Schweitzer Fachinformationen
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Erstes Kapitel
»Schach«, tippte Georg Cannabich in seinen Computer, als Gertraud Halber die Tür öffnete und die beiden Männer in das Redaktionszimmer schob. Er sah ihnen sofort an, dass sie nicht aus Landau stammten, sondern aus einem jener kleinen niederbayerischen Käffer, für die er tagtäglich Artikel im Landauer Anzeiger schrieb. Vermutlich hatte er es mit treuen Stammlesern des Lokalteils zu tun. Er erkannte es an der Art und Weise, wie sie sich umschauten - als hätten sie soeben ein gänzlich neues Land betreten, an dessen Existenz sie noch kurz zuvor nicht ernsthaft geglaubt hätten.
Mit dem Ellenbogen schloss er die große Schreibtischschublade, in der das virtuelle Spiel, das er so schon so gut wie gewonnen hatte, auf einem echten Brett nachgestellt war. Routiniert ließ er seine Finger über die Tastatur gleiten: »Habe zu dieser vorgerückten Stunde noch Arbeit bekommen. Muss Schluss machen.«
Nicht einmal beim Spätdienst hat man seine Ruhe, dachte er und fügte noch rasch in die E-Mail an seinen Widersacher, der unter dem Pseudonym »Königsmörder« mit ihm spielte, den Satz ein: »Sieht übrigens ganz nach Matt aus, Brutus! - Bis morgen.« Dann loggte er sich aus und wandte sich seinen Besuchern zu.
Die beiden mochten Mitte fünfzig sein. Der eine hatte eine Polizeiuniform an und trug eine Aktentasche bei sich. »Schmiedinger«, stellte er sich vor. »Schmiedinger Adolf. Mir kommen von Kleinöd.«
Der andere Mann trug einen hellen Cordhut, den er jetzt abnahm, eine grüne Lodenjacke mit Hirschhornknöpfen über einem weiß-blau karierten Hemd und eine ausgebleichte, aber frisch gewaschene Jeans mit Bügelfalte. Dazu Haferlschuhe. An seinem Handgelenk baumelte ein braungoldenes Plastiktäschchen mit der Aufschrift »125 Jahre Karstadt«. Er hielt es offenbar nicht für nötig, sich vorzustellen, vielleicht war er aber auch zu sehr von den Redaktionsräumen beeindruckt.
Georg Cannabich warf einen schnellen Blick auf die große Uhr an der Stirnseite des Redaktionszimmers. Es war genau 21.47 Uhr. Bis 23 Uhr hatte er Dienst. Da würde wohl kaum ein weiteres Spiel drin sein. Na gut, dann eben nicht.
»Kleinöd«, nickte er. »Kenn ich nur vom Hörensagen. Soll aber ganz nett sein. Cannabich heiß ich, Georg Cannabich. Ich bin heute der Redakteur vom Dienst. Was kann ich für Sie tun? Ist was passiert?«
Er stand von seinem Schreibtisch auf, gab beiden Männern die Hand und wies auf die Besucherstühle.
»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten oder lieber ein Wasser?«
»Einen Schnaps, wenn S' möglicherweise grad einen da hätten, des wär mir jetzt fast am allerliebsten«, murmelte der Uniformierte und ließ sich ächzend auf einem schwarzen Lederschwinger nieder, der unter seinem Gewicht bedenklich durchhing.
Der Begleiter des Polizisten stand stocksteif da. Er knetete mit beiden Händen den Cordhut und war leichenblass. Sein Kinn zitterte. Georg Cannabich seufzte voller Anteilnahme und nickte ihm beruhigend zu.
