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Ich war seit einer Woche in Siena, als statt Mamma das Telegramm eintraf. Es war der 8. August 1942.
Ich hatte noch nie ein Telegramm bekommen, nicht einmal eins gesehen, aber ich wusste, um was es sich handelte. Ein Telegramm war schnell, knapp geschrieben und teuer, und es überbrachte wichtige Nachrichten. Meist schlechte.
Mir hätte von Anfang an klar sein müssen, dass etwas nicht stimmte. Zu Hause in Tripolis hatten wir den schönsten Strand der Welt vor der Haustür, wieso sollten wir in den Urlaub nach Siena fahren, wo es kein Meer gibt? Tatsächlich nagte tief in mir ein leiser Verdacht. Aber ich verdrängte alle Zweifel und fragte nicht weiter nach. Ich hatte Angst vor der Antwort.
Die Antwort steckte nun in dem kleinen, gelben Umschlag, den Zia Chiara vom Boten der Regie Poste Italiane in Empfang nahm.
»Ist es von Mamma?«, fragte ich.
Zia Chiara nickte, drehte sich wortlos um und eilte, ohne das Licht anzumachen, den Gang hinunter zum Wohnzimmer. Ich blieb dicht hinter ihr. Ich wollte nicht zurückgelassen werden, nicht in diesem dunklen Gang, der sich an mehreren Zimmern vorbeischlängelte. Die alte Wohnung war so verwinkelt und düster, dass ich mich immer noch darin verirrte.
Wir traten ins Wohnzimmer, gefolgt von Cesarina, die mit einem nassen Tuch in den Händen aus der Küche herauswatschelte. Das Wohnzimmer war der einzige Raum, der auf mich nicht wie ein Museumssaal oder ein Burgverlies wirkte. Es war auch der einzige Raum, in dem die Fensterläden den ganzen Tag geöffnet waren. In den anderen blieben sie geschlossen, um die antiken Möbel und die Wandfresken vor dem Licht zu schützen. Ein Esstisch für zwölf thronte in der Mitte. Zwei Geschirrkommoden standen an der rechten Wand, eine doppelte Fenstertür führte auf die Terrasse aus roten Ziegelsteinen. In der Ecke neben dem Fenster befand sich der Kamin. Und neben dem Kamin, in einem Sessel, der einmal gelb gewesen sein musste, döste Nonno. Als wir hereinkamen, öffnete er die Augen. Zia Chiara überreichte es ihm.
»Von Luisa«, antwortete sie auf seine stumme Frage.
Nonno öffnete den Umschlag mit dem Brieföffner, setzte die Brille auf die Nase und las. Meine Hände zuckten auf und ab. Wie lange brauchte man, um ein Telegramm zu lesen?
Als ich Nonno am Tag meiner Ankunft zum ersten Mal gesehen hatte, konnte ich nur auf seine knochigen Beine starren, die sich unter einer Wolldecke abzeichneten, auf seine schlaffen Wangen, auf das dünne weiße Haar und den Schnurrbart, der bis unter die Mundwinkel hing. Sah so ein Offizier des Großen Krieges aus?
Trotzdem wollte ich ihm zeigen, dass ich ein gut ausgebildeter und kampfbereiter Balilla war. Ich schlug die Hacken zusammen und salutierte. Leider konnte ich mich im letzten Augenblick nicht entscheiden, ob militärisch oder römisch. Meine rechte Hand bewegte sich zur Stirn, schoss nach vorne, schnellte wieder zurück zum Gesicht. Eine heiße Welle von Scham flutete mein Gesicht vom Hals bis zu den Ohren. Nonnos Schnurrbart zitterte, und seine grauen Augen glitzerten mild unter Augenbrauen wie Holzwolle. Er winkte mich zu sich, küsste mich auf beide Wangen und umarmte mich fester, als ich erwartet hatte. Er roch angenehm, nach Rasierwasser und Pfeifentabak.
Nonno legte das Telegramm auf den Schoß und sah uns über den Brillenrand hinweg ernst an.
»Umberto wurde an die Front geschickt.«
»O weh«, rief Cesarina aus und bekreuzigte sich.
Zia Chiara schnappte sich das Telegramm. Ihre Augen flogen über den Text.
»Also doch. Verdammt.«
Ich verstand die Aufregung nicht. Papà war Offizier, Major der Pioniere, natürlich musste er an die Front, es herrschte doch Krieg. Man konnte sich eher darüber wundern, dass es nicht schon früher geschehen war. Die wichtigere Frage war eine andere.
»Und Mamma?«, fragte ich. »Wann kommt sie?«
Zia Chiara gab mir das Telegramm. Der Text war kurz: »Umberto eingezogen. Ägyptische Front. Gespräche laufen. Brief folgt.«
An die ägyptische Front! Mein Herz schlug einen Purzelbaum. Papà würde mit Rommel kämpfen!
Rommel, der Wüstenfuchs! Er war der Befehlshaber der deutschen Truppen in Nordafrika. Einen derart wagemutigen General gab es in der ganzen italienischen Armee nicht. Fast hätten wir Libyen an die Engländer verloren. Dann, im März 41, kam Rommel mit dem Afrikakorps, wie der Gibli, der Wüstenwind, und fegte den Feind weg.
Cesarina rollte sich das Küchentuch um die Hände.
»Wie kann das sein? Er ist doch kriegsunfähig!«
»Kriegsuntauglich«, verbesserte Zia Chiara. Zia Chiara war Grundschullehrerin. Auch in den Sommerferien. »Tja, inzwischen nehmen sie wohl auch Lahme und Einäugige.«
»Papà ist nicht lahm«, schrie ich sie an. »Und schon gar nicht untauglich.«
Zia Chiara zuckte und zog die Augenbrauen zusammen.
