Schweitzer Fachinformationen
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Niemand machte ihm deswegen einen Vorwurf, aber er sollte sich ein Leben lang schuldig fühlen, weil er an diesem einen Tag nicht aufgepasst hatte und deshalb das Rätsel um die Herkunft des Fremden nicht schneller gelöst werden konnte. Dabei hätte es ihm doch auffallen müssen, dass da plötzlich einer in seinem Schulbus saß, der da gar nicht hingehörte.
Er konnte sich auch dann nicht an ihn erinnern, als man ihm genau sieben Tage später Fotos der Leiche zeigte. Die Kinder behaupteten hinterher, bereits an der Haltestelle bei der Zuckerfabrik habe der Mann auf der Fahrerseite in der vorletzten Bank gesessen, eng ans Fenster gedrückt und so konzentriert nach draußen schauend, als suche er etwas oder jemanden. Der Busfahrer konnte sich einfach nicht erklären, wie er ihn hatte übersehen können.
Wofür er jedoch seine Hand ins Feuer gelegt hätte, war die Tatsache, dass der Bus in Tabertshausen noch leer gewesen war, schließlich übte er auf dieser Strecke - natürlich nur, wenn er allein war - für das geplante Sommer-Song-Festival der Freilichtbühne in Eggenfelden, und er hatte sich an jenem Donnerstag das Lucio-Dalla-Lied »Te voglio bene assai« in den Rekorder geschoben und inbrünstig mitgeschmettert. Kurz vor dem Friedhof Plattling war er an genau jene Stelle gekommen, die die meergrünen Augen eines weinenden Mädchens beschreibt, was die Stimme des Interpreten in eine sentimentale Kipplage zu bringen hatte, und mit Tränen in den Augenwinkeln hatte er den Part schnell zu Ende gesungen, bevor er den Bus zum Stehen und seine Stimme zum Schweigen brachte.
In der Nähe des Friedhofs waren dann die ersten Schulkinder eingestiegen. Er hatte auf Bayern 3 umgeschaltet und geschwiegen, war konzentriert weitergefahren und hatte im Zehnminutentakt weitere Grüppchen von Schülern aufgenommen. Enger und lauter war es in dem Bus geworden, bis das Zusteigen von Kindern in der Höhe von Wallerfing seinen Gipfelpunkt erreicht hatte: Jetzt hatte er für die nächsten zehn Minuten ein Gefährt voller johlender, lachender und lauthals miteinander schwätzender Schülerinnen und Schüler kutschiert, aber Blicke in den Rückspiegel hatten ihn beruhigt: Gerauft wurde da nicht. Eigenartig, dass er auch bei diesen Kontrollblicken den Fremden in der vorletzten Bank nicht wahrgenommen hatte.
Nächtelang sollte er darüber nachdenken und verzweifelt nach einer Erklärung suchen. Warum hatte er ihn nur übersehen? Und was alles in seinem Leben übersah er sonst noch, nur weil er nicht damit rechnete?
An der Grundschule von Pankofen waren die Schwestern Laura und Rosa Blumentritt zugestiegen und hatten ihn freundlich gegrüßt. Sie waren die Einzigen, die von seinem Traum, ein großer Opernstar zu werden, wussten, da er einmal wöchentlich von ihrer italienischen Mutter Gesangsunterricht erhielt und dazu neigte, an diesen Nachmittagen mit italienischen Vokabeln zu renommieren. Gelegentlich rief ihm die achtjährige Rosa beim Einsteigen ein »Buon giorno« zu, und die zehnjährige Laura verabschiedete sich in Kleinöd gern mit dem Wort »Arrivederla«. Er nickte dann wohlwollend und murmelte leicht errötend: »Ciao, bella.«
Im gleichen Rhythmus, wie der Bus die Kinder eingeladen hatte, spuckte er sie wieder aus, und der Lärmpegel ebbte ab.
Laura Blumentritt sollte später erzählen, dass sie an diesem Tag gegen einen Fremden gedrückt worden war, der unbeweglich auf seinem Platz gesessen und stur aus dem Fenster gestarrt hatte. Es sei ein Mann mit Glatze gewesen, Hals, Hände und Unterarme seien mit blauen Zeichnungen tätowiert gewesen. Fasziniert hatte sie ihn angestarrt und gesehen, dass er überall Ringe und kleine Schmuckstücke trug: Herzchen, Anker und stilisierte Blütenblätter. »Der muss völlig durchlöchert sein«, vertraute sie ihrer Schwester auf dem Heimweg an und stellte sich vor, dass das Wasser in der Badewanne oder im Schwimmbad durch ihn hindurchfließe, als sei er ein Sieb: Nasenringe, Lippenringe, Ohrringe, sogar in den Ohrmuscheln, an den Augenbrauen und im Mundwinkel waren silberne Schmuckstücke durch die Haut gestochen.
Der Mann hatte ihre forschenden Blicke bemerkt, sie unwillig angeschaut, die Stirn in Falten gelegt - wobei der Silberring an der oberen rechten Augenbraue gezittert hatte - und beide Hände so fest um den Griff seines kleinen Koffers gekrallt, dass die mit blauen Schlangenlinien tätowierten Fingerknöchel weiß hervortraten.
In weiteren Befragungen sollte sich ein kleiner Junge an die Glatze des Fremden erinnern und unerschütterlich behaupten, er habe genau gesehen, dass darauf zwei Teufelshörnchen gewesen seien. Einige beschrieben seine Kleidung als bunt und farbenprächtig, während andere schworen, dass er ganz in Weiß oder völlig schwarz gekleidet gewesen sei. Die meisten der Kinder aber hatten ihn gar nicht gesehen.