Adolf Schmiedinger zeigte mit dem Finger auf seinen Begleiter und sagte: »Ihm seinen Enkel, den haben s' entführt. Der ist weg. Fort! Spurlos verschwunden! Entführt ham die den, des garantier ich Ihnen, da geb ich Ihnen Brief und Siegel da drauf! Unsereins hat halt einen Riecher für so was. Deswegen sind mir ja auch da. Ich hab logisch gleich eine Anzeige aufgenommen, aber was tät nachad das allein schon helfen? Fahndung und Suchaktion sind schon am Anlaufen, aber die ganze G'schicht tät doch auch unbedingt so schnell wie möglich ans Licht der Öffentlichkeit kommen sollen, ned wahr? Der ganze Landkreis muss da mitsuchen! Mir brauchen den Buam wieder z'rück!« Er sagte das so bestimmt, als läge es einzig und allein in Georgs Hand, das Problem innerhalb von zwei Minuten zu lösen.
»Oh Gott«, murmelte Georg Cannabich, da ihm auf Anhieb nichts Besseres einfiel, und suchte im Spind der Tagschicht-Kollegen nach Alkohol. Schließlich fand er ein Fläschchen Magenbitter und hielt es dem Polizisten schräg unter die Nase, als wolle er ihm eine Flasche Wein kredenzen. »Jetzt nehmen Sie erst einmal einen Schluck. Das beruhigt. Und dann sehen wir mal weiter.«
»Vergelt's Gott«, murmelte Adolf Schmiedinger. Mit routiniertem Klacken öffnete er den Schraubverschluss und ließ in einem Zug gut drei Viertel der Flüssigkeit auf seinen nervösen Magen einwirken, ehe er die Flasche an seinen Begleiter weiterreichte.
»Wie alt ist der Bub denn, und wie heißt er?«, fragte Georg Cannabich.
»Viere ist der Paul«, murmelte der Mann neben Adolf Schmiedinger und knetete weiter nervös an seinem Hut.
»Nun gut, dann fangen wir jetzt noch einmal ganz von vorne an«, forderte der Redakteur ihn auf. »Wie heißen Sie, und wo wohnen Sie?«
»Also, ich bin der. Heißen tu ich Daxhuber, Daxhuber Eduard. Und wohnen tät ich auf Kleinöd. Hauptstraße. Nummer neune.«
»Stimmt«, nickte Adolf Schmiedinger.
»Und was ist eigentlich genau passiert?« Georg hatte es nicht wirklich eilig. Für heute war es sowieso zu spät. Die morgige Zeitung wurde bereits gedruckt. Die beiden hätten auch am Vormittag des nächsten Tages kommen können. Er zog eine Schachtel Zigaretten aus der Hemdtasche.
»Stört es Sie?«
Die Männer schüttelten die Köpfe.
Das Feuerzeug klickte. Georg steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und sprach, während er gleichzeitig den Rauch einsog und wieder ausblies.
»Also noch einmal. Wann, wo und wie genau ist Ihnen das Kind abhandenkommen?«
Um den Besuchern einen Eindruck seiner professionellen journalistischen Arbeitsweise zu vermitteln, stand er auf, fischte Kugelschreiber und Notizblock aus einem Drahtkörbchen, das an einer Kette von der Decke über seinem Schreibtisch hing, und begann zu kritzeln, noch ehe er sich wieder richtig hingesetzt hatte.
