ZWEI
Wiesengeflüster
Taissa suchte in den Taschen ihres Parkas nach dem passenden Hundespielzeug, während Lolli lächelnd hechelnd vor ihr saß. Endlich fand sie es. Lolli spitzte die Ohren, als es in ihrer Hand bimmelte. Dann warf sie den Ball mit der eingearbeiteten Glocke, und er tobte wie ein blondes Knäuel hinterher.
Herr Berger kam den Weg vom Buchenwald herabspaziert. Schon aus der Entfernung hob er grüßend die Hand. Taissa winkte zurück.
»Tag, Herr Berger«, sagte sie, als er auf der anderen Seite des Zauns stehen blieb. »Ein bisschen frische Luft schnappen?«
Er winkte ab. »Wollte ich eigentlich. Und jetzt bin ich auf der Flucht.«
»Auf der Flucht? Auf der Flucht wovor?«
Lolli rannte eine Runde an ihm vorbei und hechelte ihm eine fröhliche Begrüßung zu. Der Sabber lief an dem klingelnden Ball zwischen seinen Zähnen vorbei und troff auf die Wiese.
»Wohl eher, vor wem.« Ihr Nachbar lächelte und massierte sich die rechte Hand. Dann warf er einen Blick zurück.
Vor wem? Einer der nettesten Menschen in Bad Bekenborn hatte auch seine Widersacher? Sie sah ihn an und hob die Brauen, doch er zuckte nur die Achseln.
»Ich hab wohl so was wie eine .« Er zuckte wieder, und seine Wangen färbten sich rosa. »Eine Verehrerin. Nicht so wichtig.«
Taissas Mundwinkel zitterten sich nach oben. »Oh, wie spannend! Und die hat Ihnen im Wald aufgelauert?«, fragte sie und kam sich selbst zu neugierig vor.
Berger winkte lächelnd ab. »Na ja, ganz so war es auch nicht. Aber ich muss ihr wohl irgendwann sagen, dass sie sich vergeblich um mich bemüht.« Seine Augen blitzten.
Aha! Der Gentleman genießt und macht Andeutungen!
Doch er schien nicht bereit, mehr darüber preiszugeben. »Toll, wie gut Lolli sich inzwischen zurechtfindet«, sagte er nur und nickte noch einmal zum Abschied. Dann machte er sich auf den Weg runter zur Straße.
Da hatte er allerdings recht. Lolli kannte diese Wiese mittlerweile wie die Wirbel in seinem Fell. Hier konnte er sicher spielen, ohne Angst haben zu müssen, gegen einen Baum zu rennen oder sich an einem Findling die Pfote aufzureißen.
Taissa machte ein paar Schritte auf die Wiese und bückte sich nach einem Beißring, den er dort fallen gelassen hatte. So ein Glück, dass Tante Ellis Grundstück dermaßen groß war. Lollis eigene, komplett umzäunte Spielwiese: Schon allein dafür hatte es sich gelohnt, um die Tankstelle und das Haus zu kämpfen. Egal, ob die anderen sie schnitten.
Niemand schneidet dich, bloß weil Vinzent dich nicht in sein Geheimnis einweiht, Taissa. Du bist viel zu empfindlich!
Mit klingelnder Schnauze kam Lolli angerannt und ließ den roten Kunststoffball vor ihr fallen. Sie nahm ihn. Er war warm und glitschig, und Lolli legte den Kopf schräg, sobald das Glöckchen erklang. Sie holte aus und warf in die andere Richtung. Lolli zögerte eine Sekunde, bevor er lossprang.
In den Augenwinkeln nahm Taissa am Rand der Wiese erneut eine Bewegung wahr. Eine Gestalt näherte sich. Herr Berger? Hatte er vergessen, ihr etwas zu sagen? Dann durchzuckte sie ein anderer Gedanke: Magnus!