Der Fahrer des Busses würde von nun an nie wieder behaupten, nur weil er an einem Ereignis teilgenommen habe, habe er auch alles bemerkt. Er würde überhaupt niemandem mehr trauen. Und erst recht nicht sich selbst.
Teres Schachner, die Wirtin des Blauen Vogels, steckte sich ihr verwegen geflecktes Haar hoch und band sich eine Schürze um. Frühjahrsputz im zweiten Stock. Von den acht Gästezimmern war nur eins belegt, da bot es sich an, an diesem schönen Vormittag die restlichen Zimmer und den Flur mitsamt den Fenstern gründlich zu reinigen. Während sie schnaufend die Treppe hochstieg, dabei Putzeimer, Schrubber, Besen sowie eine große Flasche Essigreiniger von Stufe zu Stufe wuchtete, fragte sie sich erneut, was dieser Fremde in Nummer acht wohl den ganzen Tag machte. Vor nicht ganz einer Woche war er dort eingezogen und hatte sein Zimmer seitdem kein einziges Mal verlassen. Ein komischer Typ, vielleicht ein Popstar, der in Klausur gegangen war, um Texte für ein neues Album zu dichten? Popstars sahen ja immer irgendwie schräg aus, und dieser hier war haarlos, an Hals, Armen und Händen tätowiert und mit silbernen Ringen durchbohrt.
Gelegentlich hörte sie ihn durch die geschlossene Tür hindurch telefonieren und stellte sich vor, dass er mit seinem Manager oder Agenten verhandelte oder der Bravo ein Interview gab, und einmal hatte sie durchs Schlüsselloch gesehen, wie er auf seinem Laptop schrieb. Er hatte schnell getippt, mit beiden Zeigefingern, und dabei zischend Luft durch die Zähne gezogen. Einerseits schmerzte ihr der Rücken vom vielen Schlüssellochgucken, andererseits aber hatte sie es nun bestätigt bekommen: Die Investition, zu der der junge Enzo Blumentritt sie überredet hatte, war richtig und gut.
Denn Teres Schachner hatte ihr Gasthaus zum Blauen Vogel, das sie insgeheim und mit verhaltenem Stolz »Hotel« nannte, mit der in Kleinöd einmaligen Einrichtung eines Hotspots aufgewertet. Seitdem kehrten andere und bessere Gäste bei ihr ein als nur Lastwagenfahrer, Erntehelfervermittler und Pferdehändler. Nun kamen richtige Vertreter in Anzügen, mit gestärkten Hemden und mit goldenen Armbanduhren, die sich auskannten in Deutschland und mit Gott und der Welt vertraut waren. Sogar berühmte ausländische Popstars wie dieser hier pflegten in ihrem Hotel abzusteigen.
Auch die Jugendlichen aus der Neubausiedlung, ihre zukünftige Klientel, hatten den Internetzugang begeistert angenommen und überbrückten im Blauen Vogel die dort ansonsten stille Zeit zwischen siebzehn und neunzehn Uhr, tranken Limo und chatteten sich mit ihren Netbooks durch eine mehr oder weniger virtuelle Welt, während ihre Eltern daheim per Onlinebanking Rechnungen beglichen und in Internetshops einkauften.
Die Wirtin des Blauen Vogels stellte sich vor, dass auch ihr Gast aus Zimmer acht das Hotspotlogo gesehen und gleich gewusst hatte, dass er hier kreativ sein könne, weil man ihn in Ruhe lassen würde. Mit der Sicherheit eines Menschen, der weiß, was er will, würde er seinen Fahrer angewiesen haben, anzuhalten, ihm den Koffer zu reichen und heimzufahren, wo immer dieses Daheim auch sein mochte. Niemand sollte Rückschlüsse auf seine Identität ziehen können - Teres war sich sicher, dass er eine Auszeit brauchte, eine Phase der Ruhe, wie alle wirklichen Künstler das in regelmäßigen Abständen brauchten. Das wusste sie von Hansi Hinterseer, der das neulich in einem Fernsehinterview gesagt hatte.
Der Fremde aus Zimmer acht war an einem frühen Nachmittag gekommen, als Teres im Schankraum stand und ihre Edelstahltheke wienerte. In der Gaststube war es eigenartig still gewesen, einzig zwei junge Männer saßen im hintersten Eck des Raums und tippten auf der Tastatur ihres Notebooks. Teres hatte ihnen stirnrunzelnd zugesehen, aber nichts gesagt. Die kamen fast jeden Tag, bestellten je ein Spezi und waren dann stundenlang im Internet unterwegs. Vermutlich hatten sie keinen Internetzugang. Da war sie ausnahmsweise mal der Zeit voraus. Aber verdienen konnte sie an solchen Kunden nicht.
Der Fremde dagegen hatte eine Woche im Voraus bezahlt, keine Rechnung gewollt und in fast akzentfreiem Deutsch darum gebeten, dreimal täglich mit Mahlzeiten versorgt zu werden. Abends hätte er gegen ein, zwei Halbe Bier nichts einzuwenden, mittags jedoch lieber Wasser, denn er müsse arbeiten. Außerdem brauche er absolute Ruhe zum Denken. Das hatte Teres beeindruckt, und ganz kurz war in ihr die Vorstellung aufgeblitzt, dass mit ihm ein großer Philosoph vor ihr stehen könne. Aber Philosophen waren vermutlich weder tätowiert, noch ließen sie sich die Haut mit Nieten durchlöchern.
Ein Künstler, ein Popstar, war ihr zweiter Gedanke gewesen, ein geistig Verwandter ihres Idols Hansi Hinterseer, und voller Bewunderung hatte sie den Fremden im diskretesten Raum ihres Hotels im...
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