»Das heißt nicht, dass er nichts taugt«, sagte sie, als würde sie etwas erklären, was jedes halbwegs begabte Kleinkind verstehen müsste. »Wir wissen alle, dass er ein hervorragender Ingenieur und ein mutiger Offizier ist. Aber für den Dienst an der Waffe müssen Soldaten gesund und körperlich unversehrt sein. Und das ist er nicht.«
»Doch! Man merkt fast nichts, er kann ganz normal arbeiten und dem Vaterland dienen.«
»Es gibt viele Arten, dem Vaterland zu dienen, Lorenzo«, sagte Nonno. »Nicht alle Soldaten und Offiziere kämpfen an der Front. Ein Krieg erfordert eine große Organisation, und die geschieht im Hintergrund, im Stab, im Kriegsministerium. Dafür braucht man besonders gute Männer, Männer, die die richtigen Entscheidungen treffen. Dort wäre Papà sinnvoller eingesetzt.«
Das konnte Papà ganz bestimmt nicht wollen. Es wäre kein richtiger Krieg!
»Warum wurde er dann eingezogen?«, fragte Cesarina, während sie das Küchentuch zu einer immer festeren Wurst wrang.
Nonnos warnender Blick an Zia Chiara war so kurz, dass ich nicht sicher war, ihn überhaupt gesehen zu haben.
»Unsere Truppen haben große Verluste erlitten«, sagte er. »Sie brauchen jetzt besonders gute Offiziere für die Operation in Nordafrika. Das wird der Grund sein.«
»Aber dieser Herr vom Ministerium hatte doch versprochen, sich darum zu kümmern«, sagte Cesarina.
Zia Chiara schnaubte.
»Meinst du Eugenio Bruni? Der will sich die Hände nicht schmutzig machen.«
Deshalb war Mamma also in Rom geblieben und hatte mich allein nach Siena weitergeschickt. Sie wollte mich nicht dabeihaben, wenn sie sich mit Onkel Eugenio verbündete, um Papà nach Italien zu holen! Onkel Eugenio war Mammas Großcousin und bezeichnete sich als Faschist der ersten Stunde, weil er schon vor der faschistischen Revolution Mitglied der Partei gewesen war. Inzwischen hatte er einen wichtigen Posten in der Regierung. Das behauptete er jedenfalls. Und gerade er sollte Mamma helfen, Papà von seiner patriotischen Pflicht fernzuhalten? So was konnten sich nur Weiber ausdenken.
Meine Gedanken überschlugen sich. Hätte Mammas Plan geklappt, wären wir nach Rom umgezogen. Wir hätten Tripolis verlassen. Unsere schöne, helle Wohnung mit den haushohen Palmen davor. Den schönsten Strand am Mittelmeer. Meine Schule, alle meine Freunde, die noch dort waren. Aber vor allem Hakim.
Alles war so schnell gegangen, dass ich gar keine Möglichkeit hatte, über die Ereignisse nachzudenken, geschweige denn, sie zu begreifen. Erst am Abend vor der Abreise hatte Mamma mir eröffnet, dass wir die Sommerferien bei Nonno und Zia Chiara verbringen würden. Ich hatte nicht einmal die Zeit gehabt, mich von Hakim zu verabschieden.
Zia Chiara ging auf und ab wie ein Tiger im Käfig.
»Dieser Krieg ist purer Wahnsinn! Wir hätten uns raushalten können, aber nein, Mussolini musste unbedingt mit Hitler Krieg spielen.«
»Chiara! Bitte«, zischte Nonno. Sein Blick schoss zwischen ihr und mir hin und her. Aber Zia Chiara war in Fahrt gekommen.
»Was denn bitte? Wir waren von Anfang an erbärmlich ausgerüstet und miserabel vorbereitet! Abessinien haben wir verloren. Wir verzetteln uns in Griechenland, in Albanien und jetzt auch noch in Russland, von unserem Abenteuer in Ägypten ganz zu schweigen. Ohne die Deutschen hätten uns die Engländer längst aus Libyen rausgeworfen. Sie haben zehn unserer Divisionen vernichtet, und wie viele italienische Soldaten dabei getötet wurden, weiß niemand genau, weil wir nicht einmal in der Lage sind, sie zu zählen!«
Es war verboten, so zu sprechen. Es war . Verrat!
Cesarina hielt sich mit aufgerissenen Augen an ihrem Küchentuch fest. Nonno schlug mit der flachen Hand auf die Armlehne.
»Schweig! In diesem Haus werden unsere Truppen respektiert.«
Zia Chiaras Wangen leuchteten rot, und ihre feinen Nasenflügel flatterten im hektischen Rhythmus ihrer Atmung. Plötzlich, und zu meiner großen Verwirrung, füllten sich ihre grünen Augen mit Tränen. Sie senkte den Kopf.
»Entschuldige, Babbo«, flüsterte sie. »Ich wollte nicht respektlos sein. Nicht dir gegenüber.«
Nonno seufzte, während der Zorn aus seinem Blick verflog.
»Lass uns Luisas Brief abwarten. Dann werden wir mehr wissen und alles besser verstehen«, sagte er müde.
»Wir können sie fragen, wenn sie mich abholt«, sagte ich.
»Dich abholt?«
»Ja. Wenn wir nach Hause fahren.«
Nonno und Zia Chiara sahen sich an.
»Lorenzo, was haben dir deine Eltern erzählt?«, fragte Zia Chiara.
Ich wollte forsch klingen, aber meine Stimme kiekste.
»Dass wir die Sommerferien bei euch verbringen.«
Zia Chiara schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
»Ich fasse es nicht.«
»Chiara .«, flüsterte Nonno.
»Was heißt hier >Chiara<? Sie...
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