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1. Kapitel
Mit einem eigenartigen Gefühl öffnete Franziska Hausmann den großformatigen Briefumschlag und setzte sich erst einmal hin. Jetzt war es also passiert. Ihre beste Freundin Marie und einer ihrer ältesten Freunde, der Oberstaatsanwalt Dr. Benno Holdenrieder, waren zusammengezogen und luden nun, da sie nicht geheiratet hatten, zu einer Beziehungsfeier ein, die zugleich eine Einweihungsparty ihres neuen Anwesens war.
Ausgerechnet Lieblmühle hieß der Hof, und ganz kurz überlegte Franziska, ob Benno und Marie bewusst nach einem solchen Ortsnamen gesucht hatten oder ob es doch nur Zufall war. Ersteres hätte sie ihnen durchaus zugetraut. Lieblmühle, das klang doch ein bisschen wie Liebesmüh, ein Begriff, der irgendwie an das Wort »vergeblich« gekoppelt schien. Vergebliche Liebesmüh hatten Benno und Marie reichlich geleistet - bis zu dem Zeitpunkt, als sie sich bei einem Silvesterfest im Hause der Hausmanns kennenlernten und die beiderseitige Mühe endlich belohnt wurde.
Franziska legte das Blatt Papier vor sich auf den Küchentisch, strich es sorgfältig glatt und schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein. Das alles musste sich erst mal setzen. Erstaunt nahm sie wahr, dass ihre Hände zitterten.
Lange betrachtete sie das Foto des großen Vierseithofs und die Anfahrtsskizze. Das neue Zuhause der beiden befand sich in einem Flussdreieck südöstlich des Ortes Hauzenberg. Franziska war schon mehrmals dort gewesen. Der Hof verfügte über eine Scheune von über fünfhundert Quadratmetern, einen riesigen Garten mit Fisch- und Schwimmteich und einen Lagerfeuerplatz. Am ersten Oktoberwochenende sollte das Fest stattfinden. Eine Art Erntedank für alle Erfahrungen, die sie in ihren jeweiligen Leben eingefahren hatten. Wenigstens wurde nicht geheiratet. Das hätte gerade noch gefehlt!
Franziska Hausmann fragte sich, warum ihr diese Nachricht einen so eigenartigen Stich versetzte. Sie sollte sich für Marie freuen, die lange Zeit immer an die falschen Männer geraten war, und für Benno, dem bislang eine Frau nach der anderen weggelaufen war. Eine davon war sie selbst gewesen.
Dennoch hatte sie ganz kurz das Gefühl, als würden die beiden sie mit dumpfer Entschlossenheit betrügen und unerlaubterweise gemeinsam genau jenes Glück ausstrahlen, das sie jedem Einzelnen von ihnen so sehr gewünscht hatte. Wie gesagt, jedem Einzelnen, aber nicht den beiden miteinander. Das passte irgendwie nicht. Das tat weh. Franziska schämte sich ein bisschen für ihre Gedanken.
Würde sie noch rauchen, wäre das der Moment für eine Zigarette gewesen. Stattdessen biss sie nun in den Rand ihrer Kaffeetasse und schüttelte verwundert den Kopf. Was war nur los mit ihr?
Ihre eigene Bennogeschichte lag mehr als dreißig Jahre zurück, und sie und der Oberstaatsanwalt waren sich nach vielen Querelen darin einig gewesen, dass sie nie ein perfektes Paar geworden wären, nicht einmal eines, das leidlich miteinander ausgekommen wäre. Aber als Freunde waren sie miteinander alt geworden und hatten sich in guten wie in schlechten Zeiten unterstützt. Von nun an würde Benno sich eher an Marie wenden als an sie. Eine Art Wehmut überschwemmte sie. Es war so, als hätte sie ihn zum zweiten Mal verloren.
Hoffentlich war er der Richtige für Marie.
Das Glück der beiden war schon der gedruckten Einladung anzusehen, und selbst Maries Handschrift schien begeisterte Bögen zu werfen. »Endlich angekommen!«, hatte sie mit königsblauer Tinte hinzugefügt und statt eines Ausrufezeichens ein Herz gemalt. Die handfeste Marie, die bisher alle Höhen und Tiefen ihres Lebens so pragmatisch angegangen war und jeder Schwierigkeit mit dem Satz begegnete: »Nimm es, wie es ist, und mach das Beste draus.« So kannte Franziska sie kaum wieder.
»Einladung zur Eröffnungsparty unseres Hauses nebst Museum«, stand auf der Karte, daneben ein Foto des Paars, er neunundfünfzig und sie vierundfünfzigjährig, das auf einem noch älteren Traktor der Marke Fendt saß. Beide blinzelten unter breitkrempigen Strohhüten in die Sonne. Marie hatte einen tiefroten Lippenstift aufgetragen und trug ein lindgrünes Twinset. Pures Glück. Pure Verliebtheit. Der Himmel auf Erden. Unerträglicher Kitsch! Franziska wollte sich nicht eingestehen, dass sie eifersüchtig war. Nicht auf Marie und auch nicht auf Benno, sondern in einer verwirrten Art auf die übermäßige Freude, die die beiden ausstrahlten.
Hatte sie vor dreißig Jahren, als sie sich in den Jurastudenten Benno verliebte, auch so gestrahlt? Hatte es überhaupt jemals in ihrem Leben ein solches Leuchten gegeben? Jetzt befand sie sich zwar in einer immerwährenden, diffusen Helligkeit, doch das Strahlen war verschwunden. Vermutlich für immer.