»Ja mei, direkt viel gibt's da eigentlich ned zum Erzählen«, begann schließlich Adolf Schmiedinger nach einer längeren Phase intensiven Nachdenkens. »Der Eduard ist halt kommen zu mir und hat mir die Meldung g'macht, dass der Paul nimmer da wär.«
»Wann war das?«
»Heut Mittag. Um zwölfe.«
»Wo ist das Kind zuletzt gesehen worden? Und von wem?«
»Mei, das wenn ich bloß wissen tät«, ließ sich nun zum ersten Mal auch Eduard Daxhuber eigenständig vernehmen. Er räusperte sich und schluckte. »Meine Frau, die Otti, äh. Ottilie heißt s', also die war mit dem Paul beim Einkaufen. Auf'm Marktplatz in Aidenbach. Das ist die Ortschaft, da wo mir immer dienstags einkaufen. Die Otti hat halt g'meint, dass sie den Buam bloß für einen ganz winzigen Moment aus den Augen verlorn hätt. Am Bauernschlachtdenkmal war's. Vor diesem riesigen hölzernen Bauern mit dem Schnurrbart und dem Hut und der Lederhosen. Immer steht er dort. Und mit einem Mal war er fort. Wie verschluckt vom Erdboden. Und keiner hat was g'sehn nicht. Keiner. Weder den Buam noch sonst irgendwas. Dabei kennen die den Paul doch alle. So was ist doch ned normal! Ich versteh das einfach hinten wie vorn ned.« Er kämpfte mit den Tränen.
»Vielleicht ist Ihr Paul ja auch bloß zu den Nachbarn gegangen, und da ist er dann eingeschlafen. Und es könnte durchaus sein, dass er jetzt schon wieder wach und glücklich zu Hause auf dem Sofa sitzt«, versuchte Georg Cannabich zu trösten. Aber er hatte schon in dieser Sekunde das Gefühl, dass sich der Fall nicht so einfach in Wohlgefallen auflösen würde. Und sein Gefühl hatte ihn noch nie getrogen. »Haben Sie denn ein Telefon?«
»Freilich.« Eduard Daxhuber nickte.
»Ja dann.« Georg biss sich auf die Lippen. »Wenn es wirklich so gewesen wäre, hätte man sicher bei Ihnen angerufen. Das macht ja nun wirklich niemand: absichtlich ein Kind verstecken und zuschauen, wie die Familie vor Sorge verrückt wird. Nein, so etwas ist wirklich keinem zuzutrauen, oder?«
»Mir ham die Kandidaten, die da infrage kommen tät'n, schon kontaktiert. Keiner treibt da seine Spaßettln mit den Daxhubers. Der Bub ist und bleibt verschwunden.«
»Das heißt also, Sie haben Feinde«, stellte Georg wie beiläufig fest und sah sich den verwaisten Großvater genauer an.
»Mei, Feinde, wer hat die denn ned?«, murmelte Eduard Daxhuber und sah zu Boden.
»Aha.« Georg Cannabich zog irritiert an seiner Zigarette und dachte darüber nach, ob auch er Feinde hatte. Wenn er ehrlich war, hatte er nicht einmal richtige Freunde. Von den paar Unbekannten aus den Weiten des Cyberspace, mit denen er während der Spätschicht Schach spielte, einmal abgesehen - obwohl, wer wusste schon, ob er mit dem Königsmörder auch über andere Dinge als Eröffnungen und Mattkonstellationen hätte sprechen können.
Er seufzte und drückte die Zigarette aus. Er hätte sich niemals für diese gottverdammte Außenstelle bewerben sollen. Jeden Abend allein. Immer in der gleichen Pizzeria, deren Speisekarte er schon auswendig herunterbeten konnte und deren Gerichte immer langweiliger schmeckten. Seit vier Jahren versauerte er nun schon in diesem kleinen Städtchen mit Blick auf den Bayerischen Wald. Dabei war er erst dreiundvierzig. Er hätte als kleiner Redakteur bei seiner überregionalen Zeitung bleiben sollen, anstatt hier nachts und an Wochenenden den Chef vom Dienst zu spielen. Hier passierte nichts. Niente. Nada. Oder sollte er diesmal endlich einer großen Story auf der Spur sein?
»Haben Sie ein Foto Ihres Enkels dabei?«
»Jawoll, ham mir.« Eilfertig griff Adolf Schmiedinger in Eduards Täschchen und förderte ein Foto zutage. Es zeigte einen kleinen, lachenden Jungen, der sich an einem Schaukelstuhl festhielt. Er trug ein gelbes T-Shirt. Um den Hals hatte ihm...
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