Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Eins
Er war klein für sein Alter, kleiner als die anderen Jungen, die in der Unterführung in Arbats-Kaya bettelten, doch mit elf hatte er schon alles ausprobiert. Er rauchte seit vier Jahren Zigaretten, stahl, seit er acht war, und ging seit zwei Jahren auf den Strich. Letzteres mochte Jakov nicht besonders, aber Onkel Mischa bestand darauf. Wie sollten sie sonst Brot und Zigaretten kaufen? Als kleinster und blondester von Onkel Mischas Jungen trug Jakov die Hauptlast des Geschäfts. Die Freier bevorzugten immer die jungen und blonden. Das Fehlen seiner linken Hand schien sie nicht zu stören; die meisten bemerkten den verkümmerten Stumpf gar nicht. Sie waren zu angetan von seinem zierlichen Wuchs, seinen blonden Haaren und seinen unerschrockenen blauen Augen.
Jakov sehnte sich danach, zu alt für dieses Geschäft zu werden und sich seinen Lebensunterhalt durch Taschendiebstähle zu verdienen wie die anderen Jungen. Jeden Morgen, wenn er in Onkel Mischas Wohnung aufwachte, und jeden Abend vor dem Einschlafen packte er mit seiner gesunden Hand das Kopfteil seiner Pritsche und reckte sich in der Hoffnung, seiner Größe wenigstens ein paar Millimeter hinzuzufügen. Jakov war klein, weil er aus einer verkümmerten Linie stammte. Die Frau, die ihn vor acht Jahren in Moskau allein zurückgelassen hatte, war auch verkrüppelt gewesen. Jakov konnte sich kaum an die Frau erinnern, genausowenig wie an irgend etwas anderes von seinem Leben in der Stadt. Er wußte, was Onkel Mischa ihm erzählt hatte, und glaubte davon höchstens die Hälfte. Für das zarte Alter von elf Jahren war Jakov nicht nur kleinwüchsig, sondern auch ungewöhnlich helle.
Deshalb betrachtete er den Mann und die Frau, die mit Onkel Mischa am Eßtisch über Geschäfte sprachen, auch mit natürlicher Skepsis.
Das Paar war in einem großen, schwarzen Wagen mit getönten Scheiben vorgefahren. Der Mann hieß Gregor und trug einen Anzug mit passender Krawatte und Schuhe aus echtem Leder. Nadja, die Frau, war eine Blondine in einem Rock und einer Jacke aus edler Wolle. Sie trug einen Hartschalenkoffer. Nadja war keine Russin, das war allen vier Jungen in der Wohnung sofort klar. Vielleicht Amerikanerin oder Engländerin. Sie sprach fließend russisch, aber mit einem Akzent.
Während die beiden Männer bei einer Flasche Wodka das Geschäftliche beredeten, wanderte der Blick der Frau durch die winzige Wohnung. Sie registrierte die an die Wand gerückten alten Feldbetten, die Haufen dreckiger Laken und die vier in ängstlichem Schweigen zusammengekauerten Jungen. Nadja hatte hellgraue Augen, schöne Augen, und sie musterte die Jungen nacheinander. Zuerst betrachtete sie Pjotr, der mit fünfzehn der älteste war, dann den dreizehnjährigen Stepan und den zehnjährigen Alexei.
Und zuletzt sah sie Jakov an.
Jakov war es gewohnt, von Erwachsenen auf diese Art gemustert zu werden, und er erwiderte ihren Blick ruhig. Ungewohnt war es, so rasch übergangen zu werden. Normalerweise ignorierten die Erwachsenen die älteren Jungen, aber diesmal war es der hagere, pickelige Pjotr, der die Aufmerksamkeit der Frau auf sich zog.
»Sie tun das Richtige, Mikhail Isayevich«, sagte Nadja zu Mischa. »Diese Kinder haben hier keine Zukunft. Wir bieten ihnen eine einmalige Gelegenheit!« Sie lächelte den Jungen zu.
Stepan, der Dummkopf, grinste zurück wie ein verliebter Idiot.
»Sie wissen, daß sie kein Englisch sprechen«, sagte Onkel Mischa. »Nur das eine oder andere Wort.«
»Kinder schnappen so was schnell auf, praktisch mühelos.«
»Sie werden Zeit brauchen zum Lernen. Die Sprache, das Essen -«
»Unsere Agentur kennt die Anpassungsprobleme und Bedürfnisse der Jungen. Wir arbeiten mit zahlreichen russischen Kindern, Waisen wie diese. Für eine Weile werden sie eine Spezialschule besuchen, um die notwendige Zeit zur Umstellung zu erhalten.«
»Und wenn sie es nicht schaffen?«
Nadja zögerte. »Hin und wieder gibt es Ausnahmen, Kinder mit emotionalen Problemen.« Ihr Blick wanderte über die vier Jungen. »Gibt es einen, der Ihnen besondere Sorgen macht?«
Jakov wußte, daß er derjenige mit den Problemen war, von denen sie sprachen. Derjenige, der selten lachte und nie weinte. Derjenige, den Onkel Mischa sein »kleines Steinmännchen« nannte. Jakov wußte nicht, warum er nie weinte. Wenn den anderen Jungen weh getan wurde, vergossen sie große Tränen. Jakov dagegen schaltete einfach ab. Totale Mattscheibe, so wie im Fernsehen spätabends, wenn die Sender abgeschaltet hatten. Kein Programm, keine Bilder, nur dieses beruhigende weiße Flimmern.