Lieblmühle? Wie weit war das eigentlich weg? Franziska öffnete die Schublade des Küchentisches, nahm die Fahrradkarte des südlichen Bayerischen Waldes heraus und entfaltete sie zwischen Kaffeetasse und Frühstücksteller. Seufzend wurde ihr bewusst, dass sie nur noch knapp vierzig Kilometer auseinander wohnten. Das war eine gute halbe Stunde mit dem Auto, nicht einmal vier Stunden mit dem Rad. Marie würde sie und Christian so oft wie möglich einladen. Während sie mit dem Finger die Straßen entlangfuhr, wurde ihr bewusst, dass zwei gute Freunde aus ihrem Leben verschwunden waren. Dafür war ein Paar hinzugekommen. Hoffentlich kam sie damit klar. Alles brauchte einen neuen Platz.
Vorbei nun die Abende, an denen sie um kurz vor Mitternacht noch bei Benno anrufen und mit ihm über Gott und die Welt reden konnte. Vor allem in jenen Nächten, in denen sie nicht wusste, wo sich ihr eigener Mann aufhielt. Wenn sie Glück hatte, saß er bei Benno auf der Couch und ließ sich, obwohl es ihn so gar nicht interessierte, von ihm über Traktoren aufklären, trank dabei Bennos Whisky und brachte sich selbst wieder ins Lot oder auf andere Gedanken. In Zukunft würde sie ihn dort sicher nicht mehr finden. Benno und Marie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass da noch Platz für weniger glückliche Leute gewesen wäre.
Vorbei auch die Nächte, die sie mit Marie in deren Wohnzimmer verbracht hatte. Jede mit einem Glas Wein in eine Ecke des breiten Sofas gekuschelt, auf dem Tisch frisches Salzgebäck aus Eigenproduktion, das nach Butter, Parmesan und Rosmarin schmeckte. Sie hatten Gespräche geführt, die ihrer beider Leben wieder aufs richtige Gleis stellten. »Nimm es, wie es ist .«
Aber genau das war nicht immer leicht.
Ob Marie und Benno sich in ihrer Beziehung verändern würden? Sie selbst war in ihrer Ehe mit Christian ja auch eine andere geworden.
Die graue Katze Bella war auf den Stuhl neben Franziska gesprungen und krächzte ein heiseres Miau. Im selben Augenblick klingelte das Telefon.
Es war Christian. »Was machst du gerade?«
»Ich denke nach.«
Franziskas Mann hörte sich an, als lächle er. »Ist etwas passiert? Musst du etwa fort?«
»Nein.«
»Und worüber denkst du nach?«
»Über das Leben, den Tod und über das Glück.«
»Meine Güte, das sind ja große Themen! Wie kommst du dazu?«
»Benno und Marie haben uns nach Lieblmühle zu ihrer Beziehungsverfestigungsfeier eingeladen. Ich habe eben den Brief aus der Post gezogen. Gestern hat er angerufen und nach deiner Haßfurter Adresse gefragt. Du kriegst sicher auch noch ein offizielles Schreiben! Jetzt wird es also ernst.«
»Du sagst das so komisch. Du solltest dich mit ihnen freuen!«
»Mach ich ja auch.« Sie klang trotzig.
»Wer sich freut, denkt nicht an den Tod«, stellte er klar. »Das ist mir in den vergangenen Wochen besonders bewusst geworden.«
Sie schwieg einen Moment. »Wie läuft es denn bei dir?«
»Es geht so. Viele Erinnerungen. Aber das gehört ja wohl dazu.«
Vor einem Monat, am 6. August, war Christians Mutter mit sechsundneunzig Jahren im Beisein ihrer Pflegerin friedlich zu Hause entschlafen. Als einziger Hinterbliebener hatte er sich nun um den Nachlass zu kümmern, Papiere zu sichten, das Haus leer zu räumen und entweder einen Käufer oder einen Mieter für den Bungalow in Haßfurt zu finden, der aus den Wirtschaftswunderjahren stammte. Es war an nichts gespart worden, weder an hölzernen Kassettendecken noch an offenen Innen- und Außenkaminen.
»Ich habe Fotos aus vergangenen Tagen gefunden«, fuhr Christian fort, »und dabei ist mir aufgefallen, dass man sich früher, als noch jeder Abzug Geld kostete, ständig darum bemüht hat, zu lächeln und sich in Pose zu setzen. Solche Bilder finde ich nun . Meine Mutter und ich. Immer ging sie mit mir am Mainufer spazieren, und sobald wir eine sonnenbeschienene Bank sahen, setzten wir uns. Sie rechts, ich links. Niemals andersherum. Wir hielten unsere Gesichter in die Sonne und warteten auf einen gut aussehenden Mann, der vorüberging und den sie dazu aufforderte, uns zu fotografieren. Nie hielt sie nach Frauen oder älteren Herren Ausschau - heute denke ich, sie hat auf diese Art nach einem Ersatzvater für mich gesucht, weil der andere uns ja verlassen hatte. Wie auf Kommando strahlten wir den Herrn an, der sich bereit erklärte, uns zu fotografieren, als müssten wir uns von unserer besten Seite zeigen.«
»Und hat es was genutzt?«
»Nein.« Er lachte. »Aber sie hat es immer wieder versucht. Meine Mutter! Und wir gaben uns als vaterlose Vorzeigefamilie, selbst wenn wir uns vorher gestritten hatten. An genau diese Augenblicke erinnere ich mich, während ich die Fotoalben durchschaue, die sie für sich und mich angelegt hat. Endlich begreife ich, was mit dem Wort Wehmut gemeint ist. Und weißt du was, sie hat meine Briefe aufgehoben, alle. Auch die, in denen ich ihr...
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