Doch nachdem sie sich umgedreht hatte, erkannte sie einen der Landwirte aus dem Dorf. Dirkschießer oder wie der hieß. Jedenfalls etwas mit Dirk, das konnte sie sich merken. Sie war mit einem Dirk zur Schule gegangen, der genauso rote Haare gehabt hatte. Er blieb am Zaun stehen, ungefähr dort, wo der Berger gestanden hatte, hob die Hand und winkte.
Lolli hielt mit rot gefüllter Schnauze inne und drehte hektisch den Kopf. Er wuffte mit vollem Mund, doch um nichts in der Welt hätte er seine Beute losgelassen. So gut kannte sie ihn.
»Schon gut, Lolli. Alles in Ordnung. Spiel einfach weiter.«
Gehorsam wackelte er wild mit dem Kopf und ließ die Glocke ausflippen. Offensichtlich kam er vorübergehend auch ohne sie zurecht.
Magnus! Du spinnst wohl, wenn du glaubst, dass er gleich als Erstes zu dir kommt. Irgendwann in den nächsten Tagen vielleicht.
Außerdem war er bestimmt noch gar nicht da. Der Tag war noch lang.
Langsam ging sie zu dem Mann hinüber. Sie kannte ihn aus der Tanke, aber oft kam er nicht. Höchstens mal, um nach Schniedertüns Ladenschluss ein paar Chips zu holen, oder Süßigkeiten. Einmal hatte er sogar deswegen sonntags die Glocke geläutet. Sicherlich besaß er einen eigenen Dieseltank und hatte es nicht nötig, seinen Sprit bei ihr zu kaufen.
Was stört es dich? An Chips verdienst du doch ohnehin viel mehr.
Kaum war sie nah genug herangekommen, hob auch sie die Hand. »Hallo. Kann ich was für Sie tun?« Sie deutete zum Shop hinüber, dessen Ecke an Tante Ellis Haus vorbei zu sehen war. »Brauchen Sie was? Ich könnte Ihnen gleich aufschließen, sobald ich Lolli davon überzeugt habe, dass er eine Spielpause braucht.«
Doch der Mann schüttelte den Kopf. »Danke, aber ich komme aus einem anderen Grund zu Ihnen, Frau Lausen.«
»Aha? Und aus welchem?« So fing niemals ein gutes Gespräch an.
»Mein Name ist Dirkschneider.« Er streckte ihr die Hand hin.
Taissa atmete scharf ein. Einen Moment lang hatte sie überlegt, ihn mit seinem Namen anzusprechen, um einen guten Eindruck zu machen. Man konnte ja nie wissen, wofür das gut war. Das wäre ordentlich in die Hose gegangen. Sie wollte die Hand gerade ergreifen, da fiel ihr der Ball wieder ein. Schnell zog sie ihre zurück und hielt sie entschuldigend in die Luft. »Hundesabber. Sorry.«
Er winkte ab. »Kein Problem, kenne ich. Ich hab ja einen kleinen Hof unten im Dorf, da hatte ich früher auch welche. Aber meine Frau mag sie nicht.«
»O nein, wie schade.« Kleiner Hof? Das kam ihr recht tiefgestapelt vor. Soweit sie wusste, gehörten zu dem riesigen Anwesen zahlreiche Felder. Viele von denen, an denen sie immer entlangspazierten, Lolli und sie.
Lolli kam angewieselt, legte den Ball zu ihren Füßen ab und machte sofort kehrt. Jetzt gab es offenbar wichtigere Aufgaben als Bälle zu suchen. Hoffentlich war nicht zu viel Dreck involviert, sie hatte ihn erst gestern gebadet.
Taissa zog ihren Parker enger um sich. Der Wind war heute noch empfindlich kalt, doch in den nächsten Tagen sollte es endlich wärmer werden. Da sie nicht wusste, was sonst, sagte sie: »Ich weiß, welchen Hof sie meinen. Den mit der alten Eiche, oder nicht?«
»Genau, der Eichenhof.«
Genialer Name. Wer darauf wohl gekommen war?
