Die Anatomie der Zeit - Selbstmanagement für Ärzte

|21|1  Der Teufel frisst Sekunden

Merke

Sie wünschen sich mehr Zeit? - Fokussieren Sie die signifikanten Aufgaben.

Niemand entscheidet sich für den Beruf des Mediziners aus Verlegenheit oder mangels Alternativen. Wer eine Karriere als Arzt wählt, der hat diese Wahl reflektiert. Er erkennt seine Talente an, die von einem analytischen Scharfsinn bis zur perfektionistischen Feinmotorik reichen können. Er will seine altruistische Charakterfacette polieren und vor allem will er eines: seine Karriere im Dienste der Gesundheit gestalten. Dazu ist er bereit, lange Ausbildungszeiten zu absolvieren, Disziplin zu trainieren und auch die privaten Ziele zurückzustellen.

Angehende Mediziner haben bereits vor dem Start eine Lebenskarriere vor Augen. Sie denken und planen über Jahre hinweg. Das mutet in der modernen projektbezogenen Zeit wie ein Relikt vergangener Tage an. Denn kaum jemand in anderen Branchen hat noch den weiten Weg zum Ziel vor Augen; zu schnell wechseln die Prozesse im Job und nicht selten finden Umschulungen, Berufswechsel statt. Schnelle Sprints statt langer Laufstrecken - das ist die Denkweise, die sich aktuell etabliert. Nicht so im Bereich der Medizin: Hier gilt der lange Atem mehr als das Hecheln nach kurzfristigem Erfolg. Und genau diese Unterscheidung kann Fluch und Segen sein: Fluch, weil langfristige und weit entfernte Ziele das Belohnungszentrum im Gehirn nicht triggern. Segen, weil eine Fokussierung auf ein entferntes Ziel einhergeht mit Fleiß und Reflexion und auch mit der wunderbaren Möglichkeit, sein Talent in Ruhe zu entfalten. Damit aber das Ego auf diesen langen Durststrecken nicht schlappmacht, benötigen Sie eine gehörige Portion Selbstmotivation. Sie brauchen ein Konzept, das Ihnen immer wieder, nahezu täglich, Ihr entferntes Ziel vor Augen führt und Ihrem Selbstmanagement einen Rahmen gibt.

Ich halte eine wirksame persönliche Arbeitsmethodik für Ärzte für die Basis jedweden Erfolgs im beruflichen und im privaten Bereich. Ich wünschte, es würde als Standardfach in die Studienordnung aufgenommen. Denn in den vielen Jahren, in denen ich als Ausbilder und Mentor junger Mediziner tätig gewesen bin, Mitarbeiter |22|angeleitet und Kollegen begleitet habe, habe ich eines festgestellt: Wenn in unserem komplexen und herausfordernden Beruf das Selbstmanagement fehlt, dann scheitern Karrieren und dann minimiert sich das persönliche Glück. So war es mir ein Anliegen, ein solches Selbstmanagement zu empfehlen, aber meine umfassende Recherche ergab: Es gibt eine Vielzahl von Methoden und Techniken, um die Zeit gemäß den Aufgaben einzuteilen, aber sie alle sind nicht passgenau für Mediziner. Sie berücksichtigen die fernen Erfolge nicht, sie gehen nicht auf die Komplexität der Aufgaben ein. Und sie stellen nicht die Persönlichkeit der Menschen in den Mittelpunkt, die aufbrechen, um ihr Talent zur Stärke zu machen und dadurch ein herausragender Arzt zu werden.

Als ich mein Jonglage-Modell entwickelte, um diesen Gap im Selbstmanagement zu füllen, da habe ich die Persönlichkeitsmerkmale betrachtet. Mir fiel auf, dass Mediziner in unterschiedlicher Ausprägung folgende Charaktermerkmale zeigen.

Sie sind:

• neugierig,

• pflichtbewusst,

• altruistisch,

• ehrgeizig,

• entscheidungsfreudig,

• resilient,

• perfektionistisch.

Ich vermute, Sie werden diese Eigenschaften bestätigen: Es gibt keinen Arzt, der diese Merkmale im Charakter vermissen lässt. Er würde sich zu den Aufgaben nicht berufen fühlen. Aber nach all der Betrachtung gibt es einen weiteren Marker im Charakter, über den Mediziner nicht gerne sprechen. Dabei halte ich es für sinnvoll, diesen Marker in die Reihe einzugliedern. Denn er unterstreicht die Freude am Leben und auch die Selbstliebe, die Sie bei allem Altruismus nicht verleugnen sollten. Ich meine den Hedonismus.

