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2 Schmerzwahrnehmung und Schmerzarten - Möglichkeiten der medikamentösen Therapie und Nebenwirkungsmanagement
"The word pain is a purely psychological term"
(Wall/McMahon, 1986)
Wird der Umgang mit Schmerz in der westlichen Gesellschaft reflektiert, könnte der Eindruck entstehen, Schmerz wäre etwas Mechanisches, das repariert gehört. Zuerst werden Schmerzen geäußert, darauf folgt die Einnahme eines Schmerzmittels, und wenn das nicht ausreicht, folgen zahlreiche oft bildgebende Untersuchungen und weitere Schmerzmittel. Ergeben die Untersuchungen keinen Befund, hat der Mensch mit Schmerzen Pech gehabt, er wird vom Gesundheitssystem buchstäblich fallengelassen, denn ohne Befund kann nichts behandelt werden und ohne Befund kann auch kein Schmerz entstehen. Das Fachgebiet der Psychologie - so scheint es - ist dann die letzte Hoffnung, dem Phänomen Schmerz zu begegnen - vielleicht hilft es, über das Leiden zu sprechen, wenn schon die Schmerzmittel versagen. Aussagen von Pflegepersonen und Ärzt*innen wie "Das ist ja psychosomatisch" oder "Der Mensch will doch nur Aufmerksamkeit" werden häufig voreingenommen getätigt.
Dieses Kapitel zeigt die Unterschiede zwischen Nozizeption und Schmerz auf und soll dazu beitragen, Schmerz differenziert zu betrachten und zu therapieren. Das Nebenwirkungsmanagement wird von der DGKP von Beginn an mitgeplant und umgesetzt.
2.1 Unterscheidung Nozizeption und Schmerz
Schmerz wird als Nozizeption beschrieben. Dabei wird der Nozizeptor gereizt, und diese Reizung verursacht dann die Empfindung Schmerz. Bei genauerer Betrachtung heißt Nozizeption nur, dass ein Schaden entsteht oder eventuell entstehen kann; der Nozizeptor ist die Nervenendigung, die auf diesen Schaden oder diesen Reiz reagiert. Folgt man den Aussagen von Wall und McMahon, dass Schmerz ein rein psychologischer Begriff ist, wird schnell klar, dass die Beschreibung des nozizeptiven Zustandes eigentlich noch nicht die Schmerzwahrnehmung wiedergibt. Ob ein Reiz oder eine Schädigung tatsächlich einen Schmerz auslöst, hängt weder von der Schädigung noch vom Reiz ab, der erzeugt wird (Wall/ McMahon, 1986, S. 254).
Als Nozizeption wird - vereinfacht dargestellt - die Antwort bestimmter Sensoren, sogenannter Nozizeptoren, auf ein schädigendes Ereignis angesehen. Die Verarbeitung dieser Antwort erfolgt im nozizeptiven System.
Schmerz ist jedoch die individuelle Wahrnehmung des nozizeptiven Reizes; dabei spielen kognitive und emotionale Bewertungen eine große Rolle (Magerl/Treede, 2017, S. 33).
Der Mensch nimmt die Empfindungen wahr, die bei Gewebs- oder Nervenverletzungen entstehen, nicht das Vorliegen von Schmerzen (Frank, 2015, S. 126). Schmerz entsteht erst, wenn der Mensch der Empfindung eine Bedeutung gibt (Le Breton, 2003, S. 16). Nozizeptive Missempfindungen im Knie lösen bei einem/r Marathonläufer*in eine andere Schmerzwahrnehmung aus als bei unsportlichen Menschen, weil sie eine andere Bedeutung haben. Während ein unsportlicher Mensch einen Schaden im Knie als Ausrede verwenden kann, um keinen Sport machen zu müssen, ist es für eine/n Marathonläufer*in sehr belastend, eine Weile sportliche Betätigungen aussetzen zu müssen.
Deshalb können pathologische Veränderungen im Körper und Krankheitsbilder nicht miteinander verglichen werden. Was sich in der Theorie so leicht anhört, wird in der Praxis bei Vertreter*innen der Gesundheitsberufe jedoch ignoriert, wenn Aussagen wie "Herr M. hat aber viel weniger Schmerzen als Herr S., obwohl beide die gleiche Erkrankung haben" getätigt werden. Das passiert, wenn Nozizeption mit Schmerz gleichgesetzt wird.
Die Intensität einer Schmerzempfindung hängt oft nicht mit der Schwere oder Gefährlichkeit einer Erkrankung zusammen. Zahnschmerzen können als sehr heftig empfunden werden, ein bösartiger Tumor löst im Anfangsstadium oft keine pathologischen Empfindungen aus (Schug, 2012, S. 40).
2.2 Kognitive und emotionale Bewertung
Das, was meist als Schmerz definiert wird, sind die emotionale Reaktion und das erlernte Verhalten auf einen nozizeptiven oder neuropathischen Reiz. Dieses Verhalten wird schon in den ersten Lebensjahren erlernt.
Seit den frühen Kindheitstagen speichert der Mensch, wie auf den schädigenden Reiz reagiert wird: Stürzt ein Kind beim Spielen und verletzt sich, wird es sofort von den Eltern oder anderen Bezugspersonen in den Arm genommen und getröstet, und die schmerzende Stelle wird berührt. Dadurch wird schon eine erste Schmerzlinderung ganz ohne Medikamente erzielt und prägt die Reaktion auf Schmerz. Diese frühkindlichen Erfahrungen im Umgang mit Schmerz haben einen besonders hohen Stellenwert, wenn es darum geht, Menschen mit Demenz bei Schmerzzuständen zu begleiten und zu behandeln, denn Menschen mit Demenz erinnern sich an ihre frühkindlichen Schmerzerfahrungen (Kröner-Herwig, 2017, S. 4).
