Schweitzer Fachinformationen
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Das Spazierengehn, diese recht altertümliche Form der Fortbewegung auf zwei Beinen, sollte gerade in unserer Zeit, in der es soviel andre weit zweckmäßigere Transportmittel gibt, zu einem besonders reinen zweckentbundenen Genuß werden. Zu deinen Zielen bringen dich vielerlei Vehikel, Fahrräder, Trambahnen, private und öffentliche, winzige und mächtige Benzinvulkane. Um etwas für deine Gesundheit zu tun, pflegst du, moderner Mensch in der Stadt, wo du weder Skilaufen noch segeln und nur mit einem ziemlich komplizierten Apparate rudern kannst, das sogenannte Footing. Das hat beileibe nichts mit Spazierengehn zu tun, das ist eine Art beschwingten Exerzierens, bei dem man so beschäftigt ist, die Bewegungen richtig auszuführen und mit dem richtigen Atmen zu verbinden, daß man nicht dazu kommt, sich zu ergehen und dabei gemächlich nach rechts und links zu schauen. Das Spazierengehn aber ist weder nützlich noch hygienisch. Wenns richtig gemacht wird, wirds nur um seiner selbst willen gemacht, es ist ein Übermut wie - nach Goethe - das Dichten. Es ist mehr als jedes andre Gehen zugleich ein Sichgehenlassen. Man fällt dabei von einem Fuß auf den andern und balanciert diesen angenehmen Vorgang. Kindertaumel ist in unserm Gehen und das selige Schweben, das wir Gleichgewicht nennen.
Ich darf in diesen >ernsten Zeiten< das Spazierengehn jedermann, der einigermaßen gut auf den Beinen ist, getrost empfehlen. Es ist wohl das billigste Vergnügen, ist wirklich kein spezifisch bürgerlich-kapitalistischer Genuß. Es ist ein Schatz der Armen und heutzutage fast ihr Vorrecht. Gegen den zunächst berechtigt erscheinenden Einwand der Beschäftigten und Geschäftigen: >Wir haben einfach keine Zeit, spazieren zu gehn< mache ich dem, der diese Kunst erlernen oder, wenn er sie einmal besaß, nicht verlernen möchte, den Vorschlag: >Steige gelegentlich auf deinen Fahrten eine Station vor dem Ziel aus und lege eine Teilstrecke zu Fuß zurück. Wie oft bist du, gerade du Exakter, Zeitsparender, Abkürzungen berechnender und nutzender, zu früh am Ziel und mußt eine öde leere Wartezeit in Büros und Vorzimmern mit Ungeduld und verärgerter Zeitungslektüre verbringen. Mach Minutenferien des Alltags aus solcher Gelegenheit, flaniere ein Stück Wegs.< >Flanieren, das gibt es nicht mehr<, sagen die Leute. >Das widerspricht dem Rhythmus unserer Zeit.< Ich glaube das nicht. Gerade wer - fast möchte ich sagen: nur wer flanieren kann, wird danach, wenn ihn wieder dieser berühmte Rhythmus packt und eilig, konstant und zielstrebig fortbewegt, diese unsere Zeit umso mehr genießen und verstehn. Der andere aber, der nie aus dem großen Schwung heraus kommt, wird schließlich gar nicht mehr merken, daß es so etwas überhaupt gibt. In jedem von uns aber lebt ein heimlicher Müßiggänger, der seine leidigen Beweggründe bisweilen vergessen und sich grandios bewegen möchte. Und wenn ihm das glückt, dann wird die Straße, gerade weil er nichts von ihr will als sie anschauen, gerade weil sie ihm nicht dienen muß, besonders liebenswürdig zu ihm sein. Sie wird ihm ein Wachtraum. Die Schaufenster sind nicht mehr aufdringliche Angebote, sondern Landschaften; Firmennamen, besonders die Doppelnamen mit dem oft so Verschiedenes verbindenden &-Zeichen in der Mitte, werden mythologische Gestalten, Märchenpersonen. Keine Zeitung liest sich so spannend wie die leuchtende Wanderschrift, die Dachentlang über Reklameflächen gleitet. Und das Verschwinden dieser Schrift, die man nicht zurückblättern kann wie ein Buch, ist ein augenfälliges Symbol der Vergänglichkeit - einer Sache, die der echte Genießer immer wieder gern eingeprägt bekommt, um die Wichtigkeit und Einzigkeit seines Genusses und des zeitlosen Augenblicks im Bewußtsein zu behalten.
