Schweitzer Fachinformationen
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Paula Steingäßer
Das Aufgeben ist minus 15 Grad kalt, knirscht unter meinen Schuhen und riecht nach Robbenfell.
Ich bin 13 Jahre alt, als ich mit meinen Eltern und drei kleinen Geschwistern nach Ostgrönland reise, Tasiilaq im Winter, 2000 Menschen in einer Wüste aus Eis. Meine Eltern sind Journalisten, eine Ethnologin und ein Fotograf, unsere Familie auf den Spuren des Klimawandels unterwegs und auf der Jagd nach Geschichten von Menschen, die dessen Auswirkungen bereits zu diesem Zeitpunkt tagtäglich spüren - lange suchen müssen wir nicht. Meine Geschwister und ich ziehen durch die Straßen von Tiniteqilaaq, ein Dorf mit hundert Einwohnern am Rand des grönländischen Eisschildes, während meine Eltern in einer kleinen Hütte am Fjord Interviews führen. Wir sind nicht lange allein, bald hängen zwei weitere kleine Mädchen an meinen Armen, reden lachend auf meine Geschwister ein, die selbstverständlich antworten, ohne ein Wort zu verstehen. Es ist eine besondere Freundschaft, die dort entsteht. Angiuq und ich streifen durch leere Häuser, in denen Geschirr auf dem Tisch und Spielzeug auf dem Boden liegt - verlassen, sagt mein Vater, die Familie musste in die Stadt ziehen, um überleben zu können. Im nächsten Haus ist die Wohnzimmerwand voller Blut, etwas höher als mein Kopf, und ich traue mich in kein weiteres mehr. Orpa und Oderika essen fast jeden Tag bei uns zu Mittag, zwei Portionen, aber ohne Gemüse, und abends fährt ein kleiner Bus durch den Ort und sammelt Kinder ein. »Alkoholismus und Missbrauch sind ein riesiges Problem hier«, höre ich die Lehrerin zu meinen Eltern sagen. »Die Jagd wird immer gefährlicher, die Wetterbedingungen immer unvorhersehbarer, und den Menschen fehlt die wirtschaftliche Grundlage ebenso sehr wie ihre kulturelle Identität.« Die Schlittenhunde verhungern an der Kette, und die Kinder spielen zwischen ihnen.
Grönland ist nur eines von vielen Ländern unserer Reise, und auch in Deutschland sammeln wir Geschichten. Ich werde immer stiller und verschlossener. Meine Eltern zeigen uns Kindern und der Welt Strategien für einen nachhaltigen Alltag, für einen Beitrag jedes Einzelnen, für Erfahrungen der Selbstwirksamkeit und des Weitermachens, und ich erzähle in Interviews von meiner veganen Ernährung, unseren Lastenrädern und Upcycling, während in meinem Inneren ein Kind in einer Wüste aus Eis sitzt und kein Mensch mehr sein möchte. »Hoffnung zu haben ist eine bewusste Entscheidung, und wir können es uns nicht leisten, pessimistisch zu sein«, sagt Jostein Gaarder, als ich ein schriftliches Interview für das Buch meiner Eltern mit ihm führen darf. Und dieser Satz lässt mich nicht mehr los.
Ich bin jung und kann nicht verstehen, so viel ich auch darüber nachdenke, in welchem für mich unaushaltbaren Widerspruch Erwachsene scheinbar ohne Anstrengungen leben können; wie man sehenden Auges, ob vor Ort oder durch die zahllosen medialen Nachrichten, diese Farce eines selbstbestimmten, alltäglichen Lebens führen kann; und woher Gaarder, zusammen mit unzähligen anderen Menschen, die Kraft für dieses Kunstwerk hernimmt, trotz allem, was ich gesehen und nicht gesehen habe, Hoffnung und Vertrauen zu empfinden.
Ich bin jung und noch nicht in der Lage, meiner eigenen Wahrnehmung mehr als der meines engeren und weiteren Umfeldes zu vertrauen. Statt Wut zu empfinden oder in die Konfrontation zu gehen, glaube ich den Fehler bei mir, schließe das Aufgeben in mir ein und versuche, nach dem Vorbild aller anderen ein sozial kompatibles Leben zu führen. Das Trotz-jedes-Hindernisses-Weitermachen ist in unserer Kultur weitaus angesehener als das Aufgeben.
Angepasst und immer noch verschlossen, besonders vor mir selbst, mache ich Abitur, glaube alles überwunden, jede Chance scheint mir offenzustehen in dieser unmöglichkeitslosen Welt. Aber das eisblaue Gefühl breitet sich immer mehr in mir aus, aufgespannt zwischen einer riesigen Verachtung meiner selbst und dem dazu paradoxen Anspruch, die Welt zu einem besseren Ort machen zu müssen; andere zum Weitermachen zu motivieren, während ich mein eigenes Aufgeben irgendwie unterdrücken muss. Meine Eltern lassen sich scheiden, und mit dem Auseinanderbrechen meiner Familie scheint sich für mich auch unsere gemeinsam vertretene Botschaft eines »Alles-ist-zu-retten-wenn-du-es-nur-willst« noch mehr in einen realitätsfernen Hohn zu verwandeln. Ich stehe weiter morgens auf, beginne ein Studium, suche insgeheim nach einem Rezept gegen das Aufgeben, funktioniere - bis irgendwann die Spannungen der Widersprüchlichkeit in mir zu groß werden.
Im März 2021 werde ich in eine Klinik eingewiesen, genau acht Jahre nach meiner Grönlandreise. Ich kann mich an die ersten Wochen kaum erinnern, aber es gibt einen Moment, den ich nie vergessen werde, in dem ich es zum ersten Mal schaffe, das auszusprechen, was ich mir jahrelang zu fühlen verboten hatte: Ich kann nicht mehr. Und ich will auch nicht mehr. Ich gebe auf. Es war der Moment, in dem die Arbeit anfangen konnte. In dem ich der bewussten Entscheidung, mein Leben leben zu wollen, einen realen Weg eröffnete. Es hatte nicht gereicht, dass ich meinen Körper auf so ein niedriges Gewicht gehungert hatte, dass ich keine Treppen mehr gehen konnte; dass ich physisch stumm in die Welt hinausschrie, dass ich raus bin aus der Sache, die man Leben nennt, dass ich mich auflösen werde und dass mich kein noch so edles Argument davon abhalten kann, aufzugeben. Es kam erst etwas in mir in Bewegung, als ich einem Menschen im Sessel gegenüber von mir in die Augen blickte und leise, fast verstohlen, als würde ich etwas Verbotenes tun, sagte, dass ich aufgebe, aufgegeben habe, aufgeben werde.
Aufgeben, annehmen, aufnehmen - und eine neue Richtung angeben.
Ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen, die unendlich große Angst vor dem Aufgeben hat. Individuelles Aufgeben verträgt sich nicht gut mit wirtschaftlichem Endlos-Wachstum oder mit gesellschaftlichem Optimierungsdruck; und es scheint sich auch nicht mit kollektiven globalen Krisen zu vertragen, von deren Abwenden unsere Lebensgrundlage abhängt. Wer aufgibt, ist schwach. Wer aufgibt, ist nicht willensstark genug. Wer aufgibt, ist egoistisch. Aufgeben wird als Verrat an gemeinschaftlichen Utopien, an das Gute im Menschen und an unseren privilegierten Lebensumständen angesehen und stigmatisiert, so kommt es mir vor; es wird zu einem individuellen Versagen, für das es keinen gemeinschaftlichen Umgang gibt. Wenn das öffentliche Miteinander jedoch von Nachrichten der bevorstehenden Krise gefüllt und die rettende Lösung nur gemeinschaftlich umgesetzt werden kann, das emotionale Verarbeiten dieser Lebensrealität aber nur individuell stattfinden darf, wird das immer mehr zu einer Spaltung zwischen der gemeinsamen und der individuellen Realität führen; mehr noch: Dadurch, dass man gesellschaftlich abgewertete und quasi verbotene Emotionen empfindet, wertet man sich immer mehr selbst ab, verliert das Vertrauen in sich und seine Fähigkeiten und zieht sich immer weiter in die eigene Welt zurück. Man findet in keine Haltung, in der man Protest oder Veränderung bewirken kann, denn in der eigenen Wahrnehmung widerfährt einem kein Unrecht, sondern man versagt selbst.
Wir müssen wieder lernen, aufzugeben.
Es liegt ein unglaublich wertvolles, öffnendes und zusammenführendes Moment in diesem Akt, vor dem wir jedoch, wie ich glaube, immer größere Angst bekommen, je mehr wir uns dagegen wehren. Das heißt nicht, dass ich dafür plädiere, kollektiv den Kopf in den Sand zu stecken, weil eine Aufgabe zu groß oder eine Krise zu unlösbar erscheint. Ich spreche von einer emotionalen Reaktion auf wirklich überfordernde und beängstigende Situationen - nicht mehr und nicht weniger. Darin liegen zwei große Vorteile: Erstens ist eine Emotion, zum Beispiel Angst oder Panik, auch nur eine Emotion, und ganz gleich wie heftig oder bodenlos sie sich anfühlt, sie geht immer vorbei. Und zweitens ist es sehr viel gefährlicher, auf Bedrohungen oder komplexe Krisen statt mit Angst und Überforderung mit Verdrängung oder Kleinrederei zu reagieren, denn auch dann kann man, genau wie bei zu großer Angst, nicht mehr adäquat reagieren. Die goldene Mitte zu finden, erfordert sehr viel Arbeit; denn Emotionen zu empfinden, zu benennen und anzunehmen, ihre Ursachen und Ziele zu analysieren und zu relativieren und sich, darauf basierend, für Handlungen zu entscheiden, die der gegenwärtigen Situation tatsächlich angemessen sind - also weder langfristig zu resignieren noch zu überreagieren -, ist, wie ich nach einem Jahr intensiver Therapie sagen kann, enorm anstrengend und zeitaufwendig. Es hilft, gut vorbereitet zu sein.
Das Gefühl zulassen - es ist wie eine Welle. Es hat viel Kraft, aber es beruhigt sich auch immer wieder.
Die richtigen Bedingungen zum Fühlen schaffen: Sei es ein Spaziergang allein im Wald, ein Tagebuch zum Frust-Rausschreiben oder ein verzweifelt-wildes Tanzen in der Küche - mir persönlich hilft »Harry Potter« lesen oder Rennrad fahren zu Rockmusik am meisten.
Sich selbst am besten kennen und dementsprechend Punkt 2 vorbereiten.
Das Gefühl analysieren - Was hat es ausgelöst? Welche Erinnerungen weckt es in mir? Ist die Stärke der Emotion dem Auslöser angemessen? Wovor will es mich warnen oder schützen?
Und, am wichtigsten:
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
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