Schmerzen werden zunächst ohne Medikamente gelindert. Der Mensch lernt aber auch, dass er besser aufpassen soll, er merkt sich, dass eine heiße Herdplatte Verbrennungen auslösen, Eis und Schnee Erfrierungen hervorrufen und Unachtsamkeit beim Gehen Stürze nach sich ziehen können. Sowohl bei akutem als auch bei chronischem Schmerz werden die sogenannten Schutz- und Vermeidungsreflexe aktiviert. Der Mensch entflieht dem Schmerz, indem er sich zurückzieht, eine Schonhaltung einnimmt und sich dadurch vor weiteren Schäden schützt (Kröner-Herwig, 2017, S. 4).
Das menschliche Gehirn speichert diese Informationen in vielen verschiedenen Regionen und sorgt dafür, dass Menschen vor Feuer, Kälte und Hindernissen Angst haben und sie deshalb meiden. Es entwickelt sich dadurch das Schmerzgedächtnis - manche Schmerzerfahrungen werden gespeichert, um z. B. nicht mehr auf die heiße Herdplatte zu greifen. Andere Schmerzerfahrungen sollen vergessen werden, wie nach einem Bandscheibenvorfall oder nach einem Unfall. Diese Erfahrungen können nicht gelöscht, sondern durch das Erlernen neuer Verhaltensmuster "überschrieben" werden, indem z. B. nach einem Bandscheibenvorfall die Schonhaltung mit physikalischer Therapie wieder "vergessen" wird. Das Schmerzgedächtnis beeinflusst somit jede neue Schmerzerfahrung. Deshalb ist Schmerz nicht "vergleichbar" (Kröner-Herwig, 2017, S. 4).
Das Schmerzgedächtnis ist nicht eine einzige Stelle im Gehirn, viele Schaltstellen und Zentren sind für die Verarbeitung der Schmerzwahrnehmung zuständig. Diese Zentren können nicht gelöscht, jedoch kann das Verhalten bei Schmerzwahrnehmung verändert werden: Es werden andere Verhaltensmuster erlernt. Die Veränderung des Verhaltens ist ein aktives Geschehen, das von den Betroffenen ausgeht.
Abbildung 3 zeigt, dass Schmerz nicht auf körperliche Funktionen oder Erkrankungen reduziert werden kann. Die Nozizeption ist nur ein Teilbereich, der sich auf die Schmerzwahrnehmung auswirkt und medikamentös behandelt wird.
Abbildung 3: Schmerzwahrnehmung (nach Carr/Mann, 2014, S. 28)
Das Schmerzverhalten ist zum einen ein Reflex wie das Wegziehen der Hand beim Hingreifen auf die heiße Herdplatte, zum anderen ist es ein bewusstes Handeln wie die Anwendung von Kälte, das Aufsuchen von Physiotherapeut*innen, die Einnahme eines Medikamentes oder einer Schonhaltung. Diese Seite des Schmerzes wird auch als behaviorale Seite, also als erlerntes Verhalten auf einen Reiz, bezeichnet (Kröner-Herwig, 2017, S. 5).
Unter Schmerzschwelle versteht man die Reizstärke, die eine Reaktion - also ein Verhalten - hervorruft. Die Schmerztoleranz ist die Zeitdauer, die eine Person bereit ist, einen Reiz auszuhalten, bevor eine Reaktion, ein Verhalten ausgelöst wird.
Schmerz macht Angst, und Angst hat eine Komplikation: Das ist die Vermeidung. Das führt vor allem beim chronischen Schmerz zu dauerndem, anhaltendem Schonverhalten, wodurch sich physiologische Strukturen verändern, die letztlich wieder Schmerz auslösen. Es entsteht ein Dauerstress, der sowohl emotional als auch körperlich auf Dauer schädlich ist. Deshalb ist es wichtig, das Verhalten, aber auch die Gedanken und Gefühle gegenüber einer Schmerzerfahrung zu verändern (Kröner-Herwig, 2017, S. 7).
Die Untersuchungen vor allem beim chronischen Schmerz dienen in erster Linie der Ausschlussdiagnostik und nicht der Beweisdiagnostik. Die Wahrnehmung "Schmerz" kann nicht bewiesen werden, jedoch können gefährliche Erkrankungen wie Tumore oder Bandscheibenvorfälle, Entzündungen oder Blutungen ausgeschlossen werden. Nach Ausschluss von akuten und lebensbedrohlichen Erkrankungen muss entsprechend adäquat auf die Schmerzwahrnehmung sowohl auf der emotionalen als auch auf der körperlichen Ebene eingegangen werden. Nur Medikamente zu verordnen oder periphere Anwendungen wie Massagen durchzuführen, reicht nicht aus, um sowohl die akute als auch die chronische Schmerzwahrnehmung zu behandeln.
2.3 Schmerzarten
Akuter Schmerz dauert nur wenige Sekunden bis Tage oder einige Wochen an. Der Auslöser des Schmerzes ist meist bekannt und besteht in äußerlichen Einflüssen, etwa Schäden nach Sportverletzungen, Unfällen usw., oder in von innen ausgehenden - sogenannten endogenen - Prozessen wie Entzündungen oder Überdehnungen von Gelenken (Kröner-Herwig, 2017, S. 5). Die Tatsache, dass der Auslöser bekannt ist, beeinflusst auch die Angst. Wenn man sich sicher sein kann, dass der Schmerz wieder vergeht, minimiert das die Angst.
Dauert der Schmerz länger an als einige Wochen, spricht man vom chronischen...
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