1.1  Her mit dem Glücksgefühl

Wenn ich behaupte, dass Ärzten die Ethik des Hedonismus nicht fremd ist, dann sehe ich zuweilen in zweifelnde Gesichter. Einige meiner Studenten wenden ein, dass Hedonisten gemein ist, an ihr eigenes Glück zu denken und mit einem außergewöhnlichen Starrsinn ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Genau, das ist korrekt. Hedonisten handeln nach dem Axiom, der Lebensfreude Vorrang zu geben, sich nicht als emotionsarme Pflichtakteure zu sehen. Diese Definition sollte das Grundrauschen für Ihr Handeln bieten, sollte Ihr Selbstmanagement überschreiben. |23|Bedenken Sie: Sie haben nur das eine Leben. Keine Sekunde können Sie zweimal genießen. Und trotz Ihrer Entscheidung, täglich nach Ihrem Wissen einen Beitrag für eine bessere Welt zu leisten, gibt es doch auch in Ihnen zuweilen gesunde egoistische Pläne für ein höchstpersönliches Glück. Diese Seite in Ihrem Charakter mahnt dazu, diese nicht zu vergessen. Sehen wir einmal genauer hin:

Ein Hedonist will

• seiner begrenzten Zeit auf dieser schönen Erde das Beste abtrotzen, was möglich ist;

• in einer intakten Welt seine Spuren hinterlassen;

• mit gesundem Körper und mit wachem Geist erhalten, was für seine Kinder eine Zukunft ist;

• seiner Zeit eine Bedeutung geben, indem er seine weit gesetzten und sinnvollen Ziele mit Freude erreicht.

Mit einem unerschütterlichen Bewusstsein für seine Selbstwirksamkeit verzettelt sich ein Hedonist nicht in den Aufgaben. Er setzt den Spot seiner Aufmerksamkeit dorthin, wo für ihn beruflich und privat der Vorteil winkt. Wo sein Glück verwässert, wo fremde Belange ihm lästig werden, da setzt er ein Stoppschild. Wer solch eine Haltung reflektiert, der sagt Nein zu Energie- und Zeitfressern. Er sieht seine Aufgabe nicht darin, anderen zu gefallen. Ein "Be-pleased-Verhalten" meidet er, denn für ein kleines Lob der anderen wird er seinen eigenen Plan vom Tag nicht zerstören. Diese Konsequenz mag den anderen - den Kollegen, dem Chef, den Patienten - zuweilen als Arroganz erscheinen. Mit dem Verständnis für die Vergänglichkeit der Zeit aber lässt sich ein solches Verhalten als zielführend interpretieren. Schütteln Sie sich, wenn andere Ihnen vorwerfen, Sie seien arrogant, würden kleine Gefallen zwischendurch verweigern, und bleiben Sie unbedingt bei Ihrem Plan für den Tag. Lassen Sie ein schlechtes Gewissen nicht zu. Machen Sie sich bewusst, dass jeder Gefallen, den Sie anderen entgegenbringen, Ihren zeitlichen Horizont für die eigenen Aufgaben reduziert. Sie werden später versuchen, diesen Zeitverlust durch Schnelligkeit und Kraft wieder auszugleichen, aber irgendwann werden Sie daran ermatten. Menschen verlieren ihren Halt, wenn sie mangels Zeit ins Straucheln geraten. Sie landen im Stress, verändern ihre Persönlichkeit, sie verlieren ihre Werte und Prinzipien und am Ende sehen sie keinen Sinn mehr im Leben. Das Drehen dieser unsäglichen Spirale beginnt leise, meist mit der Haltung, den anderen gefallen zu müssen.

Ich will Sie gar nicht dazu animieren, all die verschenkten, ungefüllten Sekunden zusammenzuzählen, die Sie durch eine zu ausgeprägte Hilfsbereitschaft verschleudert haben. Warum auch? Das Heraufbeschwören alter Fehler bringt Ihnen keinen Gewinn. Sie können vergangene Zeiten nicht verändern, Sie können sich nur im Hier und Jetzt entscheiden, klar und strukturiert voranzugehen. Deshalb will ich Sie zu einer Gedankenreise in die Zukunft einladen.

|24|Halten Sie kurz inne und schließen Sie die Augen. Stellen Sie sich vor, Sie erreichen auf Ihrem wunderbaren Lebensweg die letzten Meter, also den letzten Tag: Keine Strecke mehr vor Ihnen. Angekommen. Am Ende. Vor Ihnen der Abgrund, der Tod. Nehmen Sie diese Brutalität einige Sekunden an. Bleiben Sie im Bild! Ich weiß, das...