Schweitzer Fachinformationen
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1. Kapitel
»Ich hab eine Hand gesehen! Da ist eine Hand!«, rief Ferdinand Mohr, während er in den Hausflur gerannt kam.
Seine Frau Hedwig, die in der Küche gerade den Kaffee aufgoss und ihn schon durch den Garten hatte sprinten sehen, dachte wieder einmal, dass an ihrem Mann tatsächlich ein Schauspieler verloren gegangen sei.
Bedauerlicherweise hatte Ferdinand sich auf düstere Dramen und Katastrophenszenarien spezialisiert. Sie hätte es lieber gehabt, wenn Musicals oder Lustspiele zu seinem Genre gehört hätten, aber man konnte es sich ja nicht aussuchen. Nicht das Schicksal als solches und den Ehemann wohl auch nur in begrenztem Maße.
Sie setzte den Wasserkessel ab, hob beide Hände und sagte: »Eine Hand? Schau, ich hab sogar zwei davon. Das ist völlig normal.« Dabei versuchte sie ein Lächeln, um Ferdinand wieder in die Realität zurückzuholen. Ohne Brille sah er immer häufiger die Auswüchse seiner überbordenden Fantasie. Vor einer Woche waren sie beim Spaziergang am Stausee Oberilzmühle auf eine einsame dunkelrote Socke gestoßen. Ohne genau hinzuschauen, hatte ihr Mann sofort einen abgehackten und blutbesudelten Fuß darin vermutet und mit einem Schrei nach ihrem Arm gegriffen.
»Mit Brille wär das nicht passiert«, murmelte sie in seine Richtung. Dabei fiel ihr auf, dass Ferdinand ungewöhnlich blass um die Nase war. Auf seiner Stirn standen Schweißtropfen.
»Setz dich erst mal hin, und beruhige dich.« Sie schob ihn zur Eckbank und ahnte schon, dass heute aus dem gemütlichen Frühstück nichts werden würde. Ferdinand war viel zu aufgewühlt für ein normales Gespräch. Sie hatte wirklich kein Glück mit ihrem Ehemann.
Eigentlich hatte sie fest eingeplant, heute Zwetschgen einzukochen, die ihr Mann pflücken sollte. Das konnte sie nun wohl vergessen.
»Du musst den Hundinger anrufen, den Ewald«, sagte er aufgewühlt.
»So ein Schmarrn, der arbeitet doch gar nicht mehr. Der ist Rentner, genau wie du. Ihr seid doch beide gleich alt.« Hedwig schüttelte den Kopf über die Gedächtnisschwäche ihres Mannes, oder war es eher Verdrängung?
»Der ist nicht Rentner, der ist Pensionär, weil er nämlich vorher ein Beamter war. Und ich als ehemaliger Geschäftsmann bin nun Ruheständler. Da gibt's Unterschiede. Wann merkst du dir das endlich mal!«
Wenn er ihr so widersprach, dachte Hedwig Mohr, ging es ihm offensichtlich schon wieder besser.
»Also, was genau ist passiert?« Sie stellte die Kaffeekanne auf den Tisch. »Und jetzt iss erst mal was.«
Aber ihm war offensichtlich der Appetit vergangen.
»Aus meinem Teich schaut eine Hand raus.« Er starrte auf den Tisch, schwieg und faltete seine Hände, als müssten sie sich aneinander festhalten. Sie bemerkte zum ersten Mal die Altersflecken auf seiner Haut.
»Also, du setzt jetzt deine Brille auf und schaust noch mal nach. Gewiss hast du dich geirrt. Das kennen wir ja. Allerweil dieses Theater mit unserem See. Du siehst ihn, und gleich hast du ein schlechtes Gewissen. Du hättest dir doch die Genehmigung holen sollen. Jetzt haben wir den Salat.«
Dass er ihr an dieser Stelle nicht widersprach oder sie belehrte, zeigte das Ausmaß seines Entsetzens. Er hatte einfach zu viel Fantasie. Hilfesuchend sah er sie an: »Magst du es dir anschaun? Mich gruselt's.« Krächzend fügte er ein kleinlautes »Bittschön!« hinzu.
Hedwig Mohr nickte. »Wenn's sein muss.« Da führte ja nun eh kein Weg mehr dran vorbei.
Sie folgte ihrem Mann durch den großen Garten. Trotz der seit Monaten herrschenden Trockenheit blühte und gedieh hier alles so prächtig, dass Spaziergänger, vor allem Hundebesitzer, staunend stehen blieben und sich fragten, wie die Mohrs das zustande brachten. Leider nutzten die Hunde derartige Wanderpausen, um ihre Häuflein am Zaun der Mohrs zu setzen. Hedwig zweifelte an der Düngekraft von Hundekot, hatte sich aber bisher zurückgehalten. »Das ist wahrscheinlich die Feuchtigkeit vom Scharbach, die bis in unsern Garten dringt«, pflegte sie stattdessen gegen besseres Wissen zu behaupten. »Oder es liegt an meinen Heilkräutern, die sind für alles gut.« Hedwig Mohr war nämlich davon überzeugt, dass alles und jedes mithilfe von Kräutern, wenn schon nicht zu heilen, so doch wenigstens zu lindern war.
Doch gegen das, was sich ihr nun inmitten ihres seerosenbewachsenen Teiches offenbarte, war kein Kraut gewachsen. Das begriff selbst sie sofort und tastete nach dem Arm ihres Mannes. »Was ist denn das?«
»Eine Hand - hab ich doch gesagt. Schaut aus, als hing da auch noch ein Mensch dran, oder?«
Sie nickte und suchte nach Beschwichtigungen, wie absurd die auch klingen mochten.