»Sie sind alle gute Jungen«, versicherte Onkel Mischa. »Prachtburschen.«
Jakov musterte die drei anderen Jungen. Pjotr hatte eine vorstehende Stirn und leicht vorgebeugte Schultern wie ein Gorilla. Stepan hatte komische Ohren, klein und faltig, dazwischen ein Hirn von der Größe einer Walnuß. Alexei lutschte am Daumen.
Und ich, dachte Jakov und betrachtete den Stumpf seines Unterarms, habe bloß eine Hand. Warum nennen sie uns Prachtkerle? Doch genau das war es, was Onkel Mischa nicht aufhörte zu beteuern. Und die Frau nickte. Ja, es waren gute Jungen, gesunde Jungen.
»Selbst ihre Zähne sind in Ordnung!« betonte Mischa. »Kein bißchen verfault. Und sehen Sie, wie groß Pjotr ist.«
»Der da sieht ein bißchen unterernährt aus.« Gregor zeigt auf Jakov. »Und was ist mit seiner Hand passiert?«
»Er wurde schon so geboren.«
»Die Strahlung?«
»Ansonsten ist er vollkommen intakt. Ihm fehlt nur die Hand.«
»Das sollte kein Problem sein«, sagte Nadja und erhob sich von ihrem Stuhl. »Wir müssen aufbrechen. Es wird Zeit.«
»Schon so bald?«
»Wir haben einen Terminplan einzuhalten.«
»Aber ihre Kleidung?«
»Die Agentur wird sie neu einkleiden. Und besser.«
»Muß denn alles so schnell gehen? Haben wir keine Zeit, uns voneinander zu verabschieden?«
Ein Anflug von Verärgerung blitzte in den Augen der Frau auf. »Aber nur einen Moment. Wir wollen unsere Anschlüsse nicht verpassen.«
Onkel Mischa sah seine Jungen an, seine vier Jungen, die weder durch Blutsbande noch Liebe, sondern allein durch gegenseitige Abhängigkeit und Bedürftigkeit an ihn gebunden waren. Er umarmte einen nach dem anderen. Als er zu Jakov kam, drückte er ihn ein wenig enger und länger. Onkel Mischa roch nach Zwiebeln und Zigaretten. Es waren vertraute Gerüche, gute Gerüche. Doch Jakov zog sich instinktiv zurück. Er mochte es nicht, umarmt oder berührt zu werden, von niemandem.
»Denk immer an deinen Onkel«, flüsterte Mischa. »Wenn du reich bist in Amerika, denk daran, wie ich mich um dich gekümmert habe.«
»Ich will nicht nach Amerika«, sagte Jakov.
»Es ist das Beste so. Für euch alle!«
»Ich will bei dir bleiben, Onkel! Ich will hier bleiben!«
»Du mußt fahren!«
»Warum?«
»Weil ich es so entschieden habe.« Onkel Mischa packte seine Schulter und schüttelte sie kräftig. »Ich habe entschieden!«
Jakov sah zu den anderen Jungen hinüber, die sich gegenseitig angrinsten, und dachte: Sie sind glücklich darüber. Warum bin ich der einzige, der Zweifel hat?
Die Frau nahm Jakov bei der Hand. »Ich bringe sie zum Wagen. Gregor kann noch eben den Papierkram erledigen.«
»Onkel?« rief Jakov.
Aber Mischa hatte sich bereits abgewandt und starrte aus dem Fenster.
Nadja führte die Jungen in den Flur und die Treppe hinunter. Sie mußten drei Stockwerke herabsteigen. Das Trampeln der Füße und der Lärm der Jungen hallte laut in dem leeren Treppenhaus wider.
Sie waren schon im Erdgeschoß, als Alexei auf einmal stehenblieb. »Wartet! Ich habe Shu-Shu vergessen!« rief er und begann, wieder nach oben zu laufen.
»Komm zurück!« rief Nadja. »Du kannst nicht da hochlaufen!«
»Ich kann ihn nicht hier lassen!« antwortete Alexei.
»Komm sofort zurück!«
»Ohne Shu-Shu kommt er nicht mit.«
»Wer zum Teufel ist Shu-Shu?« fauchte sie.
»Sein ausgestopfter Hund. Er hat ihn schon ewig.«
Sie blickte im Treppenhaus nach oben, und in diesem Moment sah Jakov in ihren Augen etwas, was er nicht verstand.
Er sah Furcht.
Sie stand da, scheinbar vor der Wahl, ob sie Alexei folgen oder ihn aufgeben sollte. Als der Junge mit dem zerfledderten Shu-Shu die Treppe hinunterkam, schien die Frau vor Erleichterung gegen das Geländer zu sinken.
»Ich habe ihn!« rief Alexei mit dem ausgestopften Tier im Arm.
»Jetzt aber los«, sagte die Frau und scheuchte sie hinaus.
Die vier Jungen drängelten sich auf den Rücksitz des Wagens. Es war sehr eng, und Jakov mußte halb auf Pjtors Schoß sitzen.
»Kannst du deinen knochigen Arsch nicht woanders hintun?« knurrte Pjotr.
»Wohin denn? In dein Gesicht?«
Pjotr schubste ihn. Er schubste zurück.
»Hört auf!« befahl die Frau auf dem Vordersitz. »Benehmt euch.«
»Aber hier hinten ist nicht genug Platz«, nörgelte Pjotr.
»Dann macht Platz. Und seid still!« Die Frau blickte zum dritten Stock des Hauses hoch, zu Mischas Wohnung.
»Worauf warten wir?« fragte Alexei.
»Auf Gregor. Er unterschreibt die Papiere.«
»Wie lang dauert das noch?«
Die Frau lehnte sich zurück und starrte geradeaus. »Nicht lange.«
Das war knapp, dachte Gregor, als Alexei die Wohnung zum...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.