Ich schicke dich zeitgenössischen Spaziergangsaspiranten nicht in fremde Gegenden und zu Sehenswürdigkeiten. Besuche deine eigne Stadt, spaziere in deinem Stadtviertel, ergehe dich in dem steinernen Garten, durch den Beruf, Pflicht und Gewohnheit dich führen. Erlebe im Vorübergehn die merkwürdige Geschichte von ein paar Dutzend Straßen. Beobachte ganz nebenbei, wie sie einander das Leben zutragen und wegsaugen, wie sie abwechselnd stiller und lebhafter, vornehmer und ärmlicher, kompakter und bröckliger werden, wie und wo alte Gärten sich inselhaft erhalten mit seltenen Bäumen, Zypressen und Buchsbaum und regenverwaschenen Statuen, oder verkommen und von nachbarlichen Brandmauern bedrängt absterben. Erlebe, wie und wann die Straßen fieberhaft oder schläfrig werden, wo das Leben zum stoßweis drängenden Verkehr, wo es zum behaglich drängelnden Betrieb wird. Lern Schwellen kennen, die immer stiller werden, weil immer seltener fremde Füße sie beschreiten und sie die bekannten, die täglich kommen, im Halbschlaf einer alten Hausmeisterin wiedererkennen. Und neben all diesem Bleibenden oder langsam Vergehenden bietet sich deiner Wanderschau und ambulanten Nachdenklichkeit die Schar der vorläufigen Baulichkeiten, der Abbruchgerüste, Neubauzäune, Bretterverschläge, die zu leuchtenden Farbflecken werden im Dienst der Reklame, zu Stimmen der Stadt, zu Wesen, die rufend und winkend auf dich einstürmen mit Forderungen und Verlockungen, während die alten Häuser selbst langsam von dir wegrücken. Und hinter den Latten, durch Lücken sichtbar ist ein Schlachtfeld aus Steinen; manchmal, wenn die Arbeit stockt, ist es Walstatt und Verlassenheit, bis dann wieder die Steinsäge zischend die Luft zerschneidet und in die widerstandslose Masse eiserne Kräne und stählerne Hebel greifen.
Verfolge im Vorübergehn die Lebensgeschichte der Läden und der Gasthäuser. Lern das Gesetz, das einen abergläubisch machen kann, von den Stätten, die kein Glück haben, obwohl sie günstig gelegen scheinen, den Stätten, wo die Besitzer und die Art des Feilgebotenen immer wieder wechseln. Wie sie sich, wenn ihnen der Untergang droht, fieberhaft übertreiben, diese Läden mit Ausverkauf, aufdringlichem Angebot und großgeschriebenen niedrigen Preisen! Wieviel Schicksal, Gelingen und Versagen kannst du aus Warenauslagen und ausgehängten Speisekarten ablesen, ohne daß du durch Türen trittst und Besitzer und Angestellte siehst. Da ist wieder das große Vorrecht des Spaziergängers. Er braucht nicht einzutreten, er braucht sich nicht einzulassen. Er liest die Straße wie ein Buch, er blättert in Schicksalen, wenn er an Hauswänden entlang schaut. Und wenn er wieder wegblickt von den Gegenständen, den Dingen, sagen ihm auch die Gesichter der fremden vorübergehenden Menschen mit einmal mehr. Nicht nur der Fremden, an denen er täglich vorüberkommt, die den gleichen Alltagsweg haben wie er und zu heimlichen Mitspielern seines Lebens geworden sind; nein, auch und besonders Gesichter der ganz Unbekannten.
Es ist das unvergleichlich Reizvolle am Spazierengehn, daß es uns ablöst von unserm mehr oder weniger leidigen Privatleben. Wir verkehren, kommunizieren mit lauter fremden Zuständen und Schicksalen. Das merkt der echte Spaziergänger an dem seltsamen Erschrecken, das er verspürt, wenn in der Traumstadt seines Flanierens ihm plötzlich ein Bekannter begegnet und er dann mit jähem Ruck wieder identisch und nur Herr Soundso auf dem Heimweg vom Büro ist.
Spazierengehn ist nur selten eine gesellige Angelegenheit wie etwa das Promenieren, das wohl früher einmal (jetzt nur noch in Städten, wo es eine Art Korso gibt) ein hübsches Gesellschaftsspiel, eine reizvolle theatralische oder novellistische Situation gewesen sein mag. Es ist gar nicht leicht, mit einem Begleiter spazieren zu gehn. Es verstehn sich nur wenig Leute auf diese Kunst. Kinder, diese sonst in so Vielem vorbildlichen Geschöpfe, machen aus ihrem Weg ein Unternehmen mit heimlichen Spielregeln, sie sind so beschäftigt, beim Beschreiten der Pflastersteine das Berühren der Randflächen und sandigen Ritzen zu vermeiden, daß sie kaum aufschauen können; oder sie benutzen die Reihenfolge der Dinge, an denen sie vorbeikommen, zu abergläubischen Berechnungen; auch bewegen sie sich zu ungleichmäßig, sie trödeln oder eilen, sie gehn nicht spazieren. Leute, die berufsmäßig beobachten, Maler und Schriftsteller, sind oft sehr störende Begleiter, weil sie ausschneiden und umrahmen, was sie sehn, oder es ausdeuten und umdeuten, auch oft plötzlich stehn bleiben, statt das Wanderbild wunschlos in sich aufzunehmen. Mit Musikern geht es schon besser, auch mit manchen Frauen, die einen auf Besorgungen mitnehmen, ganz beschäftigt sind mit dem Ernst ihrer Einkäufe und dem Begleiter, der davon nichts versteht, das Glück des rein zuschauenden Daseins erhalten.
Aber meistens ist der echte Spaziergänger allein und da muß er sich etwas davor hüten, zu der düstern Romanfigur zu werden, die ihr eignes Leben von den Häuserkulissen abliest, wenn sie mit melancholisch hallenden Schritten die Straßen durchmißt, um dem Autor des Buches Gelegenheit zur Exposition seiner Geschichte zu geben. Man muß sich selbst vergessen, um glücklich...
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