi. Ihre Familie. Aber Urlaub mit meinen Eltern? Drei Reisetage im Auto liegen vor uns. Auf der Fähre Kopenhagen-Turku werden wir sogar die Kabine teilen. Ich rechne nach und komme auf über 30 Jahre, die ich quasi »elternfrei« verbracht habe, drei Jahrzehnte, in denen ich meine Eltern nicht länger als ein paar Stunden am Stück erlebt habe.
Ich frühstücke und blättere gedankenverloren im »Mindener Tageblatt«. Ich lese von Schützenvereinen und Sportergebnissen, vom Handballverein Grün-Weiß Dankersen/Minden, vom A-Jugend-Turnier des SVKT 07, ich lese von spektakulären Spielerwechseln in der Kreisliga A und den Erfolgen der Kleintierzuchtvereine. Ich bin ein ganzes Frühstück lang wieder zu Hause, ein Kind der Stadt und der Region. Minden. Kreis Minden-Lübbecke, wo die Melitta-Filtertüte der größte Exportschlager ist und Barre Bräu und Herforder Pils zu den kulturellen Säulen der Region gehören. Ich hänge an all dem, was der »Mühlenkreis« zu bieten hat: an Fachwerk und Feldhamster und früher noch der Feldschlösschenbrauerei, an Meyer-Korn und Stippgrütze,...
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