»Vielleicht ist es ja eine Schaufensterpuppe«, gab sie zu bedenken und biss sich so fest auf die Lippe, dass diese zu bluten begann. »Wer weiß denn eigentlich von unserem Teich?«, fragte sie dann.
Ferdinand sah sie lange an. »Die von der Freiwilligen Feuerwehr. Die mussten mir ja helfen, als wir den See angelegt haben.« Hedwig dachte mal wieder, wie rührend es doch war, dass er diesen kleinen Wassertümpel »See« getauft hatte.
»Aber du hast ihnen doch extra fünf Kästen Bier spendiert, damit sie den Mund halten.«
»Hab eh nicht dran geglaubt.« Er klang resigniert.
Der illegale Weiher in einer Senke am nordwestlichsten Eck ihres Gartens lag so versteckt, dass Spaziergänger ihn nicht sehen konnten. Zur Tarnung - falls jemand mal eine Drohne über den Ort fliegen lassen sollte - war er mit Seerosen bedeckt, und zur weiteren Absicherung hatte Hedwig ihn mit einem breiten Band von Stockrosen umgeben. Mehr als ein halbes Jahr hatte Ferdinand gebraucht, um von der tiefsten Stelle des Mohr'schen Gartens mithilfe von Abwasserrohren eine Verbindung zum Scharbach zu legen. Wie ein Bankräuber war er sich dabei vorgekommen, hatte er ihr einmal gestanden. Allerdings wollte er ja kein Geld, sondern nur Wasser - und eventuell auch den einen oder anderen kleinen Fisch. Und gerade weil dieses an seiner tiefsten Stelle gerade mal einen Meter achtzig tiefe Wasserloch ohne Genehmigung angelegt worden war, hatten sie ihre besondere Freude daran. Auch benutzten sie die Pumpe zum Füllen ihres kleinen Sees nur dann, wenn der Nachbar seinen Rasentraktor in Gang setzte, verreist war oder das Volksfest besuchte. So blieb alles unauffällig.
Bis heute.
»Du hättest ihn nie ausheben lassen sollen«, klagte Hedwig. »Ein Leben lang haben wir das Wasser aus dem Fluss geholt, wozu brauchen wir dann einen eigenen Teich im Garten?«
»Hätte, hätte, Fahrradkette!«, fauchte er sie an. »Wenn nicht in der Zeitung gestanden wär, dass es demnächst verboten sein wird, Wasser aus dem Scharbach und überhaupt aus allen Flüssen zu holen, wäre das alles ja gar nicht nötig gewesen. Aber ich sehe nicht ein, dass nur der Biobauer für sein junges Gemüse Wasser holen darf. Deine Kräuter wollen auch leben. Und meine Rosen sowieso. Wasser ist für alle da!«
Sie nickte. Wo er recht hatte, da hatte er recht.
Der versteckt liegende Teich war während der Fußballeuropameisterschaft angelegt worden. Fast die ganze Gemeinde hatte auf einem bettlakengroßen Bildschirm im Garten des Landgasthofes Spetzinger mitverfolgt, wie Deutschland im Halbfinale gegen die französischen Gastgeber verlor. Das war so bitter gewesen, dass der Kummer darüber in Bier ertränkt werden musste - und zwar bis weit nach Mitternacht.
Währenddessen hatten Ferdinands Freunde von der Freiwilligen Feuerwehr von neun Uhr abends bis Mitternacht zunächst mithilfe eines Baggers den Teich ausgehoben, ihn mit Vlies ausgelegt und anschließend mit ihrer Pumpe, die viel leistungsstärker war als Ferdinands Hauswasserwerk, die Erstbefüllung mit dem Wasser des Scharbachs vorgenommen. Für den Fall, dass der Tümpel nachgefüllt werden musste, hatte Ferdinand knapp unter dem Erdboden ein Rohr verlegt, das vom Scharbach zum »See« führte und das er mithilfe seines Hauswasserwerks füllte. Die Terrassentür stand während der Aktion offen, und wer wollte, konnte nebenbei auf dem Flachbildfernseher das Spiel verfolgen. Hedwig hatte die Lautsprecher so weit aufgedreht, dass die aufgeregte Stimme des Sportreporters fast das Brummen des Schaufelladers und später das Motorengeräusch der Pumpe übertönte. Aber es war eh kein Nachbar da. Die hockten alle beim Public Viewing im Gasthausgarten und feuerten Jogi Löws Mannschaft an.
Als der Tümpel bis zu einem Meter und achtzig mit klarem Flusswasser gefüllt war, hatten Ferdinand und seine Helfer mit frisch gezapftem Bier auf das neue Wasserbecken angestoßen, und alle hatten sich zu diesem Schritt beglückwünscht. Die Feuerwehrfreunde hatten seine Weitsicht gelobt. »Wirklich vernünftig, so ein eigener Löschteich im Garten.«
Von all dem schien Hedwig in diesem Augenblick nichts mehr wissen zu wollen. »Wir hätten doch einen eigenen Brunnen bohren sollen«, jammerte sie nun und starrte auf die weiße Hand, die inmitten des Wassers nach den ebenso weißen Seerosen zu greifen schien. »Ein eigener Teich, richtig angemeldet und eingetragen, und nicht so ein Teich, von dem keiner was wissen darf. Ich ruf dann mal den Hundinger an. Der hat hoffentlich eine Idee. Auch wenn er schon Rentner ist.«
»Mach das.« Ferdinand Mohr war zu erschöpft, um seiner Frau zu widersprechen. Er fragte sich, wie die Hand in seinen Gartenteich gelangt war und ob sie nach ihm griff. Wollte sie ihn ins Reich der Toten holen? Jetzt schon? Er war ja nicht mal ein Jahr im Ruhestand, und sein Sohn Norbert war noch viel zu jung, um den Fahrradladen alleine führen zu können.
Ewald...
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