»Schönes Haus. Ich mag Fachwerk. Da, wo ich herkomme, gibt es so etwas gar nicht.«
»Jaja, danke.« Der Landwirt rieb sich den Nacken. »Also, weswegen ich auf sie zukomme .«
Jetzt kommt's. Wobei der Mann nicht so wirkte, als hätte sie irgendetwas verbockt. Eher so, als hätte er etwas verbockt und wollte beichten. »Ja?«
»Es geht um diese Wiese.« Er breitete die Arme aus und machte eine Geste, die Lollis gesamtes Spielparadies umfasste.
Taissa atmete tief ein. »Jaaaa?«, wiederholte sie gedehnt.
»Ich habe ja weiter hinten ein paar Felder, noch hinter dem Buchenwald. Von hier können Sie sie nicht sehen, aber sicher waren Sie schon mal da, mit dem Kleinen. Na ja, und neuerdings gibt es da ein paar Probleme mit dem Wegerecht.«
»Wegerecht?« Verwechselte er sie etwa mit Nora?
»Ja. Bisher durfte ich immer den Weg meines Nachbarn nutzen. Das ist aber nicht eingetragen. Und jetzt haben wir ein bisschen Ärger.«
»Ärger.« Na und? Selbst als juristische Laiin konnte sie sich vorstellen, dass er schon dadurch weiterhin ein Recht dazu hatte, weil sie es immer schon so gehandhabt hatten. So etwas wie »betriebliche Übung« oder wie auch immer das in diesem Fall hieß. Was sie sich überhaupt nicht vorstellen konnte, war, wie sie ins Spiel kam. »Vielleicht sollten Sie mit einer Anwältin sprechen. Ich kenne da eine.«
Nora steigt dir aufs Dach! Sie betont doch immer, dass sie niemals als Anwältin gearbeitet hat!
»Äh, darauf würde ich lieber verzichten. Das macht unser Verhältnis ja auch nicht besser. Schließlich waren unsere Familien jahrzehntelang befreundet, das will ich nicht völlig zerstören, indem ich rechtliche Schritte einleite.«
»Ja, verstehe.« Sie sah ihn voller Erwartung an. Er lächelte. Nett, aber so langsam wurde es zu kalt, um bewegungslos herumzustehen. »Und wie kann ich Ihnen dann helfen?«
»Ach so. Ja. Ich wollte Ihnen ein Angebot für diesen Teil Ihres Grundstücks machen.« Wieder deutete er auf das Areal, in dem Lolli gerade herumtobte.
»Angebot?«
»Ein Kaufangebot.«
Taissa drehte sich zu ihrem Hund um. Der hielt kurz inne, streckte die Schnauze in die Luft und jaulte.
Unmöglich. »Unmöglich«, sagte sie laut und schüttelte den Kopf. Dann sah sie wieder zu dem Landwirt. Der zog einen zusammengefalteten Zettel aus der Hemdtasche und entfaltete ihn. Dann hielt er ihn ihr unter die Nase. Die Zahl, die darauf stand, ließ Taissa die Luft anhalten.
Sie keuchte. Dann atmete sie tief ein. »In Euro?«, fragte sie, obwohl das runde E dahinterstand.
Nein, Taissa. In Froschhäuten! Hier bezahlt man Grundstücke traditionell in Froschhäuten!
Herr Dirkschneider nickte.
Die Summe würde alle ihre Probleme lösen. Die letzte Rate der Erbschaftsteuer. Ein ganzes Regal voller Kinderbücher für die armen Geschöpfe, deren Eltern ihnen keine kauften. Ein neues Schild an der Einfahrt zur Tankstelle. Eine kleine Renovierung von Tante Ellis Haus, damit es endlich ihr Haus würde.
Und ein Laufband für Lolli, damit er genug Bewegung bekam? Oder vielleicht ein gigantisches Hamsterrad?
Sie sah zu